Mittwoch, 27. April 2016

Albert Camus - Die Krise des Menschen - 1946

Ende März 1946 hielt Albert Camus einen Vortrag an der Columbia University in New York: Unter dem Titel »The Human Crisis« erschien die englische Übersetzung des Vortrags im selben Jahr in der New Yorker Zeitschrift Twice A Year. Das französische Original gilt als verschollen, so dass die Pariser Nouvelle Revue Française 1996 eine Rückübersetzung veröffentlichen musste, die Faust-Kultur hier erneut veröffentlicht.
100. Geburtstag von Albert Camus am 7. november 2013

Die Krise des Menschen

Von Albert Camus
Lassen Sie mich zuerst den Standort meiner Generation bestimmen. Die Menschen meines Alters wurden kurz vorm oder im Ersten Weltkrieg geboren, durch­leb­ten ihre Jugend in der Welt­wirt­schaftskrise und waren etwa zwanzig, als Hitler an die Macht kam. In Europa und Frank­reich erhielten sie zur Abrundung ihrer Bildung den Spanischen Bürgerkrieg, München, den Kriegs­aus­bruch 1939, die Nie­der­lage und vier Jahre Besatzung und Widerstand. Das dürfte gemeint sein, wenn man diese Generation als interessant bezeichnet. Deshalb dachte ich, dass nicht ich nur in meinem Namen zu Ihnen sprechen sollte, sondern im Namen von Franzosen, die heute dreißig Jahre alt sind und deren Hirne und Herzen sich in jenen furchtbaren Jahren gebildet haben, als sie und ihr Land sich von Schande nährten und lernten, nicht mehr mitzumachen.
Ja, eine interessante Generation ist es, vor allem deshalb, weil sie angesichts der absur­den Welt, die ihnen hinterlassen worden war, an nichts glaubte und in der Revolte lebte. Die Li­te­ratur ihrer Zeit revoltierte gegen Klarheit, Erzählung und sogar gegen den Satz. Die Malerei verwarf den Gegenstand, die Wirklichkeitstreue und sogar die Proportion. Die Musik schaffte die Me­lo­die ab. Die Philosophie schließlich lehrte, dass es keine Wahrheit gebe, son­dern nur Phänomene: dass es Mister Smith, Monsieur Durand und Herrn Vo­gel geben mochte, aber nichts diesen drei Ein­zel­phä­no­me­nen Gemeinsames. Die moralischen Vorstellungen dieser Ge­ne­ration gingen sogar noch weiter: Nationalismus hielt sie für über­leb­t, Religion für Flucht; die fünfundzwanzig Jahre politi­sches Weltgeschehen ­hatten sie gelehrt, jede echte Über­zeu­gung in Zweifel zu ziehen und zu mei­nen, dass nie­mand Unrecht habe, da jeder Recht haben könne­. Was die traditionelle Moral unserer Gesellschaft anbelangte, so war sie, was sie noch immer ist: eine mon­strö­se Heuchelei.
So verneinte diese Generation alles. Das war an und für sich nichts Neues. Andere Gene­ra­tio­nen in anderen Ländern hatten dieselbe Erfahrung in anderen Epochen gemacht. Neu war nur, dass Menschen, die allen Wertsetzungen entfremdet waren, sich zu einer Welt verhalten mussten, in der Mord und Terror herrschten. Die Widersprüche, in die sie dabei gerieten, waren so grau­sam, dass sie auf eine Krise des Menschen überhaupt schlossen. Sie traten in den Krieg ein, wie man in die Hölle eintritt, wenn es denn wahr ist, dass die Hölle die Verneinung von allem ist. Sie, die weder Krieg noch Gewalt suchten, mussten den Krieg mitmachen und Gewalt ausü­ben; sie, die nichts hassten als den Hass, mussten dessen strenge Disziplin lernen. In offenem Ge­gen­satz zu sich selbst, ohne jede Anleitung durch überlieferte Werte, hatten sie die schwersten menschli­chen Konflikte auszuhalten. So ist da auf der einen Seite diese besondere Generation, die ich eben beschrieben habe, und auf der anderen eine Krise von weltweiten Ausmaßen, eine Krise des Gewissens, die ich jetzt so klar wie möglich charakterisieren möchte.
Statt sie allgemein zu beschreiben, möchte ich sie durch vier kurze Geschichten illustrieren, Geschichten aus einer Zeit, die die Welt zu vergessen anfängt und die doch noch in unseren Herzen brennt.
1) In einer europäischen Hauptstadt findet die Hausmeisterin in einer von der Gestapo gemieteten Wohnung morgens zwei in der Nacht Verhörte vor, noch blutend und gefesselt; sorg­fäl­tig richtet sie den Raum wieder her – guter Dinge, sicher kommt sie gerade vom Früh­stück. Als einer der gefolterten Männer ihr Vorhaltungen macht, empört sie sich: “Ich mische mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten meiner Mieter ein.”
2) In Lyon wird einer meiner Genossen zum dritten Verhör aus der Zelle geholt. Bei einem der beiden ersten Verhöre sind ihm die Ohren zerfetzt worden, und er trägt einen Verband um den Kopf. Der deutsche Offizier, der ihn hereinführt, derselbe, der an dem früheren Verhör teilgenommen hatte, fragt ihn wie mit besorgter Anteilnahme: “Was machen Ihre Ohren?”
3) In Griechenland hat ein deutscher Offizier nach einem Partisanenüberfall drei Brüder als Geiseln genommen und trifft Anstalten, sie erschießen zu lassen. Die alte Mutter der drei bit­tet um Gnade, und er erklärt sich bereit, einen der Söhne zu verschonen, aber unter der Bedin­gung, dass sie selber bestimme, welchen. Als sie sich dazu nicht entscheiden kann, machen sich die Soldaten schussbereit. Schließlich zeigt sie auf den Ältesten, weil der eine Familie zu ernähren hat, und verurteilt damit zugleich die beiden anderen Söhne – wie es der deutsche Offi­zier beabsichtigt.
4) Eine Gruppe deportierter Frauen, darunter eine Genossin, wird über die Schweiz nach Frankreich repatriiert. Kaum auf Schweizer Boden, sehen sie eine Beerdigung. Der bloße An­blick versetzt sie in hysterisches Lachen: ”So also geht man hier mit den Toten um”, sagen sie.
Ich habe diese Geschichten nicht wegen ihres Sensationsgehalts ausgewählt. Ich weiß, wie zartbesaitet die Welt ist und dass man lieber die Augen verschließt, als sich stören zu lassen. Diese Geschichten habe ich auswählt, weil ich nun anders als mit einem konventionellen ja auf die Frage ant­worten kann: “Ist der Mensch in einer Krise?” Nun kann ich so antworten, wie es diejenigen, von denen ich sprach, getan haben: Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil Tod oder Folter eines Menschen in unserer Welt mit Gleichgültigkeit, mit wissenschaft­li­cher Neugier oder auch ganz ohne Reaktion mit­an­ge­­se­hen werden. Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil die Tötung eines Menschen anders als mit Abscheu und Scham, die sie hervorrufen sollte, betrachtet werden kann. W­eil Trauer wie eine leidige Verpflichtung empfunden wird, etwas ­wie der Um­stand, um Lebensmittel anstehen zu müssen ­– deshalb ist der Mensch in einer Krise.
Es ist zu leicht, einfach Hitler die Schuld daran zu geben und zu sagen, da die Schlange zertreten sei, sei auch das Gift aus der Welt. Denn wir wissen ganz genau, dass dieses Gift nicht aus der Welt ist, dass wir alle es in unseren eigenen Herzen tragen, wie sich an dem Argwohn zeigt, mit dem Nationen, Parteien und Individuen sich unverändert begegnen. Ich war immer der Auffassung, dass eine Nation für ihre Verräter ebenso verantwortlich sei wie für ihre Helden. Aber das gilt auch für eine Zivilisation, und die Zivilisation des weißen Mannes insbesondere ist für ihre Perversionen genauso verantwortlich wie für ihre Ruhmes­taten. So gesehen ­sind wir alle für den Hitlerismus verantwortlich und verpflichtet, den tieferen Ursachen dieser Pest nachzufor­schen, die das Gesicht Europas entstellt hat.
Versuchen wir nun, anhand der vier Geschichten, die ich erzählt habe, die deut­lich­sten Symptome der Krise aufzuzählen. Es sind die folgenden:
1) Gewaltherrschaft als Folge einer derartigen Pervertierung von Werten, ­dass ein ein­zel­ner oder eine historische Kraft heute nicht nach ihrer Menschenwürde, son­dern nach ihrem Er­folg beurteilt werden. Die Krise der Moderne ist deutlich daran abzulesen, dass im Westen keiner sei­ner unmittelbaren Zukunft mehr sicher ist, während jeder mit der Gewissheit zurecht­kom­men muss­, so oder so unter die Räder der Geschichte zu geraten. Soll der Hiob unserer Zeit nicht an seinen Wunden auf dem Misthaufen verenden, muss erst einmal die Hypothek von Furcht und Angst getilgt werden, damit er die geistige Freiheit wiederfindet kann, ohne die keins der Probleme, vor denen unsere Gewissen heute steht, zu lösen ist;
2) das Unvermögen, zu überzeugen. Menschen leben ­– und können nur leben – in dem Glau­ben an etwas allen Gemeinsames, etwas, auf das sie sich immer zurückbeziehen können. Wenn man zu einem Menschen menschlich spricht, erwartet man Reaktionen, die ebenfalls mensch­lich sind. Stattdessen haben wir erlebt, dass es Menschen gibt, die man nicht überzeugen kann. Ein KZ-Häftling konnte unmöglich die SS-Männer, die ihn schlugen, vom Unrecht ihres Tuns überzeu­gen. Die griechische Mutter, von der ich sprach, konnte unmöglich den deutschen Offizier davon überzeugen, dass er ihr mit seiner Grausamkeit das Herz brach. Denn SS-Leute und deutsche Offiziere waren keine Menschen mehr, keine Vertreter der Spezies Mensch, sondern zur Idee oder Theorie erhobener Instinkt. Lei­den­schaft, selbst mörderische, wäre weni­ger teuf­lisch gewesen, denn Leidenschaft erschöpft sich irgendwann. Hingegen ein Mensch, der imstande ist, nach dem Zustand der Ohren zu fragen, die er vorher selber zerfetzt hat, der ist nicht von Leidenschaft getrieben, der ist wie ein mathe­ma­­ti­­sches Theorem, das durch nichts aufgehalten oder umgelenkt werden kann;
3) die Ersetzung der natürlichen Sache durch bedrucktes Papier, womit ich das Über­hand­­neh­­men der Bürokratie meine. Der moderne Mensch schiebt zwischen sich und die Na­tur eine immer ab­straktere und kompliziertere Maschinerie, die ihn in die Einsamkeit stößt. Aus Papier, Büros und Beamten ist eine Welt entstanden, aus der alle menschliche Wärme geschwun­den ist und wo der Kontakt von einem zum andern nur noch durch ein Labyrinth von Formali­tä­ten führt. Der deutsche Offizier, der meinem Genossen besänftigend in die geschun­de­nen Ohren sprach, glaubte so handeln zu dürfen, weil der Schmerz, den er ihm zugefügt hatte, zu seinen Dienstaufgaben gehörte, folglich eigentlich nichts Böses geschehen war. Kurz, wir sterben, lieben oder töten nur noch im Auftrag;
4) die Ersetzung des Menschlichen durch das Politische. Individuelle Leidenschaften gibt es nicht mehr, nur noch kollektive, also abstrakte Leidenschaften. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen politisch sein. Was heute zählt, ist nicht, ob man eine Mutter achtet und ihr Leid erspart – was heute zählt, ist nur noch, ob man einer Doktrin zum Triumph verholfen hat oder nicht. Menschliches Leiden ist kein Skandal mehr, sondern nur noch ein Posten auf einer Rechnung, deren Schreckenssumme erst noch gezogen werden muss;
5) der all diesen Symptomen gemeinsame Nenner, den wir als den Kult von Effizienz und Abstraktion beschreiben können. Das ist der Grund, warum der europäische Mensch heute nichts als Einsamkeit und Schweigen erfährt. Er kann sich anderen Menschen nicht mitteilen, weil es keine Werte mehr gibt, die alle teilten. Deshalb kann er nicht mehr der Achtung durch andere sicher sein, und ihm bleibt nur noch die Wahl, Opfer oder Henker zu werden;

II.

Das ist die Erfahrung meiner Generation, und das ist die Krise, in der sie sich befand und immer noch befindet. Ihr mussten wir uns stellen und dabei Orientierungshilfe suchen, wo wir sie fan­den, also nirgends, außer im Bewusstsein von der Absurdität unserer Situation. So mussten wir in den Krieg und dem Grauen ins Auge sehen, ohne den Trost letzter Gewissheiten zu haben. Wir wussten nur, ­dass wir den Bestien, die in Europa die Macht an sich gerissen hatten, nicht nach­geben durf­ten, aber nicht, wie wir, was wir für unsere Pflicht hielten, in der Lage, in der wir uns be­fan­den, rechtfertigen sollten. Selbst die Nachdenklichsten unter uns wussten nicht, im Na­men was für eines Prinzips sie sich dem Terror widersetzen und Mord als Mittel zum Zweck ablehnen sollten.
Denn wenn man an nichts glaubt, wenn nichts Sinn hat und es keine Werte mehr gibt, dann ist alles erlaubt und nichts hat Bedeutung. Dann gibt es weder Gut noch Böse, und Hitler hatte weder Unrecht noch Recht. Man kann Millionen Unschuldiger ins Krematorium schicken oder sich für die Krankenpflege aufopfern. Man kann einem Mann mit der einen Hand die Ohren zerfetzen, um sie mit der andern zu streicheln. Man kann in der Gegenwart von Folteropfern die Wohnung aufräumen. Man kann die Toten ehren oder sie beseitigen wie Müll. Das eine ist so gut wie das andere. Und weil alles sinnlos zu sein schien, mussten wir schließen, dass der Erfolg allein zähle. Solche Skeptiker gibt es ja noch heute, die Ihnen erzählen, dass, wenn Hitler diesen Krieg zufällig gewonnen hätte, die Geschichte das, was er verkörperte, gutgeheißen und dem widerli­chen Postament, auf dem er dann thronte, ihre Reverenz erweisen würde. In der Tat hät­te die Geschichte, so wie sie sich heute darstellt, Hitler dann heiliggesprochen und Mord und Terror gerechtfertigt, so wie wir alle Mord und Terror rechtfertigen, wenn wir dem Gedanken nachge­ben, alles sei sinn­los.
Gewiss, einige von uns ließen sich davon überzeugen, dass man in Erman­ge­lung höherer Werte immer noch an einen Sinn der Geschichte glauben könne, jedenfalls handelten sie immer so, als sei das ihre Über­zeugung. Sie erklärten den Krieg für notwendig, weil er die Epo­che der Na­tionalismen beenden und ein Zeitalter herbeiführen würde, in dem die Imperien un­frei­willig oder freiwillig einer Weltgesellschaft und dem Paradies auf Erden Platz machen würden.
Aber damit kamen sie zu Schlussfolgerungen, zu denen sie auch ge­kom­men wären, wenn sie wie wir anderen alles für sinnlos gehalten hätten. Denn wenn die Ge­schich­te überhaupt Sinn hat, dann muss dieser alles umfassen, oder es wäre keiner. Diese Menschen dachten und han­del­ten, als gehorche die Geschichte irgendeiner transzendentalen Dialektik und als bewegten wir uns alle auf irgendein bestimmtes Ziel zu. Sie dachten und handelten nach dem schrecklichen Grund­satz He­gels, der Mensch sei für die Geschichte gemacht, nicht die Geschichte für den Menschen. Tatsa­che ist, dass der ganze politische und moralische Pragmatismus, der heute in der Welt herrscht, oft durchaus ungewollt jener deutschen Geschichtsphilosophie entstammt, nach der die ganze Mensch­heit mit rationalen Schritten auf einen harmonischen Endzustand zumarschiert. Der Nihilismus ist einer Art von absolutem Rationalismus gewichen, aber beide führen zu denselben Ergebnissen. Denn wenn es wahr ist, dass die Geschichte durch eine unfehlbare und fatale Logik bestimmt ist, wenn es wahr ist, wie diese deutsche Philosophie behauptet, dass auf die Anarchie der Feudalstaat, auf den Feu­dalstaat der Nationalstaat und auf die Nationen Imperien mit dem Endziel einer Welt­gesellschaft folgen, dann ist alles, was diesem vorbestimm­ten Endziel dient, gut, und die Er­folge der Geschichte sind unabweisbare Wahrheiten. Und da diese Erfolge nur in üblicher Weise ­durch Kriege und Intrigen, durch die Ermordung Einzelner und ganzer Völker ­erreicht werden können, so können Handlungen nicht nach gut oder schlecht beurteilt werden, sondern nur nach zweck­dienlich oder zwecklos.
Die Versuchung der Menschen meiner Generation war eine doppelte: entweder nichts für wahr zu halten oder die Wahrheit allein in der Unterwerfung unter eine historische Vorbe­stim­­mung zu sehen. Weil viele einer dieser beiden Versuchungen erlegen sind, konnte die Welt Usurpatoren in die Hände fallen und schließlich von Terror regiert werden. Denn wenn nichts wahr oder falsch ist, gut oder böse, wenn Effizienz der einzige Wert ist, dann ist die einzige Regel, an die man sich halten kann, die, der Effizienteste zu sein, und das heißt: der Mächtigste. Dann ist die Welt nicht mehr in Gerechte und Ungerechte eingeteilt, son­dern in Herren und Sklaven. Recht hat, wer die Macht hat. Die Hausmeisterin hat Recht, die Gefolterten ­Unrecht. Der deutsche Offizier, der die Folter anordnet, und derjenige, der sie ausführt – die zu Totengrä­bern gewordenen SS-Leute –, das sind die Vernünftigen dieser neuen Welt. Sehen Sie nur einmal um sich, ob es nicht noch immer so ist. Immer noch stecken wir mit dem Kopf in der Schlinge der Gewalt und werden erdrosselt. Im Innern jeder Nation wie in der ganzen Welt sind Miss­trau­en, Rachsucht, Habgier und Machtwille dabei, ein Reich der Finsternis und Verzweiflung zu errichten, wo jeder in den Grenzen des Jetzt zu leben gezwungen ist – das bloße Wort “Zukunft” macht ihm schon Angst –, abstrakten Mächten ausgeliefert, hilflos und durch die Hast des Daseins abgestumpft, ohne selbstverständliche Wahr­heiten, reflektierte Muße und einfache Freu­den.

III.

Wenn die Symptome der Krise wirklich Machtgier, Terror, Verdrängung des wirklichen Men­schen durch den politischen und historischen Menschen, Herrschaft von Abstraktion und Fatum, Einsamkeit ohne Zukunft sind und wir diese Krise überwinden wollen, so müssen wir bei den Symptomen ansetzen. Das ist die ungeheure Aufgabe, vor der unsere Generation steht, ohne sich dabei an irgendetwas halten zu können. Ja, gerade aus der Verneinung muss sie die Kraft für diese Aufgabe schöpfen. Man brauchte uns gar nicht erst zu sagen: du musst an Gott, an Plato oder an Marx glauben, denn das Problem war, dass wir zu keinerlei Glauben imstande waren. Unsere Frage war einzig und allein, ob wir uns auf eine Welt, in der man nur Op­fer oder Henker sein konnte, einlassen sollten oder nicht. Dabei versteht sich von selbst, dass wir weder Opfer noch Henker sein wollten, weil wir tief in unseren Herzen wussten, dass selbst diese Unterscheidung nur eine scheinbare war und wir im Grunde genommen alle Opfer waren und dass Mörder und Ermordete schließlich in derselben Niederlage vereint sein würden. Insofern ging es also gar nicht mehr da­rum, ob wir uns auf diese Situation und diese Welt einlassen sollten oder nicht, sondern darum, festzustellen, mit was für ­Gründen wir uns dagegen widersetzen könnten.
Darum haben wir unsere Gründe in unserer Revolte selbst gesucht, die uns unwillkürlich ­­dazu getrieben hatte, den Kampf gegen das Unrecht zu wählen. Uns wurde klar, dass wir nicht nur um unser selbst willen revoltiert hatten, sondern für etwas allen Menschen Gemein­sames.
Aber was bedeutete in einer Welt ohne Werte, die unsere Herzen verwüstet hatte, eigent­lich unsere Revolte? Sie hat Menschen aus uns gemacht, die nein sagten. Gleichzeitig aber waren wir auch Jasager. Wir sagten nein zu dieser Welt, zu ihrer Absurdität, zu den Abstraktio­nen, die uns bedrohten, zu der Zivilisation des Todes, die uns da angerichtet wurde. Indem wir nein sag­ten, erklärten wir, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, dass es eine Grenze des Hinnehmba­ren gab. Damit bejahten wir alles, was diesseits jener Grenze lag, bejahten, dass da etwas in uns war, das die Zumutung zurückwies und das nicht für immer unterdrückt werden konnte. Natür­lich lag da ein Widerspruch, der uns zum Nachdenken bringen musste. Wir hatten geglaubt, dass die Welt eigentlich für nichts lebte und kämpfte, und da kamen wir und kämpften trotzdem gegen Deutschland. Die Franzosen, de­nen ich in der Widerstandsbewegung begegnet bin, bewiesen, indem sie in den Zügen, mit denen sie ihr Propagandamaterial transportierten, Montaigne lasen, dass man für die Skeptiker Verständnis und doch einen Ehrbegriff haben konnte. Irgendetwas bejahten wir schließlich alle, schon dadurch, dass wir lebten, hofften und kämpften.
War aber dieses Irgendetwas von allgemeiner Bedeutung, ging es über die persönliche Stellungnahme hinaus, konnte es anderen zum Maßstab ihres Verhaltens werden? Die Antwort ist ganz einfach. Die Menschen, von denen ich spreche, waren bereit, ihre Revolte mit dem Leben zu bezahlen. Ihr Tod würde bewei­sen, dass sie sich für eine Wahrheit geopfert hatten, die ihre eigene Existenz, ihr Einzel­schick­sal überstieg. Was sie in ihrer Revolte gegen ein feind­se­liges Schicksal ver­tei­digten, das war ein universeller Wert. Wo Menschen in der Anwesenheit der Haus­mei­ste­rin gefoltert wurden, wo Menschenohren mit Methode zerfetzt wurden, wo Müt­­ter gezwungen wurden, ihre Kinder zum Tode zu verurteilen, wo die Gerechten verscharrt wurden wie ver­reck­te Tiere, da haben sie in ihrer Revolte gezeigt, dass etwas in ihnen verneint wurde, das nicht ihnen allein gehörte, sondern allen Menschen, die zur Solidarität bereit sind.
Als das einmal feststand, wussten wir, wie wir zu handeln hatten, und wir machten die Erfahrung, wie der Mensch noch in der allergrößten moralischen Verarmung Werte wieder­fin­den kann, um sein Han­­deln danach auszurichten. Denn wenn die Wahrheit in der Solidarität zwischen den Men­schen lag, in der wechselseitigen Anerkennung ihrer Menschenwürde, dann war die Solidarität selbst der Wert, den es zu behaupten galt.
Und damit diese Solidarität Bestand hat, müssen die Menschen frei sein, denn Herr und Sklave können nicht miteinander reden. Ja, Sklaverei ist ein Schweigen, und zwar das schreck­lich­­ste überhaupt.
Und um diese Solidarität dauerhaft zu machen, müssen wir die Ungerechtigkeit beseiti­gen, denn zwischen dem Unterdrückten und dem, der aus der Unterdrückung Profit zieht, gibt es kein Gespräch ­– auch der Neid wohnt im Reich des Schweigens.
Um diese Solidarität zu einer bleibenden zu machen, müssen wir Gewalt und Lüge äch­ten, denn wer lügt, verschließt sich vor den anderen, und wer foltert und Gewalt antut, bewirkt ein Schweigen, das sich nie wieder brechen lässt. Ja, auf der Verneinung, die unsere Revolte war, müssen wir eine Moral der Freiheit und Aufrichtigkeit gründen.
Soviel wissen wir jetzt: dass wir dem Morden mit Solidarität entgegentreten müssen, dass wir gegen Ungerechtigkeit, Sklaverei und Gewaltherrschaft kämpfen müssen, denn das sind die drei Plagen, die die Menschen zum Schweigen bringen, Barrieren zwischen ihnen errichten, sie namenlos machen und sie hindern, den einen Wert zu erkennen, der sie in dieser verzweifelnden Welt retten kann: Brüderlichkeit im Kampf gegen das Fatum. Am Ende dieser langen Nacht, jetzt und in Zukunft, wissen wir, was wir in dieser von krisengeschüttelten Welt zu tun haben.
1) Wir müssen die Dinge bei ihrem Namen nennen und uns klarmachen, dass wir jedesmal Millionen von Menschen um­brin­gen, wenn wir bestimmten Gedanken freien Lauf lassen. Nicht der Mörder macht Denkfehler, sondern Denkfehler machen Mörder. So kann man Mörder sein, ohne jemand wirklich umgebracht zu haben. Und in diesem Sinne sind wir alle mehr oder minder Mörder. Deshalb ist als erstes ­­jede Art von Pragmatismus und Fatalismus in Tun und Denken unumwunden zu verwerfen.
2) Wir müssen die Welt von der Gewalt reinigen, von der sie befallen ist, einer Gewalt, die alles beherrscht und den Verstand außer Kraft setzt.
3) Die Politik muss wieder in ihre Schranken gewiesen werden. Ihr Ziel sollte nicht sein dürfen, die Welt mit einem Evangelium oder einem Katechismus zu versorgen, weder einem po­li­ti­schen noch einem moralischen. Das große Unglück unserer Zeit ist gerade, dass die Politik sich anmaßt, uns mit einer ganzen Weltanschauung und manchmal sogar mit Vorschriften für unser Liebesleben zu beglücken. Die Aufgabe der Politik ist es, unser Haus in Ordnung zu bringen, nicht, sich mit unseren persönlichen Problemen zu beschäftigen. Ich für mein Teil weiß nicht, ob es ein Absolutes gibt oder nicht, aber ich weiß genau, dass das die Politik nichts angeht. Das Ab­so­lute ist nichts, das alle angeht ­ es geht jeden einzelnen an, und jedem muss von der Gemein­schaft die innere Muße gelassen werden, sich nach dem Absoluten zu fragen. Wenn unser Leben auch anderen gehört und wir es notfalls für andere hingeben müssen – unser Tod gehört nur uns allein. Das ist meine Definition von Freiheit.
4) Ausgehend von einer Position der Verneinung müssen wir als viertes positive Werte su­chen und schaffen, die verneinendes Denken mit der Möglichkeit bejahender Tat versöhnen kön­nen. Hierin liegt eine Aufgabe für Philosophen, die ich nur andeuten kann.
5) Dazu muss die Einsicht in die Notwendigkeit eines Universalismus kommen, durch den alle Men­schen guten Willens sich solidarisch fühlen können. Um aus seiner Vereinzelung heraus­zu­kommen, muss man sprechen, aufrichtig, nie lügen, aus welchem Grund auch immer, und die ganze Wahrheit sagen, die man kennt. Aber die Wahrheit kann man nur in einer Welt sagen, in der sie definiert und auf Werte gegründet ist, die allen Menschen gemeinsam sind. Kein Hitler kann bestimmen, was wahr und was falsch ist. Kein Sterblicher darf, weder heute noch morgen, seine Wahrheit für allgemeingültig erklären, um sie anderen aufzuzwingen; solche Allgemeingül­tig­keit könnte allein das menschliche Gewissen beanspruchen, und sie zu begründen, müssen erst die Werte wiedergefunden werden. Die Freiheit, die wir schließlich gewinnen müssen, ist die Freiheit, nie zu lügen. Nur so können wir zur Erkenntnis unserer Gründe gelan­gen, warum wir leben und warum wir sterben.
An diesem Punkt sind wir immerhin angekommen, und vielleicht war er des langen Wegs nicht wert. Aber die Geschichte der Menschen ist ja die Geschichte ihrer Irrtümer und nicht die ihrer Wahrheiten. Die Wahrheit ist vermutlich wie das Glück: ganz einfach und ohne Ge­schich­te.
Heißt das nun, dass all unsere Probleme auf dem Weg zur Lösung sind? Kein­es­wegs. Die Welt ist weder besser noch vernünftiger geworden, und wir sind aus der Absurdität nicht heraus. Aber wir haben wenigstens einen Grund, unser Verhalten zu ändern, und ein solcher Grund hat uns bisher gefehlt. Gäbe es den Menschen nicht, könnte die Welt nur ver­zwei­feln; aber der Mensch mit seinen Leidenschaften, seinen Träumen, seinen Beziehungen zu anderen existiert. So haben einige von uns in Europa ein pessimistisches Weltbild mit einem zu­tiefst optimistischen Menschenbild zu versöhnen versucht. Was wir vorschlagen, ist nicht, aus der Geschichte zu fliehen, denn wir sind Teil der Geschichte.
Unser Vorschlag ist nur, innerhalb der Geschichte zu kämpfen, um den Teil des Men­schen vor ihr zu bewahren, der ihr nicht gehört. Wir möchten nur unseren Weg zu der Art von Zivilisation finden, in der der Mensch weder der Geschichte den Rücken kehrt noch länger ihr Sklave ist; in der der Dienst, den jeder den anderen schuldet, durch das Nachdenken, die Muße und die Teilhabe am Glück aufgewogen wird, die ihm selber zustehen.
So lebt heute in Frankreich und Europa eine Generation, die jeden, der auf die condi­tio humana ver­traut, für verrückt erklärt, und jeden, der an den Verhältnissen verzweifelt, für einen Feig­ling. Sie verwirft absolute Erklärungen und die Herrschaft politischer Ideologien, aber den lebendigen Men­schen in seinem Streben nach Freiheit bejaht sie. Zwar glaubt sie nicht an die Verwirklichung allgemeiner Glückseligkeit, wohl aber an die Möglichkeit, das Leid der Mensch­heit zu lindern. Gerade weil die Welt eigentlich unglücklich ist, glaubt diese Generation, dass wir ein bisschen Glück auf ihr schaffen müssen: Gerade weil die Welt ungerecht ist, müssen wir für Ge­rech­tigkeit wirken; gerade weil sie letzten Endes absurd ist, müssen wir ihr Sinn geben.

Dienstag, 26. April 2016

Herbert Tobias - Schöne Männer, die später starben - Apokalypse ist immer

Herbert Tobias

The Berlin-Party is over, 1961

The Berlin-Party is over, Berlin 1961
© Berlinische Galerie / VG Bild-Kunst, Bonn 2008

Von der Website der Berlinischen Galerie:
Herbert Tobias wird 1924 in Dessau geboren. Er wächst in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf und beginnt schon als Kind zu fotografieren. Sein Berufswunsch, Schauspieler zu werden, bleibt nach dem frühen Tod des Vaters 1936 zunächst unerfüllt. Stattdessen absolviert er eine Landvermesserlehre. 1942 erfolgt die Einberufung zum Kriegsdienst. An der Ostfront entstehen erste Fotografien von beeindruckender künstlerische Reife. Nach dem Krieg besucht Tobias für ein Jahr eine Schauspielschule, um anschließend mit einem Tournee-Theater durch die Provinz zu tingeln. Ende der vierziger Jahre hat er sein coming out. 1951 zieht er mit seinem Freund nach Paris, wo er zeitweise für den bekannten Modefotografen Willy Maywald arbeitet und erstmals eigene Bilder veröffentlicht. 1953 kehrt er nach Deutschland zurück. Der Sieg im Titelseiten-Wettbewerb der Frankfurter Illustrierten macht ihn schlagartig bekannt. 1954 zieht er nach Berlin, wo er seine beruflich erfolgreichsten Jahre verlebt. Tobias arbeitet für angesehene Modehäuser und verschiedene Zeitschriften. Daneben entstehen zahlreiche freie Arbeiten, darunter Stadtansichten, Prominentenportraits und vor allem Männerbildnisse. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere bricht er aus, versucht sich erneut als Schauspieler und Sänger, findet mit seinem unsteten, erotomanischen und von Drogenexzessen durchzogenen Leben aber kaum mehr Anschluss an die Gesellschaft. 1969 geht er nach Hamburg, gestaltet Plattencover für diverse Firmen und arbeitet für Homosexuellen-Magazine. Eine Ausstellung 1981 in der Berliner Galerie Nagel, für die Tobias seine Bilder der fünfziger und sechziger Jahre neu abzieht, leitet die Wiederentdeckung des Fotografen ein. Ein geplantes und schon weit gediehenes Buchprojekt kann Tobias nicht mehr realisieren.


Nachhilfe-Unterricht, Berlin 1960 
© Berlinische Galerie / VG Bild-Kunst, Bonn, 2008

Es schwebt ein Verhängnis um alle körperliche und geistige Auszeichnung; die Art Verhängnis, die in der ganzen Geschichte den schwankenden Schritten der Könige auf dem Fuße zu folgen scheint. Es ist besser, sich nicht von seinen Genossen zu unterscheiden. Die Häßlichen und die Dummen sind in dieser Welt am besten daran. Sie können behaglich dasitzen und sorglos dem Spiel zuschauen. Wenn sie nichts von Siegen wissen, so ist ihnen dafür auch erspart, Niederlagen kennen zu lernen. Sie leben, wie wir alle leben sollten: sorglos, gleichgültig und ohne Unruhe. Sie bringen über andere kein Verderben und empfangen es auch nicht aus fremden Händen.

Oscar Wilde Das Bildnis des Dorian Gray 
Übersetzt von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer

herbert tobias with his cat, 1962 
photographed by peter h. fürst

In memoriam an einen wunderbaren, unvergesslichen, Menschen: Peter, Berlin 1957, © Berlinische Galerie / VG Bild-Kunst, Bonn.
 
Wiki beendet den Artikel über Tobias Herbert mit folgenden Sätzen:
Nachdem er im Februar 1982 schwer erkrankt war, starb Herbert Tobias am 17. August des Jahres als einer der ersten Prominenten in Deutschland an AIDS. Tobias’ Ruhestätte auf dem Hauptfriedhof Hamburg-Altona wurde 2007 vom Hamburger Senat zum Ehrengrab erklärt.

 Herbert Tobias Selbstporträt 1952
 

Samstag, 23. April 2016

Freiheit oder vorrauseilende Toleranz

FREIHEIT 1789



In einem Berliner Rathaus werden Aktbilder abgehängt, weil sie die Sensibilität muslimischer Deutscher verletzen könnten. 

Milli Görus erwirkt durch eine Klage die Schwärzung von Teilen eines Kapitels in einem in Deutschland erscheinenden Buch von Sineb El Masrar über "Emanzipation im Islam". 

Wiki schreibt, dass die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) als bundesweiter Dachverband für die Koordinierung der religiösen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten der angeschlossenen türkisch-islamischen Moscheegemeinden zuständig ist. Der Verband ... untersteht der dauerhaften Leitung, Kontrolle und Aufsicht des staatlichen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei, welches dem türkischen Ministerpräsidentenamt angegliedert ist. Die DITIB betreibt in Deutschland knapp tausend Moscheevereine.

Herr Präsident Erdogan sieht sich als Präsident aller in Deutschland lebenden Menschen türkischer Abstammung. "Man nennt euch Gastarbeiter, Ausländer oder Deutschtürken. Aber egal, wie euch alle nennen: Ihr seid meine Staatsbürger, ihr seid meine Leute, ihr seid meine Freunde, ihr seid meine Geschwister!" - Rede am 27. Februar 2011 vor 11.000 Türkeistämmigen in Düsseldorf
Das Lied von der Tünche
Ist wo etwas faul und rieselt‘s im Gemäuer
Dann ist‘s nötig, daß man etwas tut
Und die Fäulnis wächst ganz ungeheuer.
Wenn das einer sieht, das ist nicht gut.
Da ist Tünche nötig, frische Tünche nötig!
Wenn der Saustall einfällt, ist‘s zu spät!
Gebt uns Tünche, dann sind wir erbötig
Alles so zu machen, daß es noch mal geht.
Da ist schon wieder ein neuer
Häßlicher Fleck am Gemäuer!
Das ist nicht gut. (Gar nicht gut.)
Da sind neue Risse!
Lauter Hindernisse!
Da ist‘s nötig, daß man noch mehr tut!
Wenn‘s doch endlich aufwärtsginge!
Diese fürchterlichen Sprünge
Sind nicht gut! (Gar nicht gut.)
Drum ist Tünche nötig! Viele Tünche nötig!
Wenn der Saustall einfällt, ist‘s zu spät!
Gebt uns Tünche und wir sind erbötig
Alles so zu machen, daß es noch mal geht.
Hier ist Tünche! Macht doch kein Geschrei!
Hier steht Tünche Tag und Nacht bereit.
Hier ist Tünche, da wird alles neu
Und dann habt ihr eure neue Zeit.
b.b.

Während Herr Präsident Erdogan auf seinem megalomanischen Selbstverherrlichungstrip links und rechts Kritiker, Frager, Nichtjubelnde
unter Anklage stellt oder ins Gefängnis steckt und dies, bisher, mit breiter Unterstützung in der eigenen Bevölkerung, üben wir uns in Nachsicht, Einsicht, vorauseilender Verständnisbereitschaft.
Ist das ein guter Weg?
Ich bestehe auf Meinungsfreiheit, auf die Freiheit der Kunst, auf all das Zeug, dass andere seit 1789 unter großen Opfern
für uns erkämpft haben. Ich bestehe darauf, dass die NPD nicht verboten werden darf, weil wir auch solch ekelhaftes Denken aushalten müssen, wenn wir uns weiterhin als demokratischen Staat bezeichnen wollen. Aber ich erwarte auch, dass mein Staat unser Grundgesetz verteidigt gegen Intoleranz jeder Art. Wer eine andere als die eigene Meinung, Haltung, Weltanschauung nicht erträgt, hat ein Problem. Er hat das Problem. Nicht wir, die wir anderer Meinung sind.

"Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […] Eine Zensur findet nicht statt." Grundgesetz Artikel 5 Absatz 1
 

MEINE FREIHEIT - MEINE LAKTOSE-FREIHEIT - MINUS L
Werbung für laktosefreie Milchprodukte

FREIHEIT 2016

Donnerstag, 21. April 2016

Ausstellungen in Berlin

Auftanktag

FORTY OUT OF ONE MILLION

THE HUMAN COST OF THE SYRIAN WAR
EIN FOTOPROJEKT VON KAIBWIEDENHÖFER
im Auswärtigen Amt, Werderscher Markt 1, 10117 Berlin

Sharif (13) & Mana (10)

Duwa'a & Shahd (2 & 5 Jahre alt)

Zu den Fotografien gibt es kurze nüchterne Beschreibungen, wie diese Menschen zu ihren Verletzungen kamen, wie viele Familienmitglieder sie bisher verloren haben und wie  und wo ihnen geholfen wurde, oder eben auch nicht oder zu spät oder nicht ausreichend. Nicht mehr als das. Erschütternd. Undiskutierbar. Wundervoll.
Ich kann gar nicht sagen, wie schnell ich versuchen würde, mitsamt meinen Lieben, einem solchen schrecklichen, totbringenden Ort zu entfliehen. Auf jede denkbare Art, unter Einsatz aller findbaren Mittel.
Am Eingang kann man eine Autogrammkarte von Herrn Steinmeyer mit eigenhändiger Unterschrift kostenlos mitnehmen. Wurde mir angeboten, ich habe höflich abgelehnt, der Einlaßkontrolleur hat sehr gekichert.

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MEHRERE AUSSTELLUNGEN
in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstrasse 124 - 128, 10969 Berlin

VISIONÄRE DER MODERNE
Paul Scheerbart (1863- †1915)
Bruno Taut (1880-1933 Arbeitsverbot - †1938 in Istambul)
Paul Goesch (1885- †1940 in der NS-Tötungsanstalt Brandenburg/Havel)

Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen Architekturvisionen und Zeichnungen dreier Visionäre des frühen 20. Jahrhunderts. Der Schriftsteller, Dichter und Erfinder Paul Scheerbart (1863-1915) konnte um 1914 den jungen Architekten Bruno Taut (1880-1938) für seine Ideen, mit farbigem Glas zu bauen, begeistern. Paul Goesch (1885-1940), ausgebildeter Architekt, schuf hunderte von phantastischen Zeichnungen. Er zählte zu jenem berühmten Forum für utopisches Bauen, dem 1919 von Taut ins Leben gerufenen Briefzirkel „Die Gläserne Kette“. 
Zitat von der Website der Gallerie

Der eine zeichnet phantastische Wunderwesen, wie alte Zeichnungen nach der Natur, zwischen Surrealismus und Hyperrealismus, einer entwirft phantastische Bauten aus Glas, Stahl und Beton mit Zitaten historischer Formen, der dritte malt wie ein hochbegabtes katholisches Kind.


KUNST IN BERLIN 1880-1980
Sammlungspräsentation

Jeanne Mammen Rothaarige um 1928
"Eigentlich habe ich mir immer nur gewünscht: nur ein Paar Augen sein, ungesehen durch die Welt gehen, nur die anderen sehen."


Hermann Nonnenmacher
Holzskulptur
Abschied

Im ersten Raum des Museums stellt Erwin Wurm Kunst aus, mit der man rumspielen kann, sehr geeignet für Kinder - Taschen auf den Kopf setzen, sich zu zweit in einen Norwegerpullover zwängen, den Kopf durch Löcher stecken, versuchen auf Tennisbällen zu liegen...

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Und als Bonbon zum Abend im Ministerium für Illustration (mfi Berlin) in der Chausseestrasse 110, 10115 Berlin eine kleine Ausstellung von Volker Pfüller.

VOLKER PFÜLLER - PLAKATE UND LINOLSCHNITTE


Toll, wenn man Menschen, die man mag, aber aus unterschiedlichen Gründen aus den Augen verloren hat, gesund und kräftig wiedersieht. Heute habe ich vier davon getroffen. Ich mag sie noch immer und sie mich auch.


Montag, 18. April 2016

Schlechte Filme zum Weinen

Wann weine ich?
Sehr selten.
Wiki definiert Weinen als: unspezifischen emotionalen Ausdruck, welcher der Mimik zugeordnet wird und oft, aber nicht immer, mit Tränenfluss einhergeht. Weinen ist nicht an eine bestimmte Emotion gebunden, kommt aber beispielsweise häufig bei Schmerz, Trauer, Angst, Ärger oder Freude vor. Ob bei Tieren – wie beispielsweise bei unter Stress stehenden Elefanten, die Tränen produzieren – von Weinen wie beim Menschen gesprochen werden kann, ist in der Wissenschaft umstritten.
Warum weine ich?
Ich weine:
... wenn ich Zwiebeln schäle. Hahaha. 
... wenn ich zornig bin und nicht weiß wohin mit meinem Zorn. Eine Schwäche, denn es gibt dem Verursacher meines Zorns, die Möglichkeit meine Erregung zu weiblicher Hysterie abzuwerten. Grässlich.
... wenn ich beim Zahnarzt das Geräusch des Bohrers höre. Die Erwartung des Schmerzes versetzt mich in Panik. Nie weiß ich, wann genau der Schmerz kommen wird!
... wenn ich hilflos Schrecklichem begegne. Die Hilflosigkeit ist genauso grauenhaft wie das Unglück. Nichts tun können. Nichts. Weinen ohne Atmen. Es hilft zu nichts, macht nichts besser oder leichter, es ist außerhalb meiner Macht. Es weint aus mir. Schluchzt. Hechelt. Krampft. Arhythmisch und unschön.

Und dann gibt es das Weinen, das Überdruck abbaut, entspannt, peinlich ist, weil es passiert, während ich mir Tierfilme, Kitsch, Lieder mit spezifischen Tonfolgen einhelfe.
 
So grundsätzlich verschiedene Anlässe für ein und denselben "emotionalen Ausdruck".

Ich kann übrigens auch, rein technisch, ohne jedwede emotionale Investition, weinen. Beim Einstieg in meinen Beruf, war ich der festen Meinung, dass ich in der Lage sein müßte immer und sofort Tränen produzieren. Da habe ich weinen eben geübt. Im Bus. Es ist leicht. Wirklich. Ein imaginiertes Kitzeln, genau da, wo das Gähnen herkommt, und schon läuft es aus den Augen. Bedeutet nichts, fühlt sich nur wie Feuchtigkeit an. Im Film ist es nicht hilfreich, weil echte Tränen nicht so gut funkeln, wie die künstlichen, da sie nur aus Salzwasser bestehen. Und auf der Bühne sieht man sie kaum. Nur mein Kind war beeindruckt, als ich einem ihrer sehr gut eingestzten Weinanfälle meine gänzlich künstlichen Tränen entgegensetzte. Das Erwachsene auch können, was Kinder als Druckmittel einsetzen, war ihr neu. Sie hat gelacht! Großartig.

Aber heute hat mich dieses scheinbar anlaßlose, beschämende Weinen erwischt, durch nichts ausgelöst als einen Film, dessen einzige Absicht es war, mich zum Weinen zu bringen. Oder stimmt das gar nicht? Habe ich nicht diesen belanglosen Film benutzt, um viele andere traurige, mißachtete Momente nachzuholen?
 
Unsere Gesellschaft erträgt emotionale Ausbrüche nur ungern. Sei "cool", "reiß dich zusammen", "belästige mich nicht mit Deiner Not". "Wie geht es Dir?" "Gut."
Wir stecken Traurigkeit weg. Verstecken sie. Wir fühlen uns verpflichtet, pflegeleicht und unanstrengend zu sein. Nicht schreien, nicht rumheulen, nicht zittern. Warum eigentlich? Ist es normal, dass wir uns durch die Gefühle anderer Menschen belästigt fühlen? Sind wir wirklich so uninteressiert an den Gefühlen unserer Mitmenschen? So gänzlich verschlossen? 
Das Leben ist ungerecht. Die simple, und dennoch unerträglich wahre Aussage des mich zum Weinen bringenden heutigen Filmes. Ja. So ist es. Und wenn wir uns nicht genug füreinander interessieren, dass wir den existentiellen Schrecken des Schicksals nicht annehmen, nicht ertragen können, dann sollten wir uns fragen, warum.
 

Sonntag, 17. April 2016

Herr B. übt seinen Beruf aus, Frau M. hält sich an das Gesetz.

Recep Tayyip Erdoğan
 
Im April 1998 wurde Erdoğan vom Staatssicherheitsgericht Diyarbakır wegen Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten gemäß Artikel 14 der türkischen Verfassung nach Artikel 312/2 des damaligen türkischen Strafgesetzbuches (Aufstachelung zur Feindschaft auf Grund von Klasse, Rasse, Religion, Sekte oder regionalen Unterschieden) zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Anlass war eine Rede bei einer Konferenz in der ostanatolischen Stadt Siirt, in der er aus einem religiösen Gedicht, das Ziya Gökalp zugeschrieben wurde, zitiert hatte:
"Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." 
So sagt Wiki.
 
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Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.
Evelyn Beatrice Hall zu Voltaire 
 
Wir sollten über alles und jedes Witze machen dürfen. 
Satire tötet nicht, sie macht aufmerksam, deutlich, wütend, 
sie tötet nicht, nie. In diesem Fall hat Herr B. ganz explizit ein Experiment angekündigt & es dann durchgeführt und wir alle sind nun Zeugen davon, wie sein Labor in die Luft fliegt. 
Das Gedicht ist dreist, grob, unlustig, das sagt nur etwas über seine Qualität, nichts darüber, ob es aufgesagt werden darf. Und übrigens ich finde Herrn Erdogan auch dreist, grob und unlustig.
Jetzt werden wir erleben, wie unser Rechtsstaat funktioniert und ob er es tut. 
Und alldieweil warten Geflohene in der Türkei und in Griechenland und an vielen anderen Plätzen darauf, an einen Ort zu kommen, wo es ihnen, so hoffen sie, besser gehen wird, als da von wo sie geflohen sind. Sie entfliehen Krieg und Not. Wirtschaftsflüchtling ist ein so manipulativer Begriff. Wer von uns würde nicht versuchen, wenn es ihm und der Familie schlecht geht, dahin zu gelangen, wo das Leben erträglicher ist? Wer?
 
Ausschnitte aus der "Neo Magazin Royale"-Sendung vom 31.3.2016: 
...
Böhmermann: Offensichtlich schaut man in der Türkei jede noch so kleine Satire- oder Quatschsendung, also wahrscheinlich auch diese. Vielleicht, liebe Türken, wenn Sie das jetzt  - wenn Sie das jetzt sehen: Vielleicht muss man da ganz kurz was erklären: Was die Kollegen von "Extra 3" da gemacht haben, also inhaltlich humorvoll mit dem umgegangen sind, was Sie da quasi politisch unten tun, Herr Erdogan - das ist in Deutschland, in Europa gedeckt von der Kunstfreiheit, von der Pressefreiheit, von der Meinungsfreiheit...
...
Kabelka: Artikel 5, Grundgesetz.

Böhmermann: Artikel 5 unseres Grundgesetzes, unserer tollen Verfassung: Das darf man hier. Da können Sie nicht einfach sagen, die Bundesregierung soll die Satire zurückziehen oder das muss irgendwie gelöscht werden aus dem Internet. In Deutschland ist so was erlaubt ....
 
Kabelka: Sehr gut.

Böhmermann: Herr Erdogan, es gibt Fälle, wo man auch in Deutschland, in Mitteleuropa Sachen macht, die nicht erlaubt sind. Also: Es gibt Kunstfreiheit - Satire und Kunst und Spaß - das ist erlaubt. Und es gibt das andere, wie heißt es?

Kabelka: Schmähkritik.

Böhmermann: Schmähkritik. Das ist ein juristischer Ausdruck, also: Was ist Schmähkritik?

Kabelka: Wenn du Leute diffamierst. Wenn du einfach nur so untenrum argumentierst, ne? Wenn du die beschimpfst und wirklich nur bei privaten Sachen, die die ausmachen, herabsetzt.

Böhmermann: Herabwürdigen. Und das ist in Deutschland auch nicht erlaubt?

Kabelka: Das ist Schmähkritik, ja.

Böhmermann: Haben Sie das verstanden, Herr Erdogan?

Kabelka: Das kann bestraft werden.

Böhmermann: Das kann bestraft werden? ... Das ist vielleicht ein bisschen kompliziert - vielleicht erklären wir es an einem praktischen Beispiel mal ganz kurz. Ich hab ein Gedicht, das heißt "Schmähkritik". Können wir vielleicht dazu eine türkisch angehauchte Version von einem Nena-Song haben? Und können wir vielleicht ganz kurz nur die türkische Flagge im Hintergrund bei mir? Sehr gut.

Also, das Gedicht. Das, was jetzt kommt, das darf man nicht machen?

Kabelka: Darf man nicht machen.
...
Böhmermann: Okay. Das Gedicht heißt "Schmähkritik".

Sackdoof, feige und verklemmt,
ist Erdogan, der Präsident.
Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner,
selbst ein Schweinefurz riecht schöner.
Er ist der Mann, der Mädchen schlägt
und dabei Gummimasken trägt.
Am liebsten mag er Ziegen ficken
und Minderheiten unterdrücken,

Böhmermann: Das wäre jetzt quasi 'ne Sache, die...

Kabelka: Nee!

Kurden treten, Christen hauen
und dabei Kinderpornos schauen.
Und selbst abends heißts statt schlafen,
Fellatio mit hundert Schafen.
Ja, Erdogan ist voll und ganz,
ein Präsident mit kleinem Schwanz.

Böhmermann: Wie gesagt, das ist 'ne Sache, da muss man...

Kabelka: Das darf man nicht machen.

Böhmermann: Das darf man nicht machen.

Kabelka: Nicht "Präsident" sagen.

Jeden Türken hört man flöten,
die dumme Sau hat Schrumpelklöten.
Von Ankara bis Istanbul
weiß jeder, dieser Mann ist schwul,
pervers, verlaust und zoophil -
Recep Fritzl Priklopil.
Sein Kopf so leer wie seine Eier,
der Star auf jeder Gangbang-Feier.
Bis der Schwanz beim Pinkeln brennt,
das ist Recep Erdogan, der türkische Präsident.
....
Böhmermann: Dankeschön. Also, das ist jetzt 'ne Geschichte, was könnte da jetzt passieren? 
 
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"Stehen Hitler und Göring auf dem Berliner Funkturm. Sagt Hitler: ,Ich möchte den Berlinern eine Freude machen!' Antwortet Göring: ,Dann spring' doch runter!'" Der Witz, der heute wenig komisch wirkt, wurde vor 70 Jahren erzählt und sicher häufig mit Gekicher quittiert – und war mindestens einmal tödlich: Eine technische Zeichnerin, die den Fünfzeiler einem Kollegen erzählt hatte, wurde vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 26. Juni 1943 geköpft.
Die Welt vom 29.August 2008
 
Das Bundesverfassungsgericht stellt wegen der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit in einer Demokratie an die Einstufung einer Äußerung als Schmähkritik hohe Anforderungen. Der Schutz von Meinungsäußerungen, die sich als Schmähung Dritter darstellen, tritt hinter dem Persönlichkeitsschutz zurück.
 
Artikel 5 des Grundgesetzes
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre
 
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

MAJESTÄTSBELEIDIGUNG, was ist denn das?

Strafgesetzbuch (StGB)
§ 103 Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten
 
(1) Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt oder wer mit Beziehung auf ihre Stellung ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, oder einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Ist die Tat öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen, so ist § 200 anzuwenden. Den Antrag auf Bekanntgabe der Verurteilung kann auch der Staatsanwalt stellen.
 
§ 104a Voraussetzungen der Strafverfolgung
 
Straftaten nach diesem Abschnitt werden nur verfolgt, wenn die Bundesrepublik Deutschland zu dem anderen Staat diplomatische Beziehungen unterhält, die Gegenseitigkeit verbürgt ist und auch zur Zeit der Tat verbürgt war, ein Strafverlangen der ausländischen Regierung vorliegt und die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt. 
 
§ 200 Bekanntgabe der Verurteilung
 
(1) Ist die Beleidigung öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen und wird ihretwegen auf Strafe erkannt, so ist auf Antrag des Verletzten oder eines sonst zum Strafantrag Berechtigten anzuordnen, daß die Verurteilung wegen der Beleidigung auf Verlangen öffentlich bekanntgemacht wird.
(2) Die Art der Bekanntmachung ist im Urteil zu bestimmen. Ist die Beleidigung durch Veröffentlichung in einer Zeitung oder Zeitschrift begangen, so ist auch die Bekanntmachung in eine Zeitung oder Zeitschrift aufzunehmen, und zwar, wenn möglich, in dieselbe, in der die Beleidigung enthalten war; dies gilt entsprechend, wenn die Beleidigung durch Veröffentlichung im Rundfunk begangen ist. 

http://www.zeit.de/1966/43/gefaehrliche-glossen 

Der Zoologe von Berlin

Hört ihr Kinder, wie es jüngst ergangen
Einem Zoologen in Berlin!
Plötzlich führt ein Schutzmann ihn gefangen
Vor den Untersuchungsrichter hin.
Dieser tritt ihm kräftig auf die Zehen,
Nimmt ihn hochnotpeinlich ins Gebet
Und empfiehlt ihm, schlankweg zu gestehen,
Daß beleidigt er die Majestät.

Dieser sprach: »Herr Richter, ungeheuer
Ist die Schuld, die man mir unterlegt;
Denn daß eine Kuh ein Wiederkäuer,
Hat noch nirgends Ärgernis erregt.
Soweit ist die Wissenschaft gediehen,
Daß es längst in Kinderbüchern steht.
Wenn Sie das auf Majestät beziehen,
Dann beleidigen Sie die Majestät!

Vor der Majestät, das kann ich schwören,
Hegt ich stets den schuldigsten Respekt;
Ja, es freut mich oft sogar zu hören,
Wenn man den Beleidiger entdeckt;
Denn dann wird die Majestät erst sehen,
Ob sie majestätisch nach Gebühr.
Deshalb ist ein Mops, das bleibt bestehen,
Zweifelsohne doch ein Säugetier.

Ebenso hab vor den Staatsgewalten
Ich mich vorschriftsmäßig stets geduckt,
Auf Kommando oft das Maul gehalten
Und vor Anarchisten ausgespuckt.
Auch wo Spitzel horchen in Vereinen,
Sprach ich immer harmlos wie ein Kind.
Aber deshalb kann ich von den Schweinen
Doch nicht sagen, daß es Menschen sind.

Viel Respekt hab ich vor dir, o Richter,
Unbegrenzten menschlichen Respekt!
Läßt du doch die ärgsten Bösewichter
In Berlin gewöhnlich unentdeckt.
Doch wenn hochzurufen ich mich sehne
Von dem Schwarzwald bis nach Kiautschau,
Bleibt deshalb gestreift nicht die Hyäne?
Nicht ein schönes Federvieh der Pfau?«

Also war das Wort des Zoologen,
Doch dann sprach der hohe Staatsanwalt;
Und nachdem man alles wohl erwogen,
Ward der Mann zu einem Jahr verknallt.
Deshalb vor Zoologie-Studieren
Hüte sich ein jeder, wenn er jung;
Denn es schlummert in den meisten Tieren
Eine Majestätsbeleidigung.

Frank Wedekind
 

Freitag, 15. April 2016

Oder, mein Fluß - Günter Eich

Ich, der ich kein Naturliebhaber bin, und nur mit Gewalt oder aus tiefer Zuneigung zum aktiven Besuch ebendieser gebracht werden kann, habe zwei ganze Tage auf einen Fluss gestarrt. Er fliesst. Stetig aber voller Wirbel, langsam oder doch schnell, denn haben wir nicht eine sehr schnelle Erwartung an schnell und erscheint uns nicht alles langsam, was nicht sofort geschieht? Der Fluß, was tut er, er fließt. Schwäne fliegen über ihn. Er heißt Oder, Odra, Wódra. Er fließt durch Tschechien, Polen, ist eine Strecke lang Grenzfluß zwischen Deutschland und Polen und ergießt sich schlußendlich im Stettiner Haff in die Ostsee. Er floß als Polen zwischen Österreich, Russland und Deutschland wie eine Torte verteilt wurde. Er floß, als Friedrich um seinen Freund Katte weinte, er floß, als die sowjetische Armee, junge Männer mit Wut im Herzen und schlechten Schuhen, endlich das Feindesland erreichten. 
Es liegt Hoffnung in seiner Wandelbarkeit und Stetigkeit. Nicht Hoffnung für uns, aber Hoffnung für den Fluß.


 

Oder, mein Fluß,
In Tropfen sickert es
aus Gebirgen von Zeit,
Wasser, das nach Kindheit schmeckt.

Oder, mein Fluss,
eine Breite, um Holüber zu rufen, 
ein November für Regen. 
Schleier, über die Rübenäcker gezogen, 
nicht unterscheidbar Wiesenufer und Bergufer, 
Stimmen auf Buhnen und Treidelweg, 
bei den strähnigen Weiden und Schilfrohr, 
Glocken aus Frankfurt 
und die Sagen der Reitweiner Berge, 
die Fähre in Lebus 
und das Haus rechts der Oder, wo ich 
geboren bin.

Günter Eich

Dazu:
Reinhard Döhl | Stichworte für eine Rekonstruktion

Oder, mein Fluß - 1951 wahrscheinlich notierte Günter Eich diesen lakonischen Vers zum ersten Mal als Überschrift eines für ihn relativ langen Gedichtes, geschrieben für eine Hörspieladaption der Fontaneschen Kriminalerzählung "Unterm Birnbaum". Günter Eich, der diesen Text zu den Aufführungen des Hörspiels selber sprach, hat in der Folgezeit das Gedicht mehrfach überarbeitet und dabei den Vers ins Gedicht selbst eingezogen:


Oder, mein Fluß,
der keine Quelle hat:
In Tropfen sickert es
aus Gebirgen von Zeit,
Wasser, das nach Kindheit schmeckt.
Oder, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen,
ein November für Regen.
1954 zum ersten, 1963 in einer überarbeiteten Fassung zum zweiten Mal an abgelegener Stelle veröffentlicht, hat Günter Eich das immer länger werdende Gedicht jedoch nie einem Gedichtband eingeordnet, lediglich die summierenden Schlußverse einer bisher unveröffentlichten (Vor-)Fassung in formelhafter Reduktion als dritte der "Neuen Postkarten" 1964 "Zu den Akten" genommen. Oder, mein Fluß, erklärbar
aus Quellen und Nebenflüssen,
mein Morgengewinn, meine Unruh,
meine Sanduhr über den Ländern.
Warum sind dieser lakonische Vers und über ihn seine verschiedenen Kontexte haften geblieben? Was macht diese Erinnerung des in Lebus geborenen Günter Eich an den Fluß seiner Jugend so einprägsam? Die Oder (die Landschaft des Oderbruchs) hat im Werk Günter Eichs mehrfach Spuren hinterlassen, in zwei frühen Erzählungen von 1931, "Morgen an der Oder" und "Ein Begräbnis", dann in einem frühen Hörspiel(-fragment) von 1933, "Ein Traumspiel":

Da fließt ein Fluß, ich sehe von hügeligen Wiesen herunter, es ist ein Fluß, den ich von einer weiten Erinnerung her kenne. Ist es die Oder, ist es der Red River? Aber wir begegnen der Oder, dem Oderbruch auch in Theodor Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", in der Erzählung "Unterm Birnbaum", und in ihrer Hörspieladaption wiederum bei Günter Eich. In Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater, erinnert das einleitende Gedicht. Eine Wahlverwandtschaft deutet sich an. Macht dies den Vers Günter Eichs schon erinnernswert? Wohl nur zum Teil. Auffallend durch alle Fassungen ist das Possessivpronomen, die späte Inbesitznahme eines Flusses, dessen Ufer Günter Eich schon mit 11 Jahren verließ, einer Landschaft, in die es für ihn nach 1945 keine Rückkehr mehr gab. Auffallend ist die Rigorosität, mit der Günter Eich Jugend (mein Morgengewinn), Lebensantrieb (meine Unruh) und Einsicht in die Vergänglichkeit (meine Sanduhr) metaphorisch an den Fluß seiner Jugend bindet. Haben Fluß und Landschaft so sehr das Eichsche Werk geprägt? Oder liegt hier nicht vielmehr eine nachträgliche Projektion auf diesen Fluß, in diese Landschaft vor, werden Fluß und Landschaft gleichsam zu einem Katalysator des Werks?
Abschied und Vergänglichkeit ziehen sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Fassungen des Gedichts.

Wer kommt, geht bald wieder fort, sagt es Günter Eich, und: Hier wohnen [...] die Abschiede und die Wiederkehr. Günter Eich nennt Belege, den Mörder Sternickel, Fontane, Katte, der in Küstrin enthauptet wird, Zerstört ist das Haus,
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.
Von (unwiederholbarer) Kindheit spricht schon das genannte "Traumspiel": Kehre wieder, Manitou, Gott der Kindheit! von Mord, Tod, Vergänglichkeit erzählen die anderen Oder-Texte ("Morgen an der Oder", "Unterm Birnbaum") von Anfang an. Wie auch sonst bei Günter Eich ist Vordergründiges hintersinnig. Die Erinnerung an die Fähre in Lebus und das Haus
rechts der Oder, wo ich geboren bin,
erfährt ihren Doppelsinn vom zerstörten Haus, wo Kleist seine Kindheit verbrachte, und der Breite des Flusses, einer Breite um Holüber zu rufen. Oder und Acheron, ein Fährmann der auch Charon heißt, auch davon spricht unausgesprochen das Gedicht. "Der Strom", eine Hörfolge von 1950, bestätigt den Befund.

Steig ein in das heitere Boot, - es ist nicht die Charonsfähre, beginnt ein Gedicht, aber ein späteres schließt: Und plötzlich ... weißt du, wer ... mit dem Ruder im Nachen stand
und du nennst ihn ohne Entsetzen.
So doppeldeutig Fähre und Holüber sind, so doppelsinnig ist für Günter Eich auch der Vorgang des Übersetzens. Als Übersetzen aus einer Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, als sprachliche Annäherung an diesen Urtext hat Günter Eich sein Dichten verstanden. Auch diesen Übersetzungsvorgang hat er wiederholt thematisiert (u.a. in "Das Jahr Lazertis" als Annäherung an diesen, in "Sabeth" als nicht wieder rückgängig zu machende Entfernung von diesem Urtext). Erst im Doppelsinn von übersetzen und übersetzen erschließen sich die Fassungen des Oder-Gedichts vollends, werden die Verse Oder, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen
in ihrer ganzen Konsequenz verständlich. Günter Eich hat diese Verse erst in der Überarbeitung in den Text eingefügt. Das gibt ihnen Gewicht. Eine Eichsche poetica in nuce? Vielleicht. Und vielleicht deswegen hängengeblieben, wie so manches.

Aus: Der Reiz der Wörter. Stuttgart: Reclam 1978

VARIANTEN ÜBER DIE JAHRE:


Die Fähre in Lebus und das Haus
Rechts der Oder, wo ich geboren bin,
die Schmiede in Podelzig und die Erzählungen
der Großmutter, die den Mörder Sternickel sah,
die Ferne fährt in Kähnen vorbei
gleichgültig und mit Flaggen am Bug.


Wer kommt, geht bald wieder fort.
In Küstrin sah Friedrich, wie Katte enthauptet ward,
in Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater,
Zerstört ist das Haus,
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.

Oder, mein Fluß, erklärbar
Aus Quellen und Nebenflüssen,
mein Morgengewinn, meine Unruh,
meine Sanduhr über den Ländern.


Steig ein in das heitere Boot, - es ist nicht die Charonsfähre,
du selbst hast die Planken in deinem Traume gezimmert.
[...] wage dich über den Strom. Sieh, alles Geträumte,
drüben ist es Wirklichkeit,


Und plötzlich erkennst du das Nebelland,
weißt die Breite des Stromes zu schätzen
und weißt, wer dich führte an seiner Hand
und mit dem Ruder im Nachen stand
und du nennst ihn ohne Entsetzen.


Unruhe in Ackerfurchen und Holundergebüsch,
Unverständliches in den Herzen.
Das Vollkommene gedeiht nicht,
hier bändigt keiner zu edlem Maß das Ungebärdige,
Und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung
ungeschieden vom Hellen.


Unruhe bei Windstille und Wind,
eine Besonderheit im Klang der Uhren,
das Mehl des Holzwurmes als Hieroglyphe,
die Brennereien in den Gutshöfen,
Unzufriedenheit, die sich in Schnaps ertränkt.
Wer kommt, geht bald
wieder fort.
In Küstrin sah (Friedrich, wie Katte enthauptet ward.
In (Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater.
Zerstört ist das Haus,
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.
Unruhe in Ackerfurchen und Holundergebüsch,
Unverständliches in den Herzen.
Das Vollkommene gedeiht nicht,
hier bändigt keiner zu edlem Maß das Ungebärdige,
und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung
ungeschieden vom Hellen.

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DIE REITWEINER SAGE - Der schlafende Schuster im Reitweiner Schloßberg
Als einst an einem schwülen Sommertage ein Schuster von der Messe in Frankfurt (Oder) heimkehrte und in der Nähe des Reitweiner Schloßberges sich gelagert hatte, vernahm er plötzlich wundersame Musik. Ein reichgekleideter Diener trat an ihn heran und lud ihn aufs Schloß ein, dessen Ruinen auf dem Berge standen. Der Schuster kam mit, wurde reichlich mit Speisen und Trank erquickt und schlief dann ein. Als er aufwachte, saß er wieder auf seinem Ausgangspunkt. Gedankenverloren trat er den Heimweg an. Zuhause kam ihm alles fremd vor. Niemand kannte den Fremdling mehr, keine Spur seiner Familie war mehr zu entdecken. Er hatte hundert Jahre im Reitweiner Schloßberg verschlafen.
In Reitwein war ein Haltepunkt der Bahnstrecke Küstrin-Kietz nach Frankfurt (Oder), die seit 1999 stillgelegt ist. 2006 fand die Demontage der Schienen statt.

Dienstag, 12. April 2016

Das Oderbruch - mein erstes Mal


Ein ehemaliger Verladeturm direkt am Ufer der Oder in Groß-Neuendorf, umgebaut zu einem gänzlich individuellen Erholungsort, in dem man es sich wohergehen lassen kann. Man sieht und spürt noch den Industriebau, die Treppen sind steil und teils aus sichtbarem Beton, die Decken kantig, mit unregelmäßig gesetzten Querbalken, aber die Einrichtung ist mit Bedacht geplant, vorsorglich und praktisch. Also im Turm rauer, doch äußerst bequemer Luxus und draußen ganz viel Oder. Man ist es hier schön. 


Ausblick mit zwei fliegenden und einem schwimmenden Schwan.

 Nach der griechischen Mythologie sollen Adonisröschen aus den Tränen der Aphrodite entsprossen sein, als diese den Tod des Adonis beweinte... sagt Wiki. Man nennt sie aber auch Kleines Teufelsauge.

 Die pontischen Hänge von Lebus (was für ein Name). 
Große Hügel in Puddingform übersät mit dicken, strahlendgelben Blumen, 
eben den Adonisröschen. 

 Weide, vom Blitz zerteilt, vom Sturm umgerissen, aber sie grünt weiter.

 Ein fast zertretenes Veilchen.
 Oderauen grafisch.

 DDR-Fahne mit West-Satellitenschüssel und Graffiti.
 Windstiller Spiegelfluß. Alles zweimal, im Wasser, an Land.
 Riesenbocksgeweih

 Sehr einsames Boot

 Doppelbaum

Kletterbaum