Montag, 8. Juli 2019

Mister Bojangels

Meine Lieblingslieder wechseln. Aber da ist eine unveränderbare Position, die mein Herz, mein Ohr nicht ändern können, nicht aufgeben wollen. Ein Walzer im 6/8 Takt, eine einfache Melodie, die immer auf eine Wortfolge hinstrebt: "Mister Bojangles, Mister Bojangles, Mister Bojangles dance". 

Wiki gibt die Inhaltsangabe so: In Ich-Form berichtet der Erzähler von einem silberhaarigen Mann in abgetragenen Kleidern und ausgetretenen Schuhen, den er in einer Gefängniszelle in New Orleans kennenlernt und der sich „Bojangles“ nennt. Der Mann blickt auf ein erlebnisreiches Leben zurück und scheint trotz der misslichen Lage bester Laune. Zur Unterhaltung der Anwesenden tanzt er in der Zelle einen Soft-Shoe-Stepptanz, bei dem er hoch in die Luft springt und die Hacken zusammenschlägt. Er erzählt, dass er fünfzehn Jahre lang durch die Südstaaten getingelt und bei Minstrel Shows und Jahrmärkten aufgetreten ist. Sein einziger Begleiter ist ein Hund gewesen, um den er noch zwanzig Jahre nach dessen Tod trauert. Nun tanzt er nur noch für Trinkgelder in Honky-Tonk-Kneipen, verbringt jedoch die meiste Zeit hinter Gittern, weil er trinkt. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Mr._Bojangles 

Dieses Lied gesungen von einem one-eyed Negro Jew, einem jüdischen Neger mit Glasauge. Neger durch den Zufall der Geburt, Jude aus eigener Entscheidung, das Glasauge durch einen Unfall. Das Handicap liegt hoch. Sammy Davis Jr. gilt meine Verneigung, der ein kompliziertes Leben gelebt hat, bedrückt durch groben Rassismus, Angst vor erfahrener Armut und doch mit höchster Grazie.

https://www.youtube.com/watch?v=-Fju4UajL7g 

Sammy Davis Jr. - Wenn es einen Inbegriff von Coolness gibt, dann ist es er. Perfekter Minimalismus. Das rote Futter des Hutes! Bewegungen nur, wenn absolut notwendig, die Zigarette, ungeraucht, aber anwesend. Entspannt. Im Moment. Er zitiert Haltungen, ganz leicht, ohne Nachdruck. Nie wirkt er angestrengt, aber auch nie unterspannt. Er ist da. Er singt.


I knew a man Bojangles and he’d danced for you
In worn out shoes
With silver hair, a ragged shirt, and baggy pants
The old soft shoe
He jumped so high, jumped so high
Then he lightly touched down I met him in a cell in New Orleans 
I was down and out
He looked to me to be the eyes of age
as he spoke right out
He talked of life, talked of life, he laughed
clicked his heels and steppedHe said his name “Bojangles” and he danced a lick
across the cell
He grabbed his pants and spread his stance,
Oh he jumped so high and then he clicked his heels
He let go a laugh, let go a laugh
and shook back his clothes all around Mr. Bojangles, Mr. Bojangles
Mr. Bojangles, dance He danced for those at minstrel shows and county fairs
throughout the south
He spoke through tears of 15 years how his dog and him
traveled about
The dog up and died, he up and died
And after 20 years he still grievesHe said I dance now at every chance in honky tonks
for drinks and tips
But most the time I spend behind these county bars
’cause I drinks a bit
He shook his head, and as he shook his head
I heard someone ask him please
Mr. Bojangles, Mr. Bojangles
Mr. Bojangles, dance.

Tel Aviv On Fire - Ein wirklich witziger Film

Sameh Zoabihat einen überraschend guten Film gemacht: Tel Aviv On Fire.
 
Würde es Gelegenheiten geben, dass Israelis und Palästinenser sich auf Augenhöhe begegnen und sich vielleicht sogar mögen, würde das so manches Weltbild zerschlagen.
Sameh Zoabihat 
 
 
Die Geschichte eines jungen palästinensischen Mannes, zu lang, zu dünn, zu unentschlossen. Seine große Liebe hat er verloren, weil er ihr gesagt hat, er fühle sich bei ihr, wie ein Fisch im Toten Meer. Und nun existiert er so vor sich hin und arbeitet bei der Produktionsfirma seines Onkels als Zuständiger für die hebräischen Dialoge.
Diese Firma produziert eine Soap-Opera, ein täglich gesendetes Melodrama über das Schicksal einer palästinensischen Spionin hin- und hergerissen zwischen ihrer Pflicht als Spionin und der Liebe zu einem jüdischen General namens Jehuda. 
Und diese Serie schauen auch israelische Frauen, trotz ihres unübersehbaren Antisemitismus, weil es halt um Liebe geht. 
Ein israelischer Grenzoffizier mit Hang zur Dramatik und einer der Serie verfallenen Ehefrau kommt ins Spiel und der Irrsinn des Nahost-Konfliktes verwandelt sich vor meinen Augen in den Irrsinn des cineastischen Melodramas mit Ausflügen in die absurde Farce.
Wunderbar, grauenhaft und auch traurig und sehr sehr witzig.
Hier ist Leid kein Druckmittel, sondern Teil von Biographien, Feindschaften sind altbekannt und hindern die Protagonisten doch nicht daran, zum eigenen Vorteil zusammenzuarbeiten. Und die Liebe besiegt wirklich alles, selbst die Macht der anonymen Geldgeber der Produktionsfirma.
Ich wünschte, ein deutscher Filmemacher hätte den Mut und die Leichtigkeit einen solchen politischen Film zu drehen. "Four Lions" von Chris Morris wäre vergleichbar. 
Große Politik, unlösbare Konflikte auf erkennbare Höhe gebracht, nicht durch Verkleinerung, sondern durch Betrachtung der Kontrahenten als unterschiedliche Menschen.
 
Wiki nennt Humor die Begabung eines Menschen, der Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den alltäglichen Schwierigkeiten und Missgeschicken mit heiterer Gelassenheit zu begegnen. Diese Begabung haben wir, die deutschen Menschen eher nicht so, besonders das Ding mit der Gelassenheit fällt uns schwer. Weil wir ja selbst so sehr leiden, bleibt uns wenig Raum für das Interesse an den Kümmernissen anderer nichtdeutscher Menschen.

nordbuzz: Ihr vorheriger Film „Under the Same Sun“ befasste sich aber auch mit dem, was Palästinenser und Israelis den „Konflikt“ nennen.

Zoabi: Die meisten meiner Arbeiten haben mit dem Konflikt zu tun, aber ich nähere mich dem anders an, als man vielleicht erwarten würde. Ich interessiere mich nicht für die Geschichten, die man in den Nachrichten normalerweise hört, über leidende Palästinenser, die Besatzung oder Bombardierungen. Ich bin mehr an den Figuren interessiert. An den Menschen, die ihr normales Leben führen, das im Kino aber fast nie vorkommt. Die Situation zwischen Palästinensern und Israelis ist, wie sie ist. Und die Menschen müssen damit zurechtkommen. Aber damit akzeptieren beide Seiten auch, dass es immer Gewalt geben wird. Niemand spricht aber darüber, dass beide Seiten auf eine bessere Zukunft hoffen. Jeder will einfach nur ein normales Leben. Und darum geht es mir in meinen Filmen.

nordbuzz: Man hätte natürlich „Tel Aviv on Fire“ auch vollkommen ernst erzählen können.

Zoabi: Ja, darüber habe ich aber nie nachgedacht. Das ist einfach nicht mein Stil, ich mag Humor. Ich bin mit etwas groß geworden, das man als „Ghetto-Humor“ bezeichnen könnte. Wenn man das Gefühl hat, dass die Welt gegen einen ist und alles zerbricht, dann muss man das mit Humor nehmen, da man sonst nicht weitermachen könnte. Palästinenser sind sehr lustige Leute. Amüsant ist, dass ich häufig höre, mein Humor sei sehr jüdisch. Teil dieses Humors ist es, sich umzingelt zu fühlen. Das ist dasselbe Gefühl, das Palästinenser haben. Jüdische Filmemacher transportieren oft diesen Humor, dass die Welt und die Realität sich gegen einen verschwören. Es ist wichtig, als Palästinenser Humor im Alltag zu finden, weil das Leben sonst einfach zu traurig wäre. 
nnn

Freitag, 5. Juli 2019

Lotte Laserstein

Die Berlinische Galerie ist ein guter Ort, um eine bestimmte Art von Bildern anzuschauen. Die Räume sind großzügig, licht, kühl, aber nicht kalt, irgendwie ein sanfter, zurückhaltender Ort. Installationen, Malerei des letzten Jahrhunderts, Photographien habe ich hier gesehen. Aber es ist interessant sich vorzustellen, wie Alte Meister, Caravaggio oder Rembrandt oder El Greco hier wirken würden. Wäre der Kontrast der weißen großen Räume förderlich oder zu krass? 
Caravaggio habe ich bisher immer nur in schlecht beleuchteten Palazzi oder vierfach gehängten Sälen in altehrwürdigen Sälen gefunden. Ich konnte nie richtig gut sehen und das verstärkte das wunderbare Mysterium der Bilder für mich noch.

Heute. Im ersten Raum eine Installation von realities: united. 
Ein nicht sehr großes Video zeigt Starkregen in einem Innenraum mit baumähnlichen Säulen, am Boden bilden sich eigenwillige Wasserströmungsmuster, Lautsprecher an den drei übrigen Raumseiten verströmen das erwartete Geräusch dazu. Ich liebe Regen, er ist poetisch in vielfältiger Art, aber auf der Bühne kommt er selten vor, zu schwierig, zu nass, zu teuer. Ich denke gerade über ein Regen-Projekt nach, mal sehen, was daraus wird.

https://www.design-museum.de/de/diskurs/interviews/detailseiten/realitiesunited.html

Dann Lotte Laserstein. Abend über Potsdam hatte ich vor einiger Zeit zum ersten Mal gesehen und es war mir im Hirn geblieben. 
Geboren am 28. November 1898 in Preußisch Holland im ostpreußischen Oberland und gestorben mit 94 Jahren am 21. Januar 1993 in Kalmar, Schweden. Eine dieser deutschen Biographien mit dem 33er Bruch, gerade auf dem Weg zur öffentlichen Anerkennung, einer Einzelausstellung bei Gurlitt, guten Verkäufen, mußte sie fliehen, nach Schweden. Die zurückgebliebene Mutter starb im KZ, die Schwester überlebte im Untergrund und sie selbst schloß eine Scheinehe, um die schwedische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Sie malte Auftragsporträts, hielt sich über Wasser, nach dem Krieg reiste sie viel. "Wiederentdeckt" wurden ihre Bilder in den späten 80ern des letzten Jahrhunderts. Sie hat es also wenigstens noch miterlebt.

Frauen, Gesichter, Körper, Haltungen. Vereinzelt Männer. Immer wieder Selbstporträts. Eine Serie davon, ein bisschen Andy-Warhol vorempfunden, das gleiche Gesicht, mit unterschiedlichen Kopfbedeckungen, wahrscheinlich nur eine Übung fürs Studium, aber verblüffend modern. Es gibt einen wiedererkennbaren Stil, aber auch immer wieder Ausbrüche, die dann verworfen oder integriert werden. Und drei Menschengruppen, Abend über Potsdam 1930, alle wirken bedrückt, unsicher, verstört, ein Hund schläft unterm Tisch. Drei Männer in wildem Gespräch, die Wand voll Schatten, die Körper angespannt, 1933. Vier Emigranten sitzen zusammen, fremd, verloren.

Ob es von meiner Großmutter auch solche Bilder geben könnte? Nur dass sie, in allen Nöten, noch zwei kleine Kinder und einen anstrengenden Mann zu versorgen hatte? Ihre Mutter starb 1927, die Schwester 1934, der Vater im KZ.

Mein Liebling, ein russisches Mädchen, Emigrantin in Berlin


Eine Reihe von Selbstporträts






Donnerstag, 4. Juli 2019

Etwas geschafft zu haben.

Ich habe es geschafft. Wir haben es geschafft. Ungefähr 500 Menschen, 20 Tiere, viele wunderbare Mitarbeiter, meine Schwester und ich haben es geschafft. Ich kann es kaum glauben und bin doch ungeheuer stolz. 

Sogar auf Nachtkritik wird gejubelt, die regionalen Zeitungen tun es auch. Es könnte nicht besser sein. Gänzlich ausverkauft sind wir trotzdem nicht. Doch eine gigantische Freiluftshow findet statt und bereitet den Spielern, den Zuarbeitenden und den Zuschauenden Vergnügen.

Zwischendurch jede Menge Krisen und sehr viele glückliche Momente. Erschöpfung, Überforderung und jede Menge Spaß. Und Freizeit in Ötigheim, einem Dorf mit 5000 Bewohnern, zwei Kneipen, einer Konditorei, einem Bäcker, einer Apotheke und Edeka und LIDL im Industriegebiet. Rastatt ist nur zehn Minuten entfernt, Baden-Baden zwanzig, Karlsruhe dreissig. 

Siebenundzwanzig Vereine haben sie hier. Chor, Tanz, Karneval, Instrumentalunterricht, das Angebot ist breitgefächert und viele sind in mehr als drei Vereinen. Ein Pfarrer hat das gegründet, er wollte, das Kultur, Kunst ein lebendiger Teil des örtlichen Lebens sein sollte. Bildung fürs Volk. Das Volk spielt fürs Volk. Volksbildung. 

Der Pfarrer, Herr Seyer wollte ans Theater, hat bei Reinhard hospitiert, auf ihrem Totenbett hat seine Mutter, ihm das Versprechen Pfarrer zu werden abgerungen, er gehorchte und begründete die VOLKSCHAUSPIELE. Er schrieb eine "Passion", Wilhelm Tell wurde oft aufgeführt. Die Bühnenteile sind nach den Orten des Stückes benannt: Rütli, Stauffacher-Haus, Hohle Gasse etc. und den Stücktext können hier viele vollständig auswendig. 
Der Faschismus wurde halbherzig überstanden. Der Pfarrer drehte einen Film, der ein Mißerfolg war, er starb vollständig verarmt. 

Aber dieses verrückte Erbe, ein Dorf, ein Großteil eines Dorfes im tiefen katholischen Schwarzwald, das theatersüchtig ist, Theater liebt, hat ihn überlebt. Noch heute ist der jeweilige örtliche Pfarrer Vorsitzender des Vereins.

Proben mit bisher unbekannten Schwerpunkten:
Wie reagiert das Stuntpferd auf laute Geräusche?
Wann muß die Kutsche, wo, losfahren, um pünktlich in der Mitte der 150 Meter breiten Bühne zu sein? Oh, der Kutscher hat sein Hörgerät vergessen!
Wie spielt man eine intime Szene für 3000 Menschen? 
Wir sprechen mit Mikrophon, also müssen wir uns deutlich bewegen, wenn wir reden, damit die Zuschauer wissen wer grad spricht.
Hier gilt nicht kleckern, sondern klotzen.
Wenn einer aus der Gruppe der Darsteller verhindert ist, wegen Urlaub, Geburtstag oder Beruf, wer ersetzt ihn? Da alle Darsteller Amateure, das heißt, andersweitig Berufstätige sind, ist das eine äußerst wichtige Frage.
Wenn zwölf gallopierende Pferde schnell wenden müssen, wie verhindert wir Unfälle mit herumwandernden Spielern?
Welches der vielen mitspielenden Kinder merkt sich das Stichwort für den Auftritt am besten? 
Der jüngste Mitspieler ist ein halbes Jahr alt, der älteste, das kann ich nur schätzen. Ein Über-Siebzigjähriger erzählt mir, dass er mit vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne stand. 
Der begabte Tänzer hat es am Knie, die drei älteren Damen im Volksbild können nicht mehr schnell laufen. Der Bass besteht nur noch aus fünf älteren Herren. 
Ein Chor von 90 Leuten will sich bewegen und will es auch nicht. Da ist Mutmachen nötig.

Luisa, meine Assistentin hatte, als Einzige den Überblick, Sebastian, mein Münchhausen, der einzige Profi, war der Vermittler, ich, die Zugezogene, habe mitgetanzt und vorgespielt und gute Laune verbreitet und tolle Leute kennengelernt, solche, die man im ursprünglichen Sinn des Wortes anständige Menschen nennt. Offen und interessiert, gesprächig und fleissig. Sie haben mich freundlichst aufgenommen.
 
Welch eine Gemeinschaft! Gespräche, Nachbarschaftshilfe, gemeinsames Essen, themenbezogene Picknicks werden herbeigetragen. Jeder kennt jeden. Nicht jeder mag jeden, aber das wäre auch unglaubwürdig. Eine lebendige soziale Struktur. Alte, sehr Alte und junge Menschen tun etwas miteinander und nehmen sich wahr.


















Alle Photos © Rainer Wollenschläger

Montag, 1. Juli 2019

WAITING FOR THE BARBARIANS

Ich hatte den Namen Constantine Peter Cavafy noch nie gehört, stieß auf ihn in einem Essay über Popkultur und war überrascht. In Alexandria geboren, hat er zeitweise in Liverpool, Konstantinopel und irgendwo in Frankreich gelebt und sich dann für ein Leben in Alexandria als Beamter im ägyptischen Staatsdienst des ausgehenden 19. Jahrhunderts entschieden. 
Kühle weht einem entgegen, Ironie und eine ganz unsentimentale Melancholie. Die Strenge in der Form kann ich aus den Übersetzungen nur vermuten. 
Ein kleiner Fund.
Was ich für Gedichte verpasse, weil ich so wenig Fremdsprachen verstehe! 

WARTEN AUF DIE BARBAREN

Worauf warten wir, versammelt auf dem Marktplatz?

Auf die Barbaren, die heute kommen.

Warum solche Untätigkeit im Senat?
Warum sitzen die Senatoren da, ohne Gesetze zu machen?

Weil die Barbaren heute kommen.
Welche Gesetze sollten die Senatoren jetzt machen?
Wenn die Barbaren kommen, werden diese Gesetze machen.

Warum ist unser Kaiser so früh aufgestanden?
Warum sitzt er mit der Krone am größten Tor der Stadt
Hoch auf seinem Thron?

Weil die Barbaren heute kommen
Und der Kaiser wartet, um ihren Führer
zu empfangen. Er will ihm sogar eine Urkunde
Überreichen, worauf viele Titel
Und Namen geschrieben sind.

Warum tragen unsere zwei Konsuln und die Prätoren
Heute ihre roten, bestickten Togen?
Warum tragen sie Armbänder mit vielen Amethysten
Und Ringe mit funkelnden Smaragden?
Warum tragen sie heute die wertvollen Amtsstäbe,
Fein gemeißelt, mit Silber und Gold?

Weil die Barbaren heute erscheinen,
Und solche Dinge blenden die Barbaren.

Warum kommen die besten Redner nicht, um wie üblich
Ihre Reden zu halten?

Weil die Barbaren heute erscheinen,
Und vor solcher Beredtheit langweilen sie sich.

Warum jetzt plötzlich diese Unruhe und Verwirrung?
(Wie ernst diese Gesichter geworden sind.) Warum leeren
Sich die Straßen und Plätze so schnell, und
Warum gehen alle so nachdenklich nach Hause?

Weil die Nacht gekommen ist und die Barbaren doch nicht
Erschienen sind. Einige Leute sind von der Grenze gekommen
Und haben berichtet, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren.

Und was wird nun aus uns ohne Barbaren?
Diese Leute waren eine Art Lösung.  


 
Übersetzt aus dem Griechischen Robert Elsi. Und von mir leicht verändert.
Aus: Das Gesamtwerk Amman Verlag 1997

 
WAITING FOR THE BARBARIANS

By C. P. Cavafy 
Translated by Edmund Keeley
What are we waiting for, assembled in the forum?

The barbarians are due here today.

Why isn’t anything going on in the senate?
Why are the senators sitting there without legislating?

Because the barbarians are coming today.
What’s the point of senators making laws now?
Once the barbarians are here, they’ll do the legislating.

Why did our emperor get up so early,
and why is he sitting enthroned at the city’s main gate,
in state, wearing the crown?

Because the barbarians are coming today
and the emperor’s waiting to receive their leader.
He’s even got a scroll to give him,
loaded with titles, with imposing names.

Why have our two consuls and praetors come out today
wearing their embroidered, their scarlet togas?
Why have they put on bracelets with so many amethysts,
rings sparkling with magnificent emeralds?
Why are they carrying elegant canes
beautifully worked in silver and gold?

Because the barbarians are coming today
and things like that dazzle the barbarians.

Why don’t our distinguished orators turn up as usual
to make their speeches, say what they have to say?

Because the barbarians are coming today
and they’re bored by rhetoric and public speaking.

Why this sudden bewilderment, this confusion?
(How serious people’s faces have become.)
Why are the streets and squares emptying so rapidly,
everyone going home lost in thought?

Because night has fallen and the barbarians haven't come.
And some of our men just in from the border say
there are no barbarians any longer.

Now what’s going to happen to us without barbarians?
Those people were a kind of solution.

Geschrieben 1898 und veröffentlicht 1904.

Constantine Peter Cavafy, auch bekannt als Konstantin oder Konstantinos Petrou Kavafis; geboren am 29. April 1863 – gestorben am 29. April 1933 war ein ägyptisch-griechischer Poet, Jurnalist und Beamter.

Mittwoch, 19. Juni 2019

2 x Trommeln in der Nacht

Für "nachtkritik" geschrieben und dort erstveröffentlicht.


DIE LETZTE REVOLUTION IST LANGE HER

„Von meinen ersten Stücken ist die Komödie „Trommeln in der Nacht“ das zwieschlächtigste.“
Bertolt Brecht in „Bei der Durchsicht meiner ersten Stücke“ 1953

„Trommeln in der Nacht“, ursprünglich „Spartakus“ - geschrieben 1919,
der Erste Weltkrieg, der noch nicht Erster heißt, ist gerade verloren worden, die Novemberrevolution zwingt Deutschland in die parlamentarische Demokratie, Brecht ist 21 Jahre alt.

Wenn ich heute an Revolution denke, dann eher an ihre malignen Auswüchse, den Terror der Jahre 1793/94, Stalins Massenmorde, als an die Zustände, die den Aufstand nötig machten. Ist solche Not außerhalb meiner Vorstellungskraft?

Ich gehe manchmal auf eine Demo oder unterschreibe eine Petition, das geht übrigens heutzutage auch in dem für das Ende des Stückes so wichtigen Bett. Widerspruch ohne Gefährdung. Perfekt. Banal.

Nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes wurden Liebknecht und Luxemburg erschossen und im Landwehrkanal entsorgt.

Die Uraufführung fand am 29. September 1922 an den Münchner Kammerspielen statt, die Inszenierung wurde drei Monate später für das Deutsche Theater übernommen und nach erfolglosen sechs Vorstellungen abgesetzt. Immerhin hat Brecht bei dieser Arbeit die Weigel kennengelernt. Worüber die wohl gestritten haben?

Ich habe zweimal dasselbe Stück gesehen, nur die letzten zehn Minuten unterschieden sich, zweimal hellwach geschaut, meine Augen und Ohren und mein Hirn hatten viel zu tun, das Herz schlug meist gleichmäßig.

Es beginnt ganz vorsichtig, weniger als Nachgestaltung der Inszenierung von 1922, mehr als Lauschen auf Echos, Überprüfen der alten Worte, Vergleichen der Konstellationen. Das Bühnenbild zitiert das Damalige, die Kostüme sind neutral schwarz, das Sprechen ist tastend.

Wilde Sprache, trunkene Wörter, fiese Pointen, ich verstehe, warum Brecht das Stück Komödie nannte.

Alle Konzentration ist hier auf die Familie und den in sie einbrechenden Kragler gerichtet. Was den Abend aber gerade nicht privatisiert, sondern den Riss zwischen bürgerlicher Idylle in Gefahr und dem irgendwo im Off stattfindendem Aufstand krasser zeichnet.

Wunderbare Momente. Wenn Kragler sich die schwangere Anna über die Schulter wirft und sie, zum Gesang von „Ob sie ihre Lilie noch hat“, dies in eine romantische Hebefigur verwandelt. Wenn die vom Kirschschnaps gelöste Mutter in leicht verkrampften Ausdruckstanz verfällt. Wenn neonröhrenbeladen Türme herunterschweben und die Szenerie ins Futuristische zwingen.

Wiebke Puls, die Mutter, verdient einen eigenen Beitrag. Kein Wort ohne Gedanken, der Körper ein Instrument, klug und schön, ganz im Moment und immer Herrin der Lage. Und sie ist groß, und genießt es. All the Power to her!

Mit dem Vierten Akt verändert sich der Zugriff völlig. Die Revolution ist da, auf der Bühne, aber sie findet nicht statt. Statt dessen ein Sprechgesang, die aufrührerischen Texte gesprochen wie Erinnerungen aus der Zukunft, die Szenerie erinnert an Kubricks „2001“, das chorische Sprechen schwillt an und gipfelt in einem grandiosen Popsong, U2 fordert den Weltfrieden.

Aufforderungen zum Umsturz, revolutionäre Empörung sind peinlich, ironischer Abstand muss genommen werden. Ein lautes Jein ist sicherer, als eine klare Haltung.

Anna, die ihrem Geliebten in die Schlacht gefolgt ist, unterbricht die Show und lenkt die Aufmerksamkeit auf uns, die wir dasitzen und uns als politisch denkende Menschen empfinden.

Akt Fünf, die Entscheidung - im Original von Brecht beendet Kragler seine Teilnahme an der Revolution und zieht sich mit seiner Anna ins Bett zurück. In dieser Fassung wird Anna von einem Mitglied des Chores gekillt, erweist sich aber als Mitträgerin des Happyends als untötbar und das Paar liefert uns eine höhnische Absage an jedwede politische Aktivität. „ Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass eure Idee in den Himmel kommt? Seid ihr besoffen?“

Der Variant am zweiten Abend: Kragler tötet die insistierende Liebende mit eigener Hand und entscheidet sich für den Kampf. „Glotzt nicht so romantisch“ bekommt da einen ganz neuen, harten Sinn.

Ich, pubertär-unüberlegte Stalinistin, Anarchistin im Familienkampf und heute, ja was bin ich heute, vorsichtig mit meinen Gewissheiten und atheistische Humanistin, habe keine Antwort, keine Entscheidung parat. Aber immer noch hat das Wort Revolution eine sinnliche Verlockung, wahrscheinlich nur, weil ich weiß, dass ich sie nicht mehr erleben werde. Ich bin ein Feigling. Und was sind Sie?

An beiden Abenden wurde am Ende so getan, als würde das Bühnenbild zerhackt, funktioniert nicht, finde ich, wenn ich gleichzeitig sehe, wie die fest getischlerten Teile von den Bühnenarbeitern in Sicherheit gebracht werden. Hätte ich nicht gebraucht. Es war davor schon zu Ende erzählt.

Vielleicht ist das für Manchen hier von Interesse, Striche, Szenenumstellungen, geschlechtsunabhängige Rollenbesetzungen gehen sowieso, auch früher schon.
Und dann kam eine Anfrage für eine Zweifach-Inszenierung von „Trommeln in der Nacht“, den einen Abend der originale Schluss, am anderen der genau entgegengesetzte, gebaut aus Notizen, die Brecht, unzufrieden mit der eigenen Arbeit, niedergeschrieben hatte. ich fragte mich zwar, wer wohl zweimal ins Theater ginge, nur wegen eines veränderten Endes, aber das ging mich schlussendlich nichts an.
Ein spannender Abend. Das sage ich selten. Zwei spannende Abende.
Und jetzt gehe ich ins Bett.

Montag, 17. Juni 2019

Kulturelle Aneignung - Raub oder ein Versuch der Annäherung

Eine Theaterinszenierung am Schauspiel Leipzig wird kritisiert, weil sie in Kunst geformt, und wie ich lese, sensibel und beeindruckend eine Geschichte über vietnamesische Menschen erzählt, die als "Gastarbeiter" erst in der DDR und dann als Bürger im vereinigten Deutschland lebten, aber sie tut dies ohne die aktive Teilnahme eben jener vietnamesischer Mitbürger, das heißt ohne vietnamesische Darsteller oder Dramaturgen. Die Geschichten des Stücks hatte der Autor allerdings in ausführlichen Gesprächen mit Betroffenen recherchiert. Nicht so sehr das Stück wird angegriffen, aber der Mangel an Inklusion. Der Autor hat, nebenbei, den Mühlheimer Theaterpreis für sein Werk erhalten.

Schwierig.

Cultural appropiation, verdeutscht kulturelle Aneignung, wird momentan intensiv beobachtet. Aber was ist das genau? In den meisten Fällen wird der Begriff als kulturelle Übergriffigkeit verwendet. "Dies ist unser, und ihr verhaltet euch wie Kolonialherren von einst, wie weiße Machthaber und nehmt es uns weg und verwendet es nach eurem Gutdünken." 

Schon die genaue und nichtverletzende Bezeichnung bestimmter Mitmenschen ist vermintes Gelände. Das Neger nicht geht, ist völlig klar, außer das Wort wird in einem spezifischen historischen Zusammenhang verwendet. Es gibt wunderbare Gedichte, die das Wort verwenden, ergreifende Reden, die den zum Schimpfwort verkommenen Begriff, wie einen Edelstein verwenden. 

Schwierig.

Aber PoC? Person of Colour? Das kann doch nicht unser Ernst sein. Wenn wir denn überhaupt eine Betitelung brauchen, dann doch nicht solch einen ungelenken, unschönen Anglizismus. Wir sollten nicht vergessen, dass wir subkutan, unter unserer Haut, alle gleichfarbig sind. Der Rest ist ist bunt. Andersfarbig.

Ich bin übrigens blaßrosa. Dadurch durchaus priveligiert und trotzdem noch neidisch auf kleidsamere Pigmentierungen.

Schwierig. 

Arbeitsmöglichkeiten für Spieler in Farbe, PoCs, deren Eltern, Großeltern kürzlich oder irgendwann nach der Völkerwanderung zu uns gekommen sind, haben noch immer schlechtere Chancen auf Engagements. Und wenn sie denn besetzt werden, dann idiotischerweise nicht als Ärzte, Kfz-MechanikerInnen, MinisterInnen oder Hausfrau, nicht als Hamlet oder Julia, sondern bevorzugt in sozial problembezogenen Rollen mit Rassismusbezogenheit. 
Da ist es doppelt schön, dass ein Bekannter mit schöner dunkelbrauner Haut und viel Talent gerade den Götz von Berlichingen spielt!

Schwierig. 

Appropriation (lat. appropriatio, von appropriare, „erwerben, (sich) aneignen, zu eigen machen“) bezeichnet die Aneignung sowohl von Sachen, also den Erwerb eines Eigentums, als auch die Aneignung im philosophisch-geisteswissenschaftlichen Sinne, so definiert es Wiki. 

Vermischte Beispiele: Weiße Studenten in Oxford tragen Sombreros zu einer Tequilaparty. Kinder verkleiden sich zum Fasching als Indianer, Blackface auf deutschen Bühnen, junge nichtjapanische Frauen tragen Nachahmungen traditionelle japanische Kleider, weil sie die schön finden. Kulturelle Aneignung.

Idiotische Beispiele: Marlon Brando als Japaner in "Das Kleine Teehaus" oder Gylenhal einen Perser in einem anderen schlechten Film, Chop Suey ist etwa so chinesisch wie Kartoffelsalat und Neu-Köllner Rapper sind extrem unglaubwürdig als Gangsta.
Kulturelle Aneignung.

Böse Beispiele: Blackfacing in den Minstrelshows, zynische Karikaturen fremder Kullturen. Ungleichberechtigung in jeder Hinsicht. Kultureller Machtmißbrauch.

Schwierig. 

Kulturelle Aneignung. Diebstahl oder interessierte Neugier? Mißbrauch oder Gebrauch? Wo genau liegt der Unterschied? Wo verläuft die Grenze? Was wird wem weggenommen? Wird es dadurch in den gemeinsamen Schatz der Menschheit integriert? Wird es durch die Übernahme entwertet?

Schwierig.

Was ist hart erarbeiteter Erwerb von Wissen um Fremdes, was Freude an Schönheit oder Spiel mit Exotik und was selbstsüchtige Vermarktung?  

Schwierig. 

War es oder ist es dem Menschen überhaupt möglich, ohne kulturelle Aneignung zu überleben?

Die auf Umwegen nach Europa geratene Kartoffel stammt eigentlich aus Südamerika und ist heute ein Spitzname für Deutsche. Herr Jacob Davis und Herr Levi Strauss haben 1873 das Patent auf eine Arbeitshose angemeldet, die in unterschiedlichsten Ausfertigungen heute Körper aller Nationalitäten bekleidet. Ohne afrikanische, karibische Musik, gäbe es den Blues nicht, und ohne ihn keinen Jazz, der aber auch Elemente europäischer Tradition enthält. 

Ich würze mit Harissa, Chilli und Kreuzkümmel und auch Vietnamesen essen Burger. 

Die USA ist ein Gemenge von Leuten, die sich von einander alles angeeignet haben, sich unter den Nagel gerissen haben, was ihnen bei den anderen gefiel oder nützlich erschien.

Wobei natürlich soziale und poltische Macht dabei immer eine Rolle, und oft eine räuberische spielte. 

Schwarze Jazzer waren in vielen Musikklubs nicht zugelassen, aber die weißen, schicken New Yorker wanderten nach Harlem, um dort echte Musik zu hören.

Schwierig. 

Eines der Dinge, die ich an meinem Beruf liebe, ist, dass ich mich ständig mit mir neuen, bisher fremden Themen beschäftigen darf. 
Erst bei 45 Grad Celsius und hoher Luftfeuchtigkeit irgendwo in Georgia habe ich Tennessee Williams körperlich begriffen. Ein Schauspieler aus Malawi unterernährt und fleissig und voll Erstaunens ob unseres Winters hat mich erkennen lassen, wie eurozentrisch und narzistisch meine Vorstellung von Welt ist. 
Wie könnte es anders sein? Ich bin Europäerin, deutsche Europäerin mit jüdischen Wurzeln. Manche sprechen mir mein Judentum ab, weil ich Atheistin bin, andere irritiert meine Gottlosigkeit, weil sie selbst in Religion verankert sind. Ich hänge so dazwischen, zutiefst jüdisch in kultureller Tradition und Atheist aus Überzeugung.

Spielt mich doch. Versucht mich zu verstehen, mch euch anzueignen.


https://www.deutschlandfunk.de/debatte-ueber-theaterstueck-atlas-respektloses-verhalten.691.de.html?dram%3Aarticle_id=450986&fbclid=IwAR01Qn9XoxoKaoyb-sAPz_wGPXOx1vZJkLS7GDZQLrjXWjquopI8VLeaMI4

Sonntag, 9. Juni 2019

Gustave Caillebotte - Regen - Stadt - Menschen

In der Alten Nationalgalerie hängen jetzt in einem Saal im ersten Stock Bilder aus der Sammlung eines wohlhabenden französischen Mäzens, Förderers der Impressionisten und ihrer Ausstellungen. Gemälde von Monet, Manet, Renoir, Bonnard und anderen hat er gekauft und einige der Maler auch sonst finanziell unterstützt. Und Segelboote hat er konstruiert. 

Und er hat selbst gemalt. Manchmal hat er mitausgestellt, manchmal nicht. Wenige kennen seinen Namen.
  
Und er hat selbst gemalt. Und wie! Ja, wie eigentlich? Sicher impressionistisch geprägt, aber doch anders. Strenger, härter konturiert, sachlicher, photographischer, sehr sparsam im Gebrauch von Farben. Als wollte er versuchen nur das Wesentliche seines Gegenstandes erfassen, sein Eigentliches. Alles andere läßt er weg. 

Eins seiner Bilder beherrscht den Raum, Straße in Paris – Regenwetter, Rue de Paris, temps de pluie, gemalt 1877.

Georges-Eugène Haussmann hatte in einem gigantischen Gewaltakt, Paris den Wünschen Napoleon III. und seiner Vorstellung von einer modernen Stadt angepaßt, ganze Viertel, meist Wohngebiete der ärmeren Bevölkerung wurden niedergerissen, 150 Kilometer Strassen neugebaut, Haussmannisierung nannte man diesen Gentrifikationsschlag. Zentren möglichen Aufruhrs wurden nebenbei aufgelöst, die Armen zogen in die Randgebiete, die waren dann 1871 auch Ausgangspunkte der kurzen, gloriosen, blutig niedergeschlagenen  Revolution von 1871. 
Paris-Zentral wurde geometrisiert und den Anforderungen des neuzeitlichen Verkehrs angepasst. Klare Winkel, gerade Linien, klassizistische Wohnhäuser für den oberen Mittelstand. Ein Stadtzentrum für den Bürger der modernen Zeit. Weg mit der Enge, weg mit dem Dreck, weg mit dem Gewachsenen, Verwachsenen. 
Egon Friedell beschrieb das neue Paris in seiner wunderbaren Kulturgeschichte der Neuzeit so: Ein getreues Abbild des Zweiten Kaiserreichs: fassadenhaft, niederschreiend, künstlich und parvenühaft.

 
Straße in Paris – Regenwetter. Hier sitzen die Zylinder noch sicher auf den Köpfen.

Ein Platz von dem mehrere Strassen abgehen, sehr sauber gelegtes Kopfsteinpflaster, eines der Eckhäuser ragt wie ein Ozeandampfer von hinten ins Bild. Die Rue de Turin und die nach links abzweigende Rue de Moscou, auch ist die Rue Capeyron zu sehen.Die Laterne halbiert das Bild, rechts vorn staut es sich, ein Paar mit Regenschirm, beide schauen in dieselbe Richtung und ein Mann, der ihnen ungesehen entgegenkommt und seinen Regenschirm zur Seite schiebt, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, der dennoch unvermeidlich scheint. Der Ohrring der Dame, Perle oder Diamant, strahlt heller als irgendetwas anders im Bild.
Alle Regenschirme sind identisch. Die Menschen auch, bis auf den Ohrschmuck der Dame vorn rechts. 
Hinten regnet es, vorn sind Strasse und Schirme zwar nass, aber der Regen fehlt, weil er als gegeben angenommen werden kann, im hinteren Teil des Bildes erschafft die Unschärfe den Eindruck von fallendem Regen. Ganz hinten links läuft ein einzelner Mann ohne Regenschirm, geduckt ob der Nässe. Ein Mann mit Zigarillo, eine halbe Kutsche, mittelgroße und ganz kleine Schirme. Man läuft. Wohin?

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Jakob van Hoddis 1911

Alle Männer tragen im Bild einen Zylinder: Wiki schreibt: Populär wurde der Zylinderhut erst in den 1820ern, als er zum Hut des Bürgers avancierte, sogar zum Symbol des Bürgertums schlechthin: So weigerte sich Adolph Menzel bei der Verleihung des preußischen Adlerordens – umgeben vom uniformierten Hochadel – aus Bürgerstolz, seinen Zylinder abzunehmen. 
Was sehen die beiden großen Figuren im Vordergrund? 
Man ist wohl sehr einsam in einer großen Stadt, wenn es regnet. 
Ein Regenschirm hat eine Rundung, die eigentlich gegen harte Linien steht und doch selbst, in der Wiederholung diese verstärkt. 
Der Maler war zum Zeitpunkt der Entstehung 29 und ist mit nur 45 Jahren am Schlaganfall gestorben. Da hatte er fünfhundert Bilder gemalt, und unzählige Vorstudien präzis gezeichnet. 

Place Saint-André-des-Arts. c. 1865. 
© Charles Marville Marville/Musée Carnavalet/Roger-Viollet/The Image Works.
Ende der 1850er Jahre beauftragte die Stadt von Paris Marville, die alten Viertel der Stadt zu dokumentieren. Er fotografierte Neu- und Umbauten, aber auch viele alte Straßen und Gebäude vor ihrer Zerstörung.

Dienstag, 4. Juni 2019

Arrival - ein feiner Science Fiction Film




Denis Villeneuve hat Filme gedreht. Leider auch Bladerunner 2049, aber da hat ihn vielleicht das gigantische Vorbild gelähmt.

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Aber vorher eben, Sicario und Arrival, zwei Filme, die, was selten ist, um eine zentrale Frauenfigur zirkeln. Emily Blunt in Sicario und Amy Adams in Arrival. Beide haben unübliche, wunderschöne Gesichter, hochsensible, durchscheinende und beide strahlen scharfe Intelligenz aus. Ich kann ihnen beim Denken zugucken, der Regisseur läßt mir Zeit mit ihnen. Er schafft Ruhe inmitten von hoher Spannung, er zeigt die Situationen vor oder nach der "action", vor oder nach den Gemetzeln. Ich sehe, wie sie Probleme angehen, sie zu lösen versuchen und nur, wenn es wirklich notwendig wird, sehe ich ihre Erschöpfung, ihre Angst, ihre Trauer. 

Frauenfiguren in Theater/Film/Fernsehen wird oft die Darstellung von Emotionalität zugeteilt. Männer lassen mal, unter größtem Druck, was gucken, Frauen müssen ihre Gefühle wie schlecht verkäufliche Ware vor sich hertragen. 

Mutter, Hure, Jean D'Arc, Maria. Vater, Don Juan, Held, Verlierer. 

Wir leiden schweigend, er leidet kämpfend. Gewiss eine Vereinfachung, aber solche Arbeitsaufteilung gibt es, so scheint es mir in unseren Medien.

In Sicario und Arrival werden die männlichen Partner emotional überfordert und die Weiber stampfen stoisch voran, erschüttert, aber unaufhaltbar.

Da entwickelt sich gerade eine neue Erzählweise, "Killing Eve", "The Americans", "Captain Marvel", "Wonder Woman". Zornige Weiber. Böse Frauen. Schlaue Mädchen. Das gefällt mir. Pippi Langstrumpf wird erwachsen und wird unangenehm fordernd.

P.P.S. Nebenbei läuft im Fernsehen eine deutsche Liebeskomödie, SMS Für Dich, alle reden schnell, als ob man dann nicht merken würde, das die Dialoge toal unlustig sind. Manchmal spiele ich vor dem Fernseher bei solchen Filmen mit, und meine Trefferquote für die "richtige" Reaktion, Grimasse - Klischee 1 bis 17 - ist wirklich bedrückend hoch.