Dienstag, 5. November 2019

Die Verfassung des französischen Volkes vom 24. Juni 1793

Einen kleinen Teil dieses Dokuments habe ich auf der Berliner Demonstration am 4.11.1989 verlesen. Das ist lang her. Ich war jung, aufgeregt und glückselig.

Heute arbeite ich an einem Stück über eben diese Forderungen. Immer wieder die gleichen Formulierungen, die immer wieder unerfüllt bleiben. 
Kein "Vergessen und" keine "Verachtung der natürlichen Menschenrechte", das ist das immer wieder unerfüllte Versprechen aller Umstürze, ob sie sich Revolution, Umwälzung, Neubeginn, Mauerfall oder was auch immer nennen mögen. 
Menschenrechte, nicht Deutschenrechte, nicht manche mehr-aber-andere-weniger-Rechte, sondern die Rechte eines jeden Menschen. Die Rechte aller Menschen überall auf der Welt.

Also hier die erträumte Verfassung eines bisher unerfüllten Traumes:
  
Die Verfassung des französischen Volkes
vom 24. Juni 1793

Das französische Volk hat in der Überzeugung, daß Vergessen und Verachtung der natürlichen Menschenrechte die einzigen Ursachen des Unglücks in der Welt sind, sich entschlossen, in einer feierlichen Erklärung diese heiligen und unveräußerlichen Rechte darzulegen, damit alle Bürger ständig die Handlungen der Regierung mit dem Ziel jeder gesellschaftlichen Einrichtung vergleichen können und sich daher niemals durch die Tyrannei unterdrücken und entehren lassen; damit das Volk immer die Grundlagen seiner Freiheit und seines Glückes, die Obrigkeit den Maßstab ihrer Pflichten, der Gesetzgeber den Gegenstand seiner Aufgaben vor Augen haben.
Infolgedessen verkündet sie in Gegenwart des Allerhöchsten folgende Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: 
Art. 1. Das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück.
Die Regierung ist eingesetzt, um dem Menschen den Genuß seiner natürlichen und unveräußerlichen Rechte zu verbürgen. 
Art. 2. Diese Rechte sind Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum.  

Art. 3. Alle Menschen sind von Natur und vor dem Gesetz gleich.
Art. 4. Das Gesetz ist der freie und feierliche Ausdruck des allgemeinen Willens; es ist für alle das gleiche, sei es, daß es schützt, sei es, daß es bestraft; es kann nur das befehlen, was gerecht und der Gesellschaft nützlich ist; es kann nur das verbieten, was ihr schädlich ist. 
Art. 5. Alle Bürger sind zu den öffentlichen Ämtern in gleicher Weise zugelassen. Freie Völker kennen bei ihren Wahlen keine anderen Gründe der Bevorrechtung als Tugend und Talent. 
Art. 6. Die Freiheit ist die Macht, die dem Menschen erlaubt, das zu tun, was den Rechten eines anderen nicht schadet; sie hat als Grundlage die Natur, als Maßstab die Gerechtigkeit, als Schutzwehr das Gesetz. Ihre moralische Begrenzung liegt in dem Grundsatz: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu."  
Art. 7. Das Recht, seinen Gedanken und Meinungen durch die Presse oder auf jede andere Art Ausdruck zu geben, das Recht sich friedlich zu versammeln, die freie Ausübung von Gottesdiensten können nicht untersagt werden.
Die Notwendigkeit, diesen Rechten Ausdruck zu geben, setzt das Vorhandensein oder die frische Erinnerung an den Despotismus voraus. 
Art. 8. Die Sicherheit beruht in dem Schutz, den die Gesellschaft jedem ihrer Glieder für die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zusichert.  
Art. 9. Das Gesetz soll die allgemeine und persönliche Freiheit gegen die Unterdrückung durch die, die regieren, sichern. 
Art. 10. Jeder kann nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und in den Formen, die es vorschreibt, angeklagt, verhaftet und gefangengehalten werden. Jeder Bürger, der auf Grund des Gesetzes geladen oder ergriffen wird, muß sofort gehorchen; er macht sich auch durch Widerstand strafbar.  
Art. 11. Jede Handlung, die gegen einen Menschen außer den im Gesetz bestimmten Fällen und Formen begangen wird, ist willkürlich und tyrannisch; derjenige, gegen den man sie mit Gewalt durchführen will, hat das Recht, sie mit Gewalt abzuwehren. 
Art. 12. Diejenigen, die willkürliche Akte veranlassen, fördern, unterzeichnen, ausführen oder ausführen lassen, sind schuldig und müssen bestraft werden.  
Art. 13. Da jeder Mensch für unschuldig zu halten ist, solange er nicht für schuldig erklärt worden ist, soll, wenn es als unumgänglich erachtet wird, ihn zu verhaften, jede Härte, die nicht notwendig ist, um sich seiner Person zu versichern, durch das Gesetz ernstlich verboten sein. 
Art. 14. Gerichtet und bestraft werden darf nur, wer gehört oder gesetzlich vorgeladen worden ist und nur auf Grund eines vor Begehen der Tat verkündeten Gesetzes. Das Gesetz, das Vergehen, die vor seiner Schaffung begangen wurden, bestrafen wollte, wäre Tyrannei; einem Gesetz rückwirkende Kraft zu geben, wäre ein Verbrechen. 
Art. 15. Das Gesetz soll nur die durchaus und unumgänglich notwendigen Strafen festlegen; die Strafen sollen der Tat angemessen und der Gesellschaft nützlich sein.
Art. 16. Das Recht auf Eigentum ist das, das jedem Bürger erlaubt, seine Güter, seine Einkünfte, den Ertrag seiner Arbeit und seines Fleißes zu genießen und über sie nach seinem Gutdünken zu verfügen.
Art. 17. Keine Art der Arbeit, des Erwerbes und des Handels kann dem Fleiße der Bürger verwehrt werden.  
Art. 18. Jeder Mensch kann über seine Dienste und seine Zeit verfügen; aber er kann sich nicht verkaufen noch verkauft werden; seine Person ist kein veräußerliches Eigentum. Das Gesetz erkennt keine Dienstbarkeit an; nur über die Dienstleistungen und die Entschädigung dafür kann zwischen dem Menschen, der arbeitet, und dem, der ihn anstellt, eine Vereinbarung stattfinden. 
Art. 19. Ohne seine Einwilligung darf niemand des geringsten Teiles seines Eigentumes beraubt werden, wenn es nicht die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit erfordert, und unter der Bedingung einer gerechten und vorher festgesetzten Entschädigung.
Art. 20. Eine Steuer darf nur für den allgemeinen Nutzen auferlegt werden. Alle Bürger haben das Recht, bei der Festsetzung der Steuern mitzuwirken, über ihre Anwendung zu wachen und sich davon Rechenschaft geben zu lassen.  
Art. 21. Die öffentliche Unterstützung ist eine heilige Schuld. Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Mitbürgern den Unterhalt, indem sie ihnen entweder Arbeit verschafft oder denen, die außerstande sind, zu arbeiten, die Mittel für ihr Dasein sichert. 
Art. 22. Der Unterricht ist für alle ein Bedürfnis. Die Gesellschaft soll mit aller Macht die Fortschritte der öffentlichen Aufklärung fördern und den Unterricht allen Bürgern zugänglich machen.  
Art. 23. Die gesellschaftliche Bürgschaft besteht in der Tätigkeit aller, um einem jeden den Genuß und die Erhaltung seiner Rechte zu sichern: diese Bürgschaft beruht auf der Volkssouveränität. 
Art. 24. Sie kann nicht bestehen, wenn die Grenzen der öffentlichen Verwaltung durch das Gesetz nicht deutlich bestimmt sind, und wenn die Verantwortlichkeit aller Beamten nicht gesichert ist.  
Art. 25. Die Souveränität ruht im Volk; sie ist einheitlich und unteilbar, unverjährbar und unveräußerlich. 
Art. 26. Kein Teil des Volkes kann die Macht des gesamten Volkes ausüben; aber jeder Teil des souveränen Volkes, der sich versammelt, genießt das Recht, seinen Willen mit voller Freiheit auszudrücken.  
Art. 27. Jedes Individuum, das die Souveränität sich anmaßen will, soll sogleich durch die freien Männer zum Tode verurteilt werden. 
Art. 28. Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die künftigen Generationen unterwerfen.  
Art. 29. Jeder Bürger hat das gleiche Recht, an der Gesetzgebung und der Ernennung seiner Beauftragten oder seiner Vertreter mitzuwirken.
Art. 30. Öffentliche Dienste sind ihrem Wesen nach zeitlich begrenzt; sie können nicht als Auszeichnungen noch als Belohnungen, sondern nur als Verpflichtungen betrachtet werden.  
Art. 31. Vergehen der Beauftragten des Volkes oder seiner Vertreter sollen niemals straflos bleiben. Niemand hat das Recht, sich für unverletzlicher als die übrigen Bürger zu halten. 
Art. 32. Das Recht, den öffentlichen Behörden Gesuche einzureichen, kann in keinem Falle untersagt, aufgehoben oder eingeschränkt werden.  
Art. 33. Der Widerstand gegen Unterdrückung ist die Folge der übrigen Menschenrechte. 
Art. 34. Unterdrückung der Gesamtheit der Gesellschaft ist es, wenn auch nur eines ihrer Glieder unterdrückt wird; Unterdrückung jedes einzelnen Gliedes ist es, wenn die Gesamtheit der Gesellschaft unterdrückt wird.  
Art. 35. Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerläßlichste seiner Pflichten. 

http://www.verfassungen.eu/f/fverf93-i.htm 

Mittwoch, 30. Oktober 2019

Ich halte die AfD nicht aus!

Ich bemerke erschrocken, dass mir in der Auseinandersetzung mit einem Afd-Sympathisanten auf Facebook, sehr schnell die Puste ausgegangen ist, weil ich derart fassungslos ob seiner Empathielosigkeit, Deutsch-Selbstverliebtheit und absoluten Gewissheit des eigenen Im-Recht-Seins war, dass mir keine intelligenten Antworten mehr einfallen wollten. Und ich habe dabei auch noch einen heftigen Anfall von Humorverlust erlitten. Bei mir sonst eher selten. Faschistoide Hetze verschlägt mir die Sprache. 

Gar nicht gut.

Diese völlige Verweigerung, die reale, erdrückende Not von Menschen anzuerkennen, die hungern, Kriegen ausgesetzt sind, oder in Gefahr sind, weil sie Menschen begehren, die dem gleichen Geschlecht angehören. Und darunter sind ganz gewiss auch bösartige fundamentalistisch verseuchte Arschlöcher.
Diese absolute Gewissheit, dass man als deutscher Mensch beschützt werden muß, weil man eben deutsch ist, vor den Machenschaften einer jüdisch oder linken oder was auch immer geheimen Elite, die aus nicht näher definierten Gründen, den "Austausch" unserer urdeutschen Bevölkerung eines kleinen Landstriches in Europa mit einer muslimisch-nichtdeutschen-nicht-so-großartig-wie-wir-die-Deutschen-es-sind Bevölkerung erstreben.

Warum wollen die das? Wer sind die? Was planen die im Endergebnis? Ein muslimisches Großreich? Warum sollten Juden das wollen? Warum wollen so viele uns gute Deutschen loswerden? Was ist der zionistische oder von Aliens ausgearbeitete Plan?

Was ist dieses Deutschsein? Was Ist das?

Und was ist, was uns Deutsche so großartig und überlendnsnotwendig macht? Goethe? Schiller? Hegel? Marx? Oder ist es Heinrich von Kleist, der sich erschossen hat, weil er es mit uns nicht mehr ausgehalten hat?

Wir, als Bevölkerung einer geographisch schmal definierten Landschaft haben zwei Weltkriege angestachelt und vielen Millionen Menschen, das Leben genommen, durch Gas, Erschiessung, Folter oder andere Tötungarten. Und jetzt haben wir Angst. Wovor? 

Wir leben in der besten aller erhältlichen Welten, selbst unser Hartz IV ist besser als der Hunger anderswo. Aber wir sind Opfer. Immer Opfer.

Opfer wessen?

Unser Planet ist in Gefahr, wir haben keinen anderen zur Verfügung und ereifern uns über nationale Zugehörigkeiten?

Was ist los mit uns?

Samstag, 26. Oktober 2019

„Die Tage der Commune“


Wir arbeiten hier gerade an einem Stück über eine Revolution, die fast niemand kennt. 
Leute reden und streiten über Ungerechtigkeit, ihre Not, ihren Zorn, ihre Zweifel. Sie werden am Ende alle sterben. 
Was für Biographien. Aus einer Zeit, als der Traum vom Kommunismus seine Unschuld noch nicht verloren hatte. Aber was für ein dreckig blutiger Absturz folgte im 20. Jahrhundert nach Christus, nach der Geburt dessen, von dem man behauptet, das er verlangte, dass wir, im Falle eines Angriffs auch die andere Wange zur Verfügung stellen sollten.
Widersteht nicht dem, der böse ist, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so wende ihm auch die andere zu.
Matthäus 5:39
Um dieses Dilemma kreist der Text, wie ein melancholischer Geier.
Rigault:         Terror gegen Terror, unterdrückt oder werdet unterdrückt, zerschmettert oder werdet zerschmettert.
Beslay:          Keine Gewalt, keine Gewalt!
Jourde:          Das bedeutet die Diktatur.
Beslay:          Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.
Varlin:          Und wer nicht zum Schwert greift?
Avrial:          Die Großmut der Commune wird Früchte tragen! Lasst sie von der Commune sagen: sie hat die Guillotine verbrannt.
 La Commune de Paris (1871). Vue de la place Vendôme © Parisienne de photographie
Glaube, Liebe, Hoffnung.
Wir mussten wohl oder übel lernen, dass die großen Revolutionen nicht nur durch ihre Feinde von außen bedroht werden, sondern im Gegenzug auch nahezu sofort beginnen, sich nach innen in Lager aufzuspalten, die einander bekämpfen. Eine Gruppe gewinnt die Oberhand, es folgt Überwachung, politische Verurteilungen und Terror.
Und doch sehnen wir uns nach Veränderung, denn die Welt ist in einem üblen Zustand.
„Die Tage der Commune“ erzählt von einer „kleinen“ Revolution, beschränkt auf die Stadt Paris und einer Dauer von nur 72 Tagen.
Wie tief wird hier an die Möglichkeit eines guten Ausgangs geglaubt. Wie verzweifelt wird hier auf eine bessere Zukunft gehofft! Wie innig wird die Vision einer gerechten Welt geliebt. Wie hart darüber gestritten, wie diese neue Welt aussehen soll.
Am 28. Mai wurden die Kämpfer der Commune endgültig besiegt. Die deutsche und die französische Regierung, eben noch Erzfeinde, sorgten gemeinsam für die Niederschlagung des Aufstands. Tausende Männer, Frauen und Kinder wurden deportiert, in Gefängnisse gesteckt, etwa 7000 erschossen. 
Der Glaube kann Berge versetzen? Liebe macht blind? die Hoffnung stirbt zuletzt?
Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die größte unter ihnen ist die Liebe, heißt es in der Bibel.
Dabei wissen wir ja:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
 
Bertolt Brecht

Sonntag, 20. Oktober 2019

JOKER

Todd Phillips, Regisseur aller drei, für mich höchst unlustigen "Hangover" - Filme, hat den "Joker" produziert, mitgeschrieben und inszeniert, Joaquin Phoenix spielt die Titelfigur. 
Jack Nicholson war der Joker, Heath Ledger war es und er war unfassbar gut, anarchistisch, verspielt, wild, krass. Das, was wir nicht verstehen, das Böse, das ohne Gewissen, habe ich bei ihm gesehen. Es wurden mir keine entschuldigenden, frühkindlichen Gründe geliefert und so war ich dieser manischen Kraft ausgesetzt, ohne jede Hilfe. Ein ungemütliches, ein tiefes Erlebnis.

Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Georg Büchner

Heute habe ich eine perfekt gebaute und letztendlich zutiefst reaktionäre und konservative Sozialstudie gesehen. 
Vorausgeschickt: Joaquin Phoenix ist ein großer Schauspieler, Lawrence Sher ein einfallsreicher und sensibler Kameramann, die Musik stimmt, der Spannungsbogen auch, einzelne Szenen sind auf den Punkt genau inszeniert.
Aber. Aber, hier wird die Beschreibung einer kranken Gesellschaft mit der Geschichte eines kranken Mannes verwoben. 
Tut er, was er tut, weil er psychisch gestört ist oder weil der Zustand der Welt ihn dazu bringt? Das Aufbegehren gegen Gewalt und Ungerechtigkeit wird im Film gleichgesetzt mit, aus gänzlich anderen Gründen, ver-rücktem Denken und Verhalten. Und wenn mir gezeigt wird, wie brutal diese Gesellschaft ist, wird mir gleichzeitig suggeriert, das alle die dagegen aufbegehren, irgendwie auch irrsinnig sind. 
Die Hauptfigur gerät in Lachkrämpfe, wenn die Welt zu absurd wird, aber er, der Joker, hat eben auch Halluzinationen und schlußendlich und armselig ist seine Mutter an allem schuld, das ihn quält. 
Und, da liegt der Hund begraben: wir alle suchen nach Wegen des Protestes. Wie können wir uns zu Gehör bringen? Unsere Ängste formulieren? Wenn die Protestierenden der "Extinction"-Bewegung den Verkehr behindern, friedlich ohne Gegenwehr, wirft man ihnen vor, dass sie unser alltägliches Leben zu sehr behindern. Wenn Greta Thunberg ihre verständliche Panik formuliert, wird ihr Asperger Syndrom zum Beweis ihrer Abartigkeit. Die Gelbwesten sind zu wirr und gewalttätig. 
Aber wie können wir uns wehren, ohne denen ähnlich zu werden, die den Zustand unserer Sozietät, zu verantworten haben.

 

AN DIE NACHGEBORENEN

1
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!


                                   2

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legt ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit
Die Sprache verriet mich dem Schlächter
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.


                             3

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Samstag, 19. Oktober 2019

Prousts Fragebogen

Marcel Proust hat ihn nicht verfasst, aber er hat ihn, so liese ich, zweimal mit Vergnügen beantwortet. 
Es ist nur ein Spaß und meine Antworten gelten nur bis morgen.

Prousts Fragebogen

Wo möchten Sie leben? - In der verrissenen Stadt Berlin. Trifft sich gut, dass ich da eh lebe.

Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück? - Puh, vollkommen? Irdisch. Die Liebe. In all ihren Formen.

Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten? - Die unvermeidbaren. Die aus Ungeschicklichkeit geschehenen. Die notwendigen.

Was ist für Sie das größte Unglück? - Gewalt, Verrat & Schmerzen.

Ihre liebsten Romanhelden? - Offred, Elinor Dashwood, Adam Dalgliesh, Josef,  ...

Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte? -All die Messiasse, denen keiner geglaubt hat. Artemisia Gentileschi. Madame Curie. Sarah, wenn sie über Gott lacht.

Ihre Lieblingsheldinnen/-helden in der Wirklichkeit? - Jacinda Ardern, Greta Thunberg, und so viele, die anderen helfen, die Risiken eingehen, die mutig sind, die durchhalten, denen Gewalt angetan wird, die nicht leben können, wie sie wollen, die unschuldig ermordet werden

Ihr Lieblingsmaler? - Goya, weil er mich zum Weinen bringt ...

Ihr Lieblingsautor? - Die, die Unzähligen, die das Alte Testament und das Gilgamesch, die Illias und die Odyssee geschrieben haben. Jane Austen ...

Ihr Lieblingskomponist? - Willie Dixon, Bob Dylan, Joni Mitchell, Hanns Eisler ...

Welche Eigenschaften schätzen sie bei einer Frau am meisten? - Güte und Ehrlichkeit. Und Humor.

Welche Eigenschaften schätzen sie bei einem Mann am meisten? - Güte und Ehrlichkeit. Und Humor.

Ihre Lieblingstugend? - Loyalität.

Ihre Lieblingsbeschäftigung? - Alles mit Theater.

Wer oder was hätten Sie gern sein mögen? - Ich denke, ich bleibe lieber ich.

Ihr Hauptcharakterzug? - Neugier. Interesse.

Was schätzen bei Ihren Freunden am meisten? - Ihre Freundschaft. Ihre Liebe. Ihr Verständnis.

Ihr größter Fehler? - Prokrastination.

Ihr Traum vom Glück? - Realistisch? Eine Riesenshow mit Band, Tänzern, Sängern und allem. Noch realistischer? Gute Arbeit.

Was wäre für Sie das größte Unglück? - Meinen Verstand, meine Selbstständigkeit, meine Lieben zu verlieren.

Was möchten Sie sein? - Lebendig.

Ihre Lieblingsfarbe? - Schwarz.

Ihre Lieblingsblume? - Alle außer Geranien.

Ihr Lieblingsvogel? - Der Spatz. Der ist unverschämt.

Ihr Lieblingsschriftsteller? - Gute Krimischreiber. Anne Carson.

Ihr Lieblingslyriker? - e.e.cummings, Brecht, Rilke ...

Ihre Helden der Wirklichkeit? - Alle, die Leben meistern, deren Herausforderungen ich mir nicht einmal vorstellen kann.

Ihre Heldinnen in der Geschichte? - Wo soll ich anfangen? Harriet Tubman, Menschen, Frauen, die mutiger waren und sind, als ich es bin.

Ihre Lieblingsnamen? - Anna, Eva, Judith, Jenny, Nelly ...

Was verabscheuen sie am meisten? - Selbstgerechtigkeit.

Welche geschichtlichen Gestalten verabscheuen Sie am meisten? - Alle Mitläufer, Lügner, Narzissten, die Selbstgerechten, die ohne Gnade, ohne Gewissen sind.

Welche Reform bewundern Sie am meisten? - ???

Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen? - Gesang.
 
Wie möchten Sie gern sterben? - Spät, aber nicht zu spät und sehr schnell.

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung? - Aufmerksam.

Ihr Motto? - Jetzt bist Du mit dem Kopf durch die Wand und was willst Du nun in der Nachbarzelle machen?

Einige Extras:

Ihre Lieblingsfernsehserie? - Game of Thrones. Ich weiß.

Ihr Lieblingsfilm? - Blade Runner.

Ihr Lieblingsdramatiker? - Kleist. Shakespeare. Schimmelpfennig.

Ihr

Samstag, 5. Oktober 2019

Downtown Abbey - Der Film zum Brexit

An einigen Sonntagnachmittagen des letzten Jahres habe ich auf arte große Teile dieser Serie nebenbei geguckt und gemocht. Wunderbare Kostüme, gute Schauspieler, genaue historische Details, dramatische Ereignisse, angenehme Unterhaltung. Alles fein. 
Und wenn Maggie Smith dabei wäre, würde ich sowieso beglückt jederzeit der Verlesung des Adressregisters von Liverpool beiwohnen.
Heute im hiesigen Cinestar habe ich den großen Film gesehen und es bleibt, trotz einigen Amusements, ein irgendwie unangenehmer Nachgeschmack.

 

 

Ich sehe, die Dienerschaft in glücklich-stolzer Unterwürfigkeit, die Herrschaft gnädig, doch tief besorgt, ob der Herausforderungen der Moderne, König & Königin gütig und nur leicht begriffsstutzig. Ja, es gibt die zauberhafte Nebengeschichte des homosexuellen Butlers, den Aufstieg der unehelichen Tochter und hier und da andere kleine soziale Irritationen, aber sie sind sicher eingebettet in den großen Rahmen der sozialen Stabilität, in der jeder an seinem Platz genau da ist, wo er hingehört, in Sicherheit.
Wie ich gelesen habe, war ein hoher Prozentsatz der Pro-Brexit Wähler älteren Datums, in meinem Alter oder älter, viele, zu viele der jungen Wähler gingen gar nicht wählen. Was wurde da gewählt, eine Erinnerung an eine "gute" alte Zeit? 
Und genau da entspringt mein ungutes Gefühl, da wo erinnerte Sicherheit, selbst bei realer schreiender Ungerechtigkeit, als erstrebenswert gezeigt wird. Mit dem Brexit soll ein England, ein Empire wiedererstehen, mit der AfD soll Deutschland wieder echt deutsch werden. 
Dame Maggie Smith übergibt ihre Position ihrer Enkelin, der Bewahrerin ihrer Werte. Plötzlich wird die mir sehr sympathische böse, reaktionäre, alte Zicke, sentimental, sie lächelt und buhlt um Zuneigung. Nächster Schnitt, ein Dienerpaar auf dem Heimweg bespricht die erhoffte Kontinuität der bestehenden Verhältnisse.
Dazu im Kontrast: Die Geschichte der Magd, oder besser: Die Geschichte, die die Magd erzählt, The handmaids tale. Wo die Klimakatastrophe zur genehmen Unterdrückung von Frauen mißbraucht wird und nichts mehr gut ist, wenn wir nicht aufpassen und Widerstand leisten.

Mittwoch, 25. September 2019

GRETA - DER STEIN DES ANSTOSSES

Ich bin faul. Schon mein Vorhaben ab jetzt keine Zigarettenstummel mehr auf die Strasse zu werfen, strengt mich ungeheuer an. Aber ich trenne meinen Müll, verwende wiederverwenbares Einwickelpapier und Papiertüten, recycle meine Flaschen über den Umweg der vielen Flaschensammler in meiner Gegend, spende für Ärzte ohne Grenzen und die UNESCO. Aber ich esse auch immer noch Fleisch, vermeide einige, aber nicht alle Flüge und könnte, o ja, ich könnte weit mehr tun.


Dann habe ich Folgendes auf Facebook gepostet: 

Sind wir uns einig darüber, dass es eine menschenverursachte Klimaverschlechterung gibt? Stimmen wir darin überein, dass wir jetzt und sofort Vieles in unserem Verhalten verändern müssen, um eine Katastrophe für unsere Kinder und Kindeskinder zu verhindern, und dass die notwendigen gesellschaftlichen Einschnitte unter den Regeln unserer kapitalistischen Gesellschaft nicht leicht durchzusetzen sein werden? Also was ist dann euer Problem mit Greta Thunberg?

Was an Kommentaren folgte ist geradezu surreal.

Die Vorgeschichte: Dieses Mädchen, diese junge Frau, genauso alt wie meine Lieblingsnichte, die auch sehr bestimmte Meinungen hat, beide 15 Jahre alt, beschließt eines Tages, zu streiken. Skolstrejk för klimatet nennt sie es. Schulstreik fürs Klima. Es ist der Herbst des Jahres 2018, Schulbeginn. Sie setzt sich allein mit einem selbstgemalten Poster vor das schwedische Parlament, das tut sie drei Wochen lang, dann schließen andere schwedische Kinder sich ihr an. Fridays for Future entsteht. Sie wird zur Leitfigur, gewollt oder nicht. Immer größere Mengen von Kindern und jungen Menschen demonstrieren am Freitag. Wußte sie, was sie auslöst? Ich bezweifle es. Hat sie das, was sie ausgelöst hat in der Hand, ich bezweifle es. 

Aber! Aber, wenn sich viele Menschen, und noch dazu viele junge Menschen, über die dauernd gejammert wird, dass sie so träge und unpolitisch seien, jetzt auf Strassen gehen und protestieren, kann das etwas Schlechtes sein?

Die wollen bloß nicht zur Schule und schwänzen ist gegen das Gesetz! 

Lenin soll gesagt haben: Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst noch eine Bahnsteigkarte!“

Greta fährt in einem Boot nach New York zum Klimagipfel. PR-Aktion oder naiver Versuch der Konsequenz? Sie hält dort eine Rede. "How dare you?" Wie kann sie es wagen?

Sie ist psychisch krank oder zumindest stark gefährdet, sie ist eine Marionette übler Mächte, sie ist eine unverschämte Göre, eine akute Gefahr. Sie ist zu jung, um so einflußreich zu sein. Zu haßerfüllt, um akzeptabel zu sein. Toxisch. Hitlerine! Ihr Gesicht ist bei ihrer Rede vor der UNO von Hass verzerrt.

Ich würde es verzweifelt wütend nennen. Ein Mädchen mit Aspergers, die vor einer großen, wichtigen Zuhörerschaft die Contenance verliert. Was Wunder? Bedenkend, dass mein Gesicht dazu neigt einer der Puppen von Spitting Image zu gleichen, wenn ich emotional aufgeregt bin, wundert es mich kein bisschen.

Und jetzt kommt der peinliche Teil. 
Trotzdem ich keine Anhängerin der neuesten moralinsauren Opfer-Gender-Politik bin, weil ich denke, das sie wie "Teile & Herrsche" ein Versuch ist, uns von den wirklich monströsen Problemen vor denen wir stehen, abzulenken: die meisten der sich ereifernden oder sich hinter ironischer Abwertung absichernden Kommentatoren sind ältere Männer. Das sie weiß sind sind, ist irrelevant, denn ich kenne nunmal hauptsächlich weiße Männer.

Und noch peinlicher: 
Einige dieser Männer würde ich als meine Freunde bezeichnen, aber plötzlich klingen sie wie böse Greise, die prostatageplagt, die Leiden ihrer Kindheit der heutigen hilflosen Jugend als Stolpersteine vor die Füße werfen.

Wie schwer ist es, heute Position zu beziehen? Pro und Contra sind immer anwesend. An allem ist zu zweifeln, heißt heute eher, "wenn du eine Meinung hast, werden sich im Internet genug Menschen finden, welche Dir diese austreiben werden." Lasst die jungen Leute in Ruhe, ihr hättet auch nicht gewollt, dass euch die Alten dauernd erklären, warum ihr naiv und überfordert seid.

Greta ist 15 und sie ist nicht Luzifer, nicht das Böse an sich. Sie hat an einem bestimmten Punkt unserer Geschichte, genau das gesagt, was viele hören mußten. Sie ist erfolgreich, trotz ihrer selbst. Wir sind weniger erfolgreich und tun, jedenfalls gilt das für mich, zu wenig.

Der Kreis schließt sich.
Sind wir uns einig darüber, dass es eine menschenverursachte Klimaverschlechterung gibt? Stimmen wir darin überein, dass wir jetzt und sofort Vieles in unserem Verhalten verändern müssen, um eine Katastrophe für unsere Kinder und Kindeskinder zu verhindern, und dass die notwendigen gesellschaftlichen Einschnitte unter den Regeln unserer kapitalistischen Gesellschaft nicht leicht durchzusetzen sein werden? 

Also, mit Greta oder ohne, was wollen wir tun?

Dienstag, 17. September 2019

Edward Burtynsky - Anthropzän

 EDWARD BURTYNSKY - ANTHROPOZÄN

"[wir]kommen aus der Natur....Es ist wichtig der Natur eine gewisse Ehrerbietung zu erweisen, weil wir mit ihr verbunden sind....Wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir uns selbst."

“[we] come from nature.…There is an importance to [having] a certain reverence for what nature is because we are connected to it... If we destroy nature, we destroy ourselves.” 
E. B.

Edward Burtynsky OC (* 1955 in St. Catharines) ist ein kanadischer Künstler, der mit großformatigen Fotografien von Industrielandschaften bekannt wurde. So sagt Wiki

 Salzwerk - Salinas #3 Cádiz, Spain, 2013

Das Anthropozän ist der Versuch der Benennung einer geochronologischen Epoche: des Zeitalters, in dem der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. (Wiki)

Ölbunker - Oil Bunkering #1, Niger Delta, Nigeria, 2016

Um seine bevorzugte Gott-Perspektive zu erreichen, begann er mit hochgelegenen Orten und hohen Stativen, dann ging er zu teleskopischen Hydraulikstangen über ( stellen Sie sich einen 15 Meter  langen Selfie-Stick vor) dann Flugzeuge und Hubschrauber und jetzt Computer-kontrollierte Drohnen. Seine Leute suchen nach möglichen Motiven im Komfort von Google-Earth, dann legt Burtynsky mit Hilfe von GPS-Technologie eine Position nach Längen- und Breitengrafd und Höhe fest...
Oliver Wainwright im Guardian

Offene Kupfermine - #8, an open pit copper mine in Canada

“We’re at a critical moment in history where we’re starting to hit the thresholds of human expansion and the limits of what this planet can sustain. We’re reaching peak oil, peak fish, peak beef – and the evidence is all there to see in the landscape.”

"Wir sind an einem ktitischen Moment der Geschichte, an dem wir die Schwellen der menschlichen  Expansion erreicht haben und die Grenzen von dem, was dieser Planet aushalten kann. Wir erreichen Maximal-Öl, Maximal-Fisch, Maximal-Rindfleisch - und die Beweise sind alle zu sehen in der Landschaft."
 E. B.

Sägemühlen - Saw Mills #2, Lagos, Nigeria

Alle Photographien © Edward Burtynsky, All Rights Reserved

Samstag, 14. September 2019

Postdramatisches - Dramatisches

Ich gehe oft Theater gucken.

Wenn es mir gut tut, bin ich danach beglückt, verwirrt, aufgeregt, nachdenklich, irritiert, gelegentlich sogar neidisch. Manchmal war es nur ein kurzer schauspielerischer Moment, manchmal ein Gedanke, den ich sonst nicht gedacht hätte, manchmal ein Arrangement, eine Bewegungen, eine Geste. Ganz selten, geschieht es, dass ich einen ganzen Abend in wunderbarer Klarheit verbracht habe, scharfsichtig und heiß, weil jemand tiefer gedacht hat, als ich es konnte, Bilder erfunden hat, die ich nicht hätte erdenken können, weil jemand sich schweißtriefend bemüht hat, wahrhaftig zu sein und/oder weil dieser jemand zornig genug war, um waghalsig zu denken, für die Kunst, für die Wahrheit, für das Überleben des von mir geliebten, schon sehr alten, und mittlerweile recht gebrechlichen Theaters. 

Aber. Aber oft, zu oft, gehe ich in der Pause, erschöpft und mißmutig. 
Ein Einfall wurde gehabt. (Und ich meine nur "einer".) Eine Provokation wurde behauptet. (Wer glaubt noch, im Theater provozieren zu können? Womit denn?) Eine sichere Nummer wurde geplant. (Der Hype verlangt Opfer, produziere viel und wiedererkennbar, carpe diem, morgen kann es vorbei sein.)

Castorf, mal unerträglich repetitiv, man hirnerfrischend wild, quält sich und alle seine Mitarbeiter durch die Untiefen seines großen Hirns. Milo Rau will die Welt verstehen und vergißt darüber nicht, dass er mich, damit ich ihm folge, unterhalten, meine Aufmerksamkeit wachhalten muß. Thorsten Lensing breitet Teppiche aus für die Talente seiner Spieler. Christopher Rüpping verbeißt sich in Texte und begeistert seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen. Etc., etc.

Aber. Aber, oft ist faules Mittelmaß, was mir geboten wird. Dabei ist ein großes, überfordertes Scheitern bei weitem erträglicher, als die häufig erlebten Repetitionen eines "Erfolgrezeptes" oder die ebenso häufige nachlässige, eitle Bebilderung eines nicht zu Ende gedachten Konzeptes. Dafür werden Spieler, hochbegabte, geliebtwerdenwollende, aufopferungswillige geopfert, die lange, zu lange Abende mit Kraftmeierei und Behauptung durchstemmen müssen. Nackt, nein, entblößt werden sie der trendbewußten, lauen Neu-Gier des Publikums zum Fraß vorgeworfen.

Ich wünschte, es gäbe eine Verbots-, Gebotsliste für Inszenierungen. Denke Deinen Plan bis zum Ende. Die Logik der Bühne ist nur auf derselben gültig, dort aber unbedingt. Liebe deine Spieler, sie müssen, das was du dir ausdenkst, vertreten, aushalten, während ihnen Hunderte Menschen zuschauen, bist du es, ist es dein Plan wert? Unterschätze die Intelligenz Deiner Zuschauer nicht, ja, sie sind überfüttert, denkfaul und leicht verführbar. Aber ganz tief drinnen wissen sie, wenn sie beschissen, nicht ernst genommen werden, wenn sie nicht gemeint sind.
Postdramatisch ist eine Dramaturgenbehauptung, selbst im Untergang, sollten wir uns denn darin befinden, empfinden wir unser Leben als reales Drama. Und das ist unser Recht. Weil wir es aushalten müssen und nicht nur seine Zuschauer sind.

Weniger sinnfreies Gebrülle, Nacktheit nur, wenn sie inhaltlich notwendig ist, jeder Geschlechterwechsel sollte Sinn machen, Heiner Müller-Zitate sollten nur im Notfall verwendet werden. Und grundsätzlich, Menschen, also auch Theaterfiguren leben in Umständen, die Vorgänge erzeugen, nicht nur in emotionale Zuständen. Stückfiguren leben in Umständen, die ihnen Reaktionen abverlangen. Den emotionalen Zustand "an sich" gibt es nicht. Niemand leidet an und für sich. Niemand. Die soziale Position ist entscheidend innerhalb jeder Auseinandersetzung.

"Das große Format entschuldigt alles." b.b.
Aber groß sollte es sein. Wenigstens nicht kleiner als eine Supermarktgurke. 

Donnerstag, 12. September 2019

Macht das alles einen Sinn - und wenn ja, warum dauert das so lange?

Hat das alles einen Sinn - und wenn ja, warum dauert das so lange?  Regie: Andreas Wilcke
Keinen Sinn für Humor. Keine eigene politische Haltung. Kein Sinn fürs Theater. Nur allgemeine Sentimentalität den "guten" alten Zeiten gegenüber. Kitsch.
Ungewöhnlich schlechter Schnitt.
Frank kommt schlecht weg, obwohl er doch ums Verrecken das Idol sein soll. Weil halt nur schicke Ausbrüche gezeigt werden und nicht die Momente, wo er in widerwillig herausgemurmelten Sätzen Strukturen aufdeckt oder wo er einen absurden Einfall in die Runde wirft, der sich im Ausprobieren als szenisch brilliant erweist.
Die Qual der Proben wird nicht gezeigt und nicht ihre kindliche Albernheit. Nur der Druck.
Uns hat er damals gefragt, ob wir was Merkwürdiges können, ein Kollege konnte jodeln, da haben wir als Chinesen dann gejodelt.
Hier soll ums Verrecken Genie bewiesen werden, doch dazu braucht es keinen Weihrauch, keine überlangen Einstellungen, kein Ich-weiß-wie-es-war Getue, dazu braucht es uneitles, Interesse mit Geduld und Neugier. Interessantes Wort: Neugier, gierig danach Neues zu erfahren, nicht nur einfach eigene Überzeugung zu bestätigen.
Öde. Mir fällt kein besseres Wort ein.
Die beste Szene, wenn Sophie Rois herzallerliebst gähnt, während Frau Angerer einen längeren Monolog hält. Alexander Scheer scheint so sympathisch, zu sein, wie ich vermutete.
Wenn man nur die Videos aus großen Szenen abfilmt, erweist sich, dass Theater spannender ist als seine filmische Abbildung.
Verehrung ohne das nötige Talent und ohne Witz und ohne Distanz schadet dem Verehrten.
Ich hatte das Gefühl vier Stunden im Kino zu sitzen, dabei waren es nur zwei. Kein gutes Zeichen.