Sonntag, 10. September 2017

STELLA an der Neuköllner Oper

Gestern selber Premiere, heute Theaterbesuch. Ich kann scheinbar nicht genug kriegen. Ein Musical in der Neuköllner Oper - ich mag den Raum sehr, die Ernsthaftigkeit der Veranstaltungen, das sehr gemischte Publikum.

STELLA
Eine irrsinnige, deutsche Geschichte: Stella Goldschlag geboren 1922, Berlinerin, Modezeichnerin, eine lebenslustige Frau mit sängerischen Ambitionen, unfreiwillige Jüdin, Kollaborateurin der Nazis, verantwortlich für eine nicht sicher bestimmbare Zahl von Verhaftungen untergetauchter Juden. Ihr spezieller Trick war, bei Beerdigungen verstorbener arischer Ehegatten, den nun ungeschützten jüdischen Partner bei der Polizei zu denunzieren. Nach dem Krieg wurde sie von einem russischen Militärgericht zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Ließ sich taufen und war bekennende Antisemitin. Sie starb, nach dem Tod ihres fünften Ehemannes, durch Selbstmord im Jahr 1994.
Sie wurde unter furchtbaren Druck gesetzt, sie wollte überleben, sie hat weiter gemacht, als ihre Eltern & ihr Ehemann, mit denen sie erpresst wurde, schon ermordet worden waren, Verrat als Sucht, sie wurde das Blonde Gespenst vom Kudamm genannt.

Tolle Bühnenlösung, sehr wirkungsvolle Videotechnik, exzellente Sängerdarsteller, interessante Musik, teilweise schlauspitze Texte. Aber ganz erwischt hat's mich nicht. Wer weiß warum.
Eine irrsinnige, eine deutsche Geschichte.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13679866.html 

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13680169.html 

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13680607.html


Warum rechtest du mit Gott, da er doch keine seiner Taten zu verantworten hat? 
Buch Hiob

Ohne Verantwortung, keine Schuld.
Die Figur des Adolf Eichmann in "Stella" von Peter Lund & Wolfgang Böhmer an der Neuköllner Oper

Jeder einzelne soll sagen: Für mich ist die Welt geschaffen. Daher bin ich mitverantwortlich.
Babylonischer Talmud Sanhedrin 7

Der Begriff der Verantwortung bezeichnet nach verbreiteter Auffassung die Zuschreibung einer Pflicht zu einer handelnden Person oder Personengruppe gegenüber einer anderen Person oder Personengruppe aufgrund eines normativen Anspruchs, der durch eine Instanz eingefordert werden kann.
Das Wort Verantwortung ist eine Substantivbildung aus dem Verb verantworten. Das Verb bedeutet zunächst allgemein antworten, dann im Besonderen vor Gericht antworten, eine Frage beantworten und schließlich für etwas einstehen, etwas vertreten. Im reflexiven Sinn hat es im letzten Fall die Bedeutung sich rechtfertigen.
Das Verb verantworten entstammt dem mittelhochdeutschen verantwürten mit der ursprünglichen Bedeutung sich als Angeklagter vor Gericht verteidigen

Quelle: Wikipedia

Mittwoch, 6. September 2017

Eine wirklich gute Probe

Gestern hatte ich mir gewünscht, ich wäre Tischler geworden, 
oder würde gerade Urlaub in Polen machen, oder könnte mich in Luft auflösen, mich verkriechen, kurzzeitig versterben oder wenigstens nur icognito anwesend sein. Dass, was wir seit Wochen probieren, verwandelte sich vor meinen Augen in mageren Quark, trübe Suppe, zähen Brei. Meine besten Freundinnen waren da, zur Premiere haben sie keine Zeit, und zur Pause blickte ich in ihre liebevollen verzweifelten Gesichter, bemüht um Aufmunterung und unfähig welche zu geben. Ich murmelte meine verzweifelte Mantra von "Es tut mir leid!", "Es tut mir leid!", "Es tut mir leid!", habe gelitten, wie ein Schwein und meinen Mitarbeitern diese Erfahrung auch unmißverständlich mitgeteilt. Sie haben es mit Würde entgegengenommen.

Bertolt Brecht
Nanas Lied

Gottseidank geht alles schnell vorüber
Auch die Liebe und der Kummer sogar.
Wo sind die Tränen von gestern abend?
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?


Heute ist alles anders. Meine hartarbeitenden Spieler sind durch unser gräßliches gestrige Tal der Tränen gegangen und klar, konzentriert und wild daraus aufgetaucht, um heute einen wunderbaren Durchlauf hinzulegen. Wie machen die das? Ich war selber Spieler, da konnte ich das auch. Heute erlebe ich es wie ein Geschenk.

Francois Villon
Ballade der Frauen von einst

Sagt mir, in welchem Land
ist Flora, die schöne Römerin,
Alkibiades und Thaïs,
seine Kusine,
Echo, die spricht, wenn man Lärm macht
auf dem Fluss oder dem Teich,
und die von übermenschlicher Schönheit war? 
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?
 
Wo ist die äußerst weise Heloïse,
für die entmannt und später Mönch ward
Petrus Abaelardus in Saint Denis?
Für seine Liebe litt er solche Pein.
Wo ist gleichermaßen die Königin,
die befahl, dass Buridan
in einem Sack in die Seine geworfen wurde?  
Und wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

Die Königin Lilienweiß,
die mit Sirenenstimme sang,
Bertha vom großen Fuß, Béatrix, Aélis,
Eremberg, die das Maine besaß,
und Jeanne, die gute Lothringerin,
die die Engländer in Rouen verbrannten.
wo sind sie, wo, hehre Jungfrau?
Doch wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

Prinz, frage nicht in einer Woche,
wo sie sind, nicht dieses Jahr!
Uns bleibt nur dieser eine Reim:
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?
 

Samstag, 2. September 2017

Josef Koudelka - Prag 1968

PRAG IM JAHR 1968

"Schlagartig haben sowjetische Truppen, Verbände der ostdeutschen Volksarmee, Polens, Ungarns und Bulgariens in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 die Tschechoslowakei besetzt" 
 
In DIE ZEIT vom 23. August 1968

 Czechoslovakia, negative 1968

 Czechoslovakia, negative 1968

 Czechoslovakia, negative 1968

Josef Koudelka in Boskovice 1938 in Tschechien geboren, studierter Luftfahrtingenieur, begann 1960, als Theaterphotograph zu arbeiten. Bis zum August 1968 hatte er keinerlei tagespolitische Arbeiten veröffentlicht. Dann marschierten, zum zweiten Mal zu seinen Lebzeiten, fremde Armeen in sein Land ein und er 

 Czechoslovakia, negative 1968

 Czechoslovakia, negative 1968

I’m not a very courageous man. These pictures I did not do because I have got a big courage, but because it was an extreme situation. And something got out of me, maybe what was the best of me. And it was not only my case. It was the case of most of these people who were on the street. We were not thinking, we were working. I never photographed the news before. I was never in a situation like that. When my girlfriend woke me up and said, “The Russians are here,” I couldn’t believe it. I picked up the camera to go take pictures, and there were so many things happening around me. Pictures were everywhere. So I did these pictures not to be published…I developed these pictures probably one month or two months later...So everything that happened after was just by chance.

Ich bin kein sehr mutiger Mann. Diese Bilder habe ich nicht gemacht, weil ich großen Mut habe, sondern weil die Situation extrem war. Und etwas arbeitete aus mir, wahrscheinlich das Beste in mir. Und das traf nicht nur für mich zu. Es war so bei den meisten Leuten, die auf den Strassen waren. Wir dachten nicht nach, wir arbeiteten. Ich hatte noch nie Nachrichten photographiert. Ich war noch nie in einer Situation wie dieser. Als meine Freundin mich weckte und sagte, "Die Russen sind hier," konnte ich es nicht glauben. Ich nahm meine Kamera, um Bilder zu machen, und überall passierten so viele Dinge. Bilder überall. Also ich habe diese Bilder nicht gemacht, um veröffentlicht zu werden...Ich entwickelte einige davon vielleicht einen oder zwei Monate später...Alles was danach passierte war Zufall.
 
Josef Koudelka in einem seiner seltenen Interviews 
veröffentlicht in Look3
 
 Czechoslovakia, negative 1968

Czechoslovakia, negative 1968

Czechoslovakia, negative 1968

WIKI schreibt: Diese Fotografien wurden ursprünglich heimlich aus der CSSR an Elliott Erwitt, den damaligen Präsidenten der Fotoagentur Magnum, weitergeleitet und zum ersten Jahrestag der Invasion 1969 durch die Agentur in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht. Zum Schutz Koudelkas und seiner Familie schrieb die Agentur seine Bilder einem „unbekannten Fotografen“ zu. Der Overseas Press Club verlieh dem „anonymen tschechischen Fotografen“ im gleichen Jahr seine Robert Capa Gold Medal. Da die Urheberschaft aber von der tschechoslowakischen Polizei leicht aufzudecken gewesen wäre, entschloss sich Koudelka 1970 von einer Reise nach Westeuropa, wo er das Leben der Roma auf Einladung von Magnum dokumentieren sollte, nicht wieder in seine Heimat zurückzukehren...Erst 1984 bekannte Koudelka sich öffentlich zu seiner Urheberschaft. In der Tschechoslowakei wurden seine Aufnahmen erstmals 1990 in einer eigenständigen Beilage der Zeitschrift Respekt veröffentlicht.
 
 Alle Bilder © Josef Koudelka/Magnum Photos
mit einer „Exakta“-Kamera aufgenommen


Donnerstag, 31. August 2017

Ein Traum & ein Albtraum

Ein Freund von mir hat einen Traum: der Louvre wird, nur für ihn, eines Nachts geöffnet werden, kein Mensch außer ihm schaut. Er und "seine" Bilder sind allein miteinander. Der "Da Vinci Code" ohne Leichen, Tom Hanks und religiöse Verschwörungstheorien, ein einsamer und darum vollkommener Genuß.

Diesen Traum habe ich vom Prado in Madrid, dem Kellergeschoß, wo die "Schwarzen Bilder" von Goya hängen. Niemand quatscht, keiner potographiert, die Sicht ist frei, ohne Reflexion von Tageslicht. Keiner latscht ins Bild. Es ist still. Ich habe Zeit für "meine" Bilder: den ertrinkenden Hund; den Esel, der, während der Riese über das Land wütet, stille steht; die einander erschlagenden Brüder. Bei meinem Besuch vor einigen Jahren zur üblichen Öffnungszeit sächselte ein Reiseleiter durchdringend, dass ihm bei diesen Bildern regelmäßig ein kalter Schauer über den Rücken liefe. Recht hat er, aber ich wollte es nicht hören.

Einmal hatte das Pergamon Museum für eine vielbesuchte Ausstellung länger geöffnet und durch einen glücklichen Zufall war die Meldung darüber nicht rechtzeitig an die Presse gelangt. Da lief ich dann, allein durch das Istar-Tor und am Pergamon-Altar vorbei, allein, in halberleuchteten Räumen, wie zurückversetzt, meine Phantasie hatte Freilauf.

Nun zum heutigen Thema: ein Bekannter, Elementarteilchenphysiker, schon der Titel klingt für mich unglaublich romantisch, besuchte eine Konferenz in Paris, Stephen Hawking würde sprechen. Die Differenz zwischen Mann und computergenerierter Stimme, dem eingeschränkten Körper und seiner digitalen Äußerung ist verwirrend, ändert aber nichts an der aufregenden Intelligenz des Redners. Später essen einige Konferenzteilnehmer gemeinsam zu Abend. Ein Anruf. Für Hawking hat der Louvre nachts seine Türen geöffnet, die Konferenzteilnehmer werden eingeladen, teilzunehmen. 
FAST ALLEIN - IM LOUVRE - DES NACHTS.


Im Louvre vor dem Floß der Medusa, nachts um halb elf. Links und rechts
von Hawking seine beiden Postdocs/Betreuer. Den Mann rechts davon im
weißen Anzug deckt schon ein Jahr lang der Rasen (er ist am 25.8.2016
gestorben): Jim Cronin, Nobelpreis 1980 für die Entdeckung der
CP-(Charge-Parity) Verletzung. Und auch der junge rechts davon, Pierre
Binetruy, ebenfalls ein wunderbarer Physiker, ist inzwischen tot. Nur
Steven Hawking lebt unverdrossen weiter -- und wird wahrscheinlich auch
mich noch spielend überleben.
C.S.


DAS FLOSS DER MEDUSA 
von Théodore Géricault, 1819



WIKI schreibt dazu: 1816 hatte England die während der Napoleonischen Kriege besetzte westafrikanische Kolonie Senegal an Frankreich zurückgegeben. Dies war für die französische Regierung der Anlass, vier Fregatten mit Infanteristen zum Schutze des überseeischen Besitzes sowie Verwaltungsbeamten und Forschern nach Afrika zu entsenden. Die Fregatte Méduse gehörte diesem Konvoi an. Unter den annähernd 400 Personen an Bord des Schiffes befand sich auch der neue Gouverneur des Senegal, der Royalist Julien-Desiré Schmaltz. Die Medusa stand unter dem Kommando des Kapitäns Hugues Duroy de Chaumareys, der, vor Napoleon geflohen, seine Karriere nicht auf See, sondern 25 Jahre lang in Emigrantensalons von Koblenz und London gemacht hatte. Nachdem das Schiff auf Grund gelaufen und das Wiederfreikommen misslungen war, befahl Kapitän de Chaumareys den Bau eines Floßes aus den Masten und Rahen der Medusa, da für die 400 Menschen an Bord nur sechs Boote vorhanden waren. Das Floß mit den beachtlichen Ausmaßen von 8 × 15 Meter musste 149 Menschen aufnehmen. Die Boote sollten das Floß an Land ziehen. Nach kurzer Zeit kappte man die Seile. Auf dem Floß brach schnell Kannibalismus aus, so dass nur noch 15 Personen gerettet werden konnten, von denen dann jedoch fünf weitere starben.

Freitag, 25. August 2017

Ein merkwürdiger Vorgang in Bremen

Wir probieren von zehn bis vierzehn Uhr. Wie gewöhnlich. Eine mittlere Probe, hilfreich, nichtgroßartig, aber hilfreich. 
Am Nachmittag verziehe ich mich mit meiner persönlichen Matratze in irgendeinen freien Raum und schlafe. Gott oder meine DNA oder was auch immer hat mir die Gabe des Schlafes an jedem beliebigen Ort, zu jeder Zeit, unter welcher Beschallung auch immer geschenkt. Auch im Stehen, wenn nötig. Eine Stunde Tiefschlaf - meine Wunderwaffe vor der Abendprobe. 
Als ich wach werde, höre ich auf dem Theater-, sic Schulhof Gebrüll, keinen Streit, nur überlautes Gespräch. Mehrere nüchterne Männer bieten einem überhaupt nicht nüchternen Mann Hilfe an, er verweigert sich. Die nüchternen Männer gehen. Der Trunkene bleibt zurück.
In der nun folgenden Stunde darf ich Slapstick in seiner reinsten und traurigsten Form erleben. 
Der Mann und zwei Basecaps, ein Rucksack, zwei große vietnamesische Plastiktüten, in einer befindet sich ein Computer, und ein Fahrrad wollen, müssen irgendwo hin. Der Geist ist willig, aber die Dinge eigen. Sie verschwören sich, entwickeln eigene Interessen. Zwischen dem Mann, seinen Mützen, seinem Rucksack, seinen Tüten und seinem Fahrrad beginnt ein hochkonzentrierter, erbarmungsloser Kampf um die Vorherrschaft. 
Es beginnt harmlos. Der Mann sucht etwas in seinem Rucksack, vermutlich, dem vorhergehenden Geschrei zufolge, Zigarettenpapiere. Sie liegen, natürlich, ganz unten. Beim Wiedereinpacken erweist sich der Rucksack als kleiner als noch Minuten zuvor, der Reißverschluß läßt sich nicht mehr schließen, kein Problem, der offene Rucksack wird umgeschnallt, die Zigarette gedreht, das Feuerzeug - ist nicht zu finden, kein Problem, er wird später rauchen, die Zigarette verschwindet in der Jackentasche, eine Mütze zuviel? Die zweite wird auf die sich schon auf seinem Kopf befindliche gestülpt. Ein neuer Trend? Jetzt müssen die zwei Plastetüten auf dem Fahrrad gesichert werden. Ratzfatz. Los! 
Tüte zwei fällt, er beugt sich zu ihr herunter, der Inhalt des Rucksacks fällt über seinen Kopf, er stolpert über das Fahrrad, Tüte eins fällt nun auch, die Zweitkappe ebenfalls, er folgt seinem Besitz, liegt flach. Eine Stunde lang widerholen sich in Variationen diese Vorgänge, punktiert durch tragödische "WARUM?"- Ausrufe und längere Gespräche mit seinem sich ihm widersetzenden Fahrrad.
Der Mann war blond und schmal, vieleicht dreissig, vielleicht viel älter. Ich weiß nichts über ihn. Er tat mir leid und ich konnte doch nicht aufhören, ihm bei seinem verzweifelten Kampf gegen seine unvermeidliche Niederlage zuzuschauen. 

Sicherer Untergang und Immerwährende Hoffnung.
Schadenfreude und Mitgefühl. 
Das Ausgangsmaterial jeder guten Komödie.

Dienstag, 22. August 2017

Ein Dorf spielt Theater - Ötigheim

Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des Andersseins als das gewöhnliche Leben."
Huizinga Homo Ludens

DIE VOLKSSCHAUSPIELE VON ÖTIGHEIM

Am Samstag transportierte mich die Deutsche Bahn von Berlin nach Ötigheim im Schwarzwald, sie tat es, wie meist, mit Mühe und Verspätung, denn Vandalen hatten in Brandenburg Kabel verbrannt, und Ingenieure hatten bei Rastatt, während sie einen Tunnel graben sollten, die darüber liegenden Gleise zum Einsturz gebracht. Ach, die Bahn. Irgendwas ist immer.
Ich erreiche den Ort mit Müh und Not, in meinen Armen... war, Gott sei Dank, kein Kind. 

Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.


(Mein Vater hat das Gedicht, als eine Allegorie über Kindesmißbrauch gelesen, seitdem liebe und fürchte ich es.)


Ötigheim. Vor einer gigantischen 200 Meter breiten Bühne, mit zwei unterschiedlich hohen Hügeln links, einem kleinen See daneben, zwei stabil wirkenden Häusern rechts und einer massiven Burgattrappe in der Mitte, sitzen 4000 meist ältere Menschen und schauen den "Sommernachtstraum". Ein kleines Stück für diesen Ort. 
Der Darsteller des Zettel war großartig, ehemaliger Bankkaufmann, jetzt Rentner und seit seinem sechzehnten Lebensjahr mit den Spielen zutiefst verbunden.
100 000 Besucher pro Jahr kommen jeden Sommer hierher! 
Ötigheim hat um die 4400 Einwohner, von denen 1600 ehrenamtlich bei den Volksschauspielen mitarbeiten, als Spieler, Einlaßpersonal, als Tänzer, Sänger, Maskenbildner, Techniker, Gardrobieren und jeder anderen Tätigkeit, die einen Theaterabend ermöglichen. 
Kinder haben in Ötigheim die Wahl zwischen unzähligen Vereinen, dem Chor und den Tanzgruppen und der Instrumentalmusik, dem Karnevalsverein oder dem Blasorchester. Dieser Ort hat kein Problem mit der Landflucht.
Mit wem ich auch spreche, ein ernsthafter und glaubwürdiger Stolz schwingt in den Stimmen, wenn sie über ihr Theater sprechen. 
Einer Führung durch das barocke Rastatt, voll widersprüchlicher badischer Geschichte, folgt eine Nachmittagsvorstellung von Felix Mitterers "Luther". Rebekka Stanzel hat eine gute Hand für die Organisation von klaren Bildern. Bedrohliche Patrouillen reiten vorbei, Kutschen und Karren deuten auf soziale Spannungen, Statistengruppen wissen was sie tun. Das alles bei Tageslicht ohne die Hilfe der atmosphärischen Möglichkeiten, die die Nacht und künstliches Licht bieten.
Ein schönes Wochenende. Hier wird in kindlicher, aber nicht kindischer Weise, gespielt. Das ist die Essenz dessen was wir tun.

Wiki bietet eine klare Definition:
Spiel (von althochdeutsch: spil für „Tanzbewegung“) ist eine Tätigkeitsform, Spielen eine Tätigkeit, die zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung, aber auch als Beruf ausgeführt werden kann. Es ist eine Beschäftigung, die oft in Gemeinschaft mit anderen vorgenommen wird. Ein Großteil der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung von motorischen Fähigkeiten sowie soziale Kompetenz findet durch Spielen statt, beim Menschen ebenso wie bei zahlreichen Tierarten.


SWR Dokumentarfilm „Das Wunder von Ötigheim – Ein Dorf spielt Theater" https://www.swr.de/unternehmen/kommunikation/10-oetigheim-ein-dorf-lebt-fuer-die-buehne/-/id=10563098/did=18798438/nid=10563098/x5s58x/index.html 

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96tigheim nn

Freitag, 18. August 2017

Berlin ... Nizza ... Hamburg ... Barcelona ... Turku ...

WIKIPEDIA SAGT ZU TERROR:

Der Terror (lat. terror „Schrecken“) ist die systematische und oftmals willkürlich erscheinende Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt, um Menschen gefügig zu machen.

In meiner Jugend schien mir Terror etwas unfaßbar Großes und Furchtbares, die Hexenverfolgung, die katholische Inquisition, der Terror der Nazis, der stalinistische Terror, das Terrorregime der Khmer in Kambodscha.

Heute erweckt das Wort andere Bilder:
Ein Lastkraftwagen, ein Mann, eine Wut - das reicht für terroristischen Mord.
Ein Messer, ein Mann, eine Wut - reicht auch.

IST DAS ETWAS NEUES?

Die Täter müssen keiner Organisation angehören. Niemandem Bericht erstatten. Sie sind selbstständige Aggressoren. 
Die Sicherheitsorgane der jeweiligen Staaten können sie nur schwer früh genug erkennen. Ihre hochtechnisierten Vorsichtsmaßnahmen scheitern an der Unauffälligkeit der Mörder. Videoüberwachung, Datenspeicherung - notwendig, wenn auch furchteinflößend - brechen unter der Last der riesigen Datenmengen in die Unwirksamkeit zusammen.
Eine imaginierte Möglichkeit. Ein Mann ist bedeutungslos, arbeitslos. Ein Mann ist wütend auf seine Frau, die ihn verlassen hat, weil er sie schlägt. Ein Mann ist Muslim. Ein Mann will seiner Frau wehtun, aber das wäre zu klein, zu armselig. Er will gesehen werden, aufallen in seiner Not. Er tötet wildfremde Menschen im Namen seines Gottes. Er wird zum Märtyrer. Sein Leben ist etwas wert. Es braucht nur einen Anruf bei Hertz, Sixt, Rentacar. Selbstmord ist einsam. Massenmord ein Politikum.
Wir alle sind sterblich. Die meisten von uns wollen nicht vor der unvermeidbaren Zeit sterben. Manchmal erwähnen wir ironisch den Ziegelstein, der uns jederzeit auf den Kopf fallen könnte. Jetzt ist ein unbekannter, muslimischer Mann zu diesem Ziegelstein geworden. 
Ich werde im November nach Ägypten fahren. Viele schauen besorgt drein, wenn ich das erzähle. Aber warum? Ein Supermarkt in Hamburg, ein Weihnachtsmarkt in Berlin, eine Einkaufsstrasse in Barcelona ... Das Beunruhigendste ist, das wir in eine Grundpanik versetzt werden. Wir beginnen anders auf die Welt um uns herum zu schauen. Ängstlich, nervös, mißtrauisch.
Ich will das nicht. Aber was habe ich dem entgegenzusetzen?

Mohamed Lahouaiej Bouhlel der mörderische Terrorist von Nizza. 
Ein Mann der badet. Ein Mann in Jeans.

WIKIPEDIA ZU AMOK:

Amok von malaiisch amuk „wütend", „rasend"
https://de.wikipedia.org/wiki/Amok 
Kulturgebundenes Syndrom
Sowohl das DSM-IV als auch das ICD-10 führen Amok unter den kulturgebundenen Syndromen aauf. Das DSM-IV definiert Amok als eigene psychische Störung: „Eine dissoziative Episode, die durch eine Periode des Grübelns charakterisiert ist, auf die ein Ausbruch gewalttätigen, aggressiven oder menschengefährdenden Verhaltens folgt, das sich auf Personen und Objekte richtet“. Im Gegensatz zum DSM-IV empfiehlt das ICD-10 die Einordnung von Amok in das bestehende System unter Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen im Kapitel 6 (F68.8). Amok wird im Anhang II zum ICD-10 (Forschung und Praxis) für Indonesien und Malaysia aufgeführt und wie folgt beschrieben: „Eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens, gefolgt von Amnesie oder Erschöpfung. Viele Episoden gipfeln im Suizid“. Die Betrachtung des Phänomens Amok als kulturgebundenes Syndrom ist jedoch umstritten, denn es lassen sich weltweit Taten beobachten, die ähnliche Auslöser, Abläufe und Opferkonstellationen aufweisen. Außerdem wird in der neueren Literatur Amok nicht selbst als psychische Störung begriffen, sondern es werden andere psychische Störungen genannt, die eine solche Tat möglicherweise begünstigen.

Donnerstag, 17. August 2017

EIN TAG

EIN TAG

Auf einer Pressekonferenz faselt und fuchtelt der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika über die Vorkommnisse in Charlottesville, als gäbe es keinen Unterschied zwischen Rassismus und dem Protest gegen ihn. 

In der Berlinischen Gallerie kann man John Bocks Film Hells Bells ganzkörperlich erleben. 
 © Martin Sommer

Berlins allerbester HNO-Arzt gibt meinen Stimmbändern ein freundliches OK.

Der Tod der Schauspielerin Miriam Goldschmidt wird gemeldet.

Auf Barcelonas Boulevard Las Ramlas rast ein Mann mit einem Kleinlaster mitten in die flanierenden Menschen, tötet viele, verletzt noch mehr.


EIN TAG.

Weiße, bigotte  Männer mit pseudoarchaischen Partyfackeln skandieren marschierend irrwitzige Chöre, "You/Jews will not replace us!, "Ihr werdet uns nicht verdrängen! Juden werden uns nicht verdrängen!" Hitlergrüße werden ausgetauscht, das gute alte Hakenkreuz auf wehenden Flaggen, KKK prangt auf durchgeschwitzten T-Shirts. Diese Leute sind nicht plötzlich da, es gibt sie schon lang, sie hielten sich nur bedeckt, jetzt wittern sie Morgenluft. Ein guter Tag für ihren Hass, ihre Minderwertigkeitskomplexe, ihre Angst, ihr Ignoranz ist gekommen. Einer dreht derart durch, dass er sich der neuesten Terrormethode bedient und sein Auto in die Gegendemonstration fährt. Eine junge Frau wird von ihm getötet.  Originaltext Donald Trump: "Fine people on both sides." David Duke, Chef des Ku-Klux-Klans, bedankt sich für diese Worte herzlich bei ihm, Trumps jüdischer Schwiegersohn meldet sich nicht zu Wort, die anwesenden Medienvertreter, von Donald durchweg als Lügenpresse betitelt, protestieren nicht laut genug, entgeistert. 

Höllenglocken von John Bock, der Name haut hin. Was unter dem vibriert was Hieronymus Bosch malte. Barocker Überfluß an dinglichen Erfindungen, mehr irritierende Details, als ich erfassen konnte, Lichtstimmungen in graublau. Ein surrealer Spaghettiwestern durchmischt mit Horrorfilm-Elementen und eingem an Tarkowski von einem hochprofessionellen Kind in Szene gesetzt, dessen Hirn eine Überfülle von Ideen, Assoziationen, Bebilderungen zur Verfügung stellt. Eidinger, Beglau, Seppeler sind großartig, die Geschichte glasklar, die Dialoge mir meist unverständlich. War aber gut so. Verstörend.

Barcelona. Was kann ich sagen? 

Queen & Montserrat Caballe - Barcelona 

Mittwoch, 16. August 2017

Hähnchen mit karamelisierten Zwiebeln und Kardamomreis

Wieder aus dem "Jerusalem" Kochbuch von Ottolenghi & Tamimi, wieder ein Rezept auch für Anfänger, wieder sehr lecker!

EINKAUF:
Hühnerschenkel
Basmatireis
Zwiebeln
Berberitzen oder Korinthen
Dill, Petersilie, Koriander
Zimtstangen
griechischen Jogurth
(Olivenöl, Kardamom, Nelken, Pfeffer, Salz, Zucker)

ZEIT:

Etwa eine Stunde.

ZUTATEN:
 
Berberitzen kenne ich erst seit kurzem und bin geradezu süchtig geworden. Es sind kleine rötliche getrocknete Beeren, die leicht sauersüß schmecken. Etwa 30 Gramm müssen in etwas heißem Wasser, das mit Zucker aufgekocht wurde, eingeweicht werden. Aber Korinthen tun es auch.

Zwei mittelgroße Zwiebeln dünn schneiden und 10 Minuten bei mittlerer Hitze in Öl bräunen.

3 oder 4 Hühnerbeine mit etwas Olivenöl, Salz, Pfeffer, 4 Nelken, Kardamom nach Geschmack und zwei halbierten Zimtstangen in einer Schüssel herumwälzen, bis sie über & über ölig und mit Gewürzen bedeckt sind. Dann auf beiden Seiten 5 Minuten scharf anbraten.

In einer großen Deckelpfanne 300 g Basmatireis mit den Zwiebeln & den Berberitzen/Korinthen verrühren, die angebratenen Hühnerkeulen auf die Masse legen und 550 ml kochendes Wasser aufgießen. Deckel drauf und 30 Minuten bei kleiner Hitze köcheln lassen, nach 20 Minuten gucken, ob noch kochendes Wasser dazu muß. Die Pfanne vom Feuer, Deckel ab, Handtuch über die Pfanne, Deckel wieder drauf und mindestens 10 Minuten ruhen lassen.

Derweil Dill, Petersilie & Koriander hacken und griechischen Jogurth bereitstellen.

ESSEN! 

 Das Photo ist von der Cooking Seite der New York Times

Sonntag, 13. August 2017

Das Buch der Bücher - Eine Radikalisierung

Ich habe viel Zeit dafür gebraucht, aber jetzt kann ich es mit Gewißheit sagen: ich bin Atheist. Ohne Gott. Ich bin sicher, es gibt keinen Gott. Und wenn es einen geben sollte, lehne ich ihn ab und will ihn nicht einmal kennenlernen. 
Stephen Fry hat es auf den Punkt gebracht: "Warum soll ich einen launischen, boshaften, dummen Gott respektieren, der eine Welt voll von Ungerechtigkeit und Schmerz erschaffen hat?"... Wenn er, Fry, vor der Himmelspforte stehe. Dieser darauf: "Ich würde sagen: Knochenkrebs bei Kindern? Was soll das? Wie kannst du es wagen?"

Seit mehr als einem halben Jahr stammen mindestens die Hälfte der Sätze, die ich lese, aus der Bibel, genauer dem Alten Testament, oder, wie es meine Leute nennen, dem Tanach. Das hat mich verändert.

Die Geschichten in diesem Buch sind lebendig, gewalttätig, leidenschaftlich, unfassbar, brutal, herzerschütternd, atemberaubend, wahr. Als Gelenke dazwischen seitenlange Genealogien, von denen ich erst jetzt begreife, dass sie unsere Verwurzelung ineinander besingen. Von den ersten Menschen irgendwo in Afrika oder anderswo bis zu mir und dir und ihm und ihr.

The DNA Journey

Und Adam zeugte Söhne und Töchter. Und alle Tage Adams, die er lebte, betrugen 930 Jahre, dann starb er. Und Set zeugte Enosch. Und Set lebte 912 Jahre, und er zeugte Söhne und Töchter, dann starb er. Und Enosch zeugte Kenan und er lebte 905 Jahre und zeugte Söhne und Töchter, dann starb er. Und Kenan zeugte Mahalalel. Und Mahalalel zeugte Jered, Jered Henoch, Henoch Metuschelach, Metuschelach Lamech. Und Lamech zeugte einen Sohn. Und er gab ihm den Namen Noah, indem er sagte: Dieser wird uns trösten über unserer Arbeit und über der Mühsal unserer Hände von dem Erdboden, den der Herr verflucht hat. Und Noah war 500 Jahre alt; und Noah zeugte Sem, Ham und Jafet. Sem, Ham und Jafet.
So weit, so gut.

 Königin Máxima der Niederlande betrachtet ein Gemälde von Rembrandt in der Alten Pinakothek in München.

Die Sprache ist je nach Übersetzung ideologisiert, poetisch oder ungelenk, von kleinauf symbiotisch eingeimpft oder irritierend fremd. Buber & Rosenzweig von grandioser Wortgewalt, aber zumindest für mich, teilweise, nahezu unverständlich. Die Einheitsübersetzung ist klar, aber auch simplifizierend und gewollt modern. Konkurrenzkampf der Übersetzungen?
Wir schlingern in unserer Arbeit zwischen der Elberfelder und der Schlachterbibel hin und her. Die Züricher taucht hier und da auf. Alles christliche Varianten. Leider. Aber über alle Beschäftigung legt sich Ideologie, Urteil, Abgrenzung, Rechtfertigung, Definitionsmachtansprüche (Neues Wort!) und Hass gegen Andersdenkende. 
Väter sind bereit, ihre Söhne zu opfern, Mütter gebären um die Wette in haßerfülltem Konkurrenzkampf, Vergewaltigungen, Eroberungen, Ungerechtigkeit und Machtgier. Gott offeriert Sonderverträge, wütet maßlos, giert nach Liebesbeweisen, hält sich raus, mischt sich ein, bevorzugt, verurteilt, meist ohne jedwede nachvollziehbare Regeln.

Zum Beispiel: Gott schenkt den Nachkommen Abrahams das Land Kanaan, nur wohnen dort leider schon andere Leute. Egal.
5. Mose 6, 10 -11Dann wird er (G'tt) dir geben, große, schöne Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser alles Guten voll, die du nicht gefüllt hast, und gemeißelte Brunnen, die du nicht gehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast; und du wirst essen und satt werden.
5. Mose 20, 10-18: Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat, damit sie euch nicht lehren, alle Gräuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren Gott, sündigt.  
Das Buch ist wahrhaftig, die Auslegungen, welcher Religion auch immer, unerträglich. 
Ja, so sind wir. Aber warum sollte ich dafür Gott dankbar sein, ihn lieben?