Sonntag, 10. Mai 2020

Das C-Wort XVIII - Demonstrationen

Wir demonstrieren - ein merkwürdiger Vorgang. Mehr oder weniger Menschen treffen sich und laufen langsam, stockend eine lange Weile auf vorgeplantem Weg, um ihre Zustimmung, Ablehnung, Empörung, Überzeugung durch eben dieses Bewegen zum Ausdruck zu bringen.

Eine Demonstration (von lateinisch demonstrare, zeigen, hinweisen, nachweisen) im politischen Sinne ist eine in der Öffentlichkeit stattfindende Versammlung mehrerer Personen zum Zwecke der Meinungsäußerung.

Meine ersten Demonstrations-Erfahrungen in den Tiefen der DDR waren geprägt vom jährlichen Aufmarsch der Berliner Bühnen zum 1. Mai, da bin ich als Baby im Kinderwagen mitgefahren worden, als ungeduldiges Kind, als unwillige Jugendliche und schließlich als pflichtbewußtes Mitglied des Deutschen Theaters. Mit Politik, so verdrängte ich lange, hätte das wenig zu tun, es schien mir mehr wie ein jährliches Rendezvous mit den Leuten von den anderen Berliner Theatern, ein Mini-Ferienlager.
Treffpunkt irgendwo ums Rathaus rum, dann Latschen unter Beschallung. "Du brauchst keine Brille, um Deinen Weg zu finden" sang, wahrscheinlich, der Oktoberclub und ich, schwer kurzsichtig, hatte meine Zweifel. Zum offiziellen Höhepunkt an der Tribüne auf dem Marx-Engels-Platz vorbei, vorbei an hölzern winkenden, greisen Politikern, mysteriösen, chinesischen Delegierten und "unser" Hans-Peter Minetti, Mitglied des ZK der SED, der ekstatisch grinsend mit beiden Händen wild wackelte, während der Wind seine dreifach über den Kopf gelegte Haarsträhne in ein halbmeterlanges Fähnchen verwehte. Erst danach begann das Eigentliche, Eisbein und Erbspüree im BE. Kollegen treffen, quatschen, ein heiterer, geselliger Tag, vorstellungsfrei. 
Und es gab auch die Luxemburg/Liebknecht Demo am 15. Januar, dem Gedenktag ihrer Ermordung, ein, im Rückblick, surrealer Vorgang, um die zu ehren, die beim Anblick der Realitäten der DDR, in Tränen der Wut ausgebrochen wären. 

Uralter DDR Witz. Karl Marx wird durch DNA-Cloning wieder zum Leben erweckt. Er bekommt eine Stunde Redezeit im DDR-Fernsehen, die wird aber durch Sondermeldungen des ZK der SED immer weiter verkürzt. Am Ende bleiben ihm fünf Minuten. Er schweigt lange, sehr lange und sagt dann: " Proletarier aller Länder, Entschuldigung."

1989. Im Oktober sah ich, wie friedlich Demonstrierende von der Volkspolizei brutal zusammengetrieben wurden und im November, wie ein Volk die Strasse mit Würde für sich zurückeroberte. Aber "Wir sind das Volk" verschob sich schnell zu "Wir sind ein Volk" und eine gänzlich neue, andere Zeit begann.

Zwischendurch bin ich nur einmal marschiert, was für ein grässliches Wort, für den Bau des neuen Gebäudes der Schauspielschule "Ernst Busch".

Ein neues Kapitel, so dachte ich, begann mit der "Glänzenden Demonstration" gegen die AfD-Kundgebung in Berlin, Tausende in goldener Kostümierung, meist strahlend leuchtenden Feuerschutzplanen, liefen bei der im Mai 2019 durch Berlin, später dann noch einmal. Friedliche, heitere, herrlich bunte Spaziergänge gegen Rechts.

Und jetzt. Jetzt. 
Hygienedemos. Querfront, Unruhe, nervöse Aggression und unterschwellige Propaganda. Manche halten das Grundgesetz in der Hand, andere tragen die silberne Querdenkerbommel um den Hals, manche meditieren für den Frieden, manche schwafeln von jüdischen, imperialistischen, reptiloiden Verschwörungen. Der frishgegründete "Widerstand 2020" will viel und weiß nur nicht genau was. Alt-Nazis, AfDler, Antifa-Anhänger, Öko-Hippies, Psychotiker, Q-Anon-Gläubige, Impfhasser, durchschnittliche Dumpfbacken, wohlstandsverwahrloste Yuppies und verängstigte Menschen aller Schichten, deren Sorge und Verunsicherung, sie verzweifelt nach Erklärungen und Schuldigen suchen läßt. 
Einer vergleicht die Eindämmungsversuche der Regierung mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Eine Frau, die Impfungen ablehnt, trägt den gelben Judenstern des Dritten Reiches, mit der Inschrift "Nicht geimpft". Schwitzige und nervende Stoffmasken werden zu Körperverstümmelungen hochstilisiert, das Verbot von Parties zu unmenschlicher Isolation. Und wir durften wochenlang nicht einkaufen gehen!

Ist es Bill Gates, der uns durch subkutane Chipeinpflanzung gleichschalten will? Ist es die Mafia? Ist es MacDonald? Oder die Nazis, die unterirdisch am Südpol oder auf den Mond weiterb agieren?Wird die Zwangsimpfung kommen, wenn es einst ein Impfserum geben wird? Wird das Bargeld abgeschafft werden, um uns alle in den Würgegriff der Banken zu zwingen? Wer will die Welt regieren?

Nur zum Atemholen: die da über die brutalen Eingriffe in ihre Freiheit schimpfen, tuen es, während sie nicht verhaftet, erschossen oder sonstwie verletzt werden. Es wurden keine Parteien verboten, keine Wahlen abgesagt, keine Zeitungen verboten.

Was ist mit uns los? Wir haben Glück, nicht so viele Tote wie New York oder Bergamo oder wer weiß wo. Wir haben Glück im Unglück. Ein wohlhabendes Land mit medizinischer Versorgung für jeden, auch wenn es Privatversicherte unverdient besser haben. Wir hatten einen bequemen Lockdown, mit Spaziergängen und der Möglichkeit jederzeit Lebensmittel u.ä. einzukaufen. Hier wird niemand verhungern. Das ist anderswo anders. In Indien, im Iran, in New York.
 
Vielleicht geht es einfach vorbei, vielleicht kommt die gefürchtete Zweite Welle. Wer weiß es.
Und das ist der Punkt. Ich weiß es nicht. Und scheinbar weiß es niemand mit Sicherheit. Also wasche ich brav meine Hände und stülpe eine blöde Maske über mein Gesicht. 
Und abschließend ohne direkten Zusammenhang, zum Muttertag, ein Photo, das ich liebe:


4 Kommentare:

  1. Treffend. Nur zum Vergleich, so sah eine Demonstration gegen den Lockdown in New York aus:
    https://nypost.com/2020/05/01/new-yorks-anti-lockdown-protests-fizzle-with-just-dozens-showing-up/
    Weil die New Yorker die Bilder von Massengräbern sehen und wissen, diese Gräber liegen um die Ecke. Um ihre Ecke. Fast jeder kennt jemanden der krank ist oder war. Viele haben Menschen verloren.
    Wenn ich Berichte sehe, von den Demonstranten, Schulter an Schulter, in München, in Berlin oder wo auch immer, dann werde ich wütend. Und denke, wenn es Massengräber braucht bevor ihr aufhört zu bekämpfen, was das Virus bekämpft, dann holt's Euch ab. Dann sorgt halt dafür, dass das Gesundheitssystem die Triage anwenden muss, wie in Italien, Frankreich, Spanien, Amerika. Was, wenn jeder Demonstrant eine Versicherung unterschreiben müsste, dass er auf künstliche Beatmung verzichtet, wenn es ihn erwischt? Damit das Gesundheitssystem diese Dummheit nicht abfedern muss.
    Und wenn ich dann wieder weniger wütend bin, fällt mir ein, dass es so nicht funktioniert. Das Virus klettert über die Dummen die Treppe hoch zu den Vernünftigen. Sie sind sein Steigbügel. Und es scheint, das Virus hat lange Überlebenschancen. Denn die Dummheit vergeht nicht. Bis sie Massengräber sieht. Dann lässt sie nach.

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  2. Woher kommen die #COVIDIOTS?
    Einen nicht geringen Teil der Esoteriker:innen, Wutbürger:innen, Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextremen fand man bereits bei den Montagsmahnwachen für den Frieden 2014.
    Markus Liske und Manja Präkels gaben 2015 das Buch „Vorsicht Volk“ heraus, in dem diese Querfront-Mischpoke analysiert wurde – von Kirsten Achtelik, Ivo Bozic, Harald Dipper, Jutta Ditfurth, Stefan Gärtner, Patrick Gensing, Willi Jasper, Anetta Kahane, Alexander Karschnia, Kerstin Köditz, Konstanze Kriese, Klaus Lederer, Anselm Neft, Jan Rathje, Anna Schmidt, Julia Schramm, Jörn Schulz, Heiko Werning, Elke Wittich, Deniz Yücel und dem Herausgeberduo.
    Das gedruckte Buch ist vergriffen und nur (schwer) antiquarisch erhältlich, das E-Book gibt es jedoch weiterhin überall für einen guten Preis!
    Siehe: https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/796

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  3. Ich weiß nicht, ob man für Deutschland den Aspekt von "White privilege" übertragen kann. Vielleicht.
    Schauen Sie sich bitte dieses Video an. Und ändern Sie in Gedanken die Hautfarbe der Demonstranten. Wie hätte die Polizei reagiert, wie wären diese Demonstrationen wohl verlaufen?
    https://www.youtube.com/watch?v=R4Xh5M8r72s
    Auch in Deutschland kommt es zunehmend zu Gewalttätigkeiten gegen Ordnungskräfte, Verkaufspersonal, das Maskenpflicht durchsetzt, Journalisten. Würden sich die Nachrichten darüber ändern, wenn diese Übergriffe von, sagen wir, Moslems ausgingen? Von Migranten? Wären die Schlagzeilen größer? Die Empörung darüber deutlicher?
    Eine rechtsgerückte Mittelschicht, die aus kruden Gründen auf ihre freiheitlich demokratischen Grundrechte pocht. Und daraus ableitet, was nicht rechtsstaatlich ist. Aber die Politik in verschiedensten Ländern reagiert recht schulterzuckend.

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