Sonntag, 28. September 2014

Neue Bühne Senftenberg - Das Jahr100 Spektakel



1978 - eine Freundin spielte Minna von Barnhelm am Theater der Bergarbeiter Senftenberg. Den Regisseur, eigentlich Dramaturg, ihren Lebensgefährten, kannte ich von Besuchen bei ihr, wo er nah an der Heizung saß, über verschiedene körperliche Leiden klagte und höchst spannend über Theater sprach. Dies war seine erste Inszenierung, noch fast traditionell, aber ganz leicht, ganz hurtig und klar. Kurze Zeit danach wurde er nach Anklam "verbannt", dass heißt die Anfahrt als Mitfahrer in verschiedenen Trabbis wurde länger, und der Rest ist Theatergeschichte. *

Später war ich fast drei Jahre in Frankfurt an der Oder engagiert, mit Abstechern nach Schwedt, Eisenhüttenstadt und sämtlichen NVA-Stützpunkten der Umgebung, aber nach Senftenberg bin ich nicht wieder gekommen.

Bis gestern. Und was sehe ich - kurz hintereinander zwei Trabbis, einer davon zum Cabrio umgebaut und davon hat die Stadt auch was. Ganz sorgsam und liebevoll neu verputzt und hell gestrichen, steht da eine DDR-Kleinstadt mitten im Brandenburgischen.
Mit dieser Spielzeit beginnt hier eine neue Mannschaft, der langjährige Intendant Sewan Latchinian ist nach Rostock weitergezogen und Manuel Souberand dafür aus Esslingen hergewandert. 
Der Eröffnungsabend heißt: Das Jahr100 Spektakel - http://www.theater-senftenberg.de/de/spielplan/premieren/das-jahr100spektakel.html

Zuerst:
GERMANIA 3 - Gespenster am toten Mann

3

NÄCHTLICHE HEERSCHAU

Nacht Berliner Mauer Thälmann und Ulbricht auf Posten.


Thälmann

Das Mausoleum des deutschen Sozialismus. Hier liegt er

begraben. Die Kränze sind aus Stacheldraht, der Salut wird

auf die Hinterbliebenen abgefeuert. Mit Hunden gegen die

eigene Bevölkerung. Das ist die rote Jagd. So haben wir uns

das vorgestellt in Buchenwald und Spanien.
Ulbricht

Weißt du was Bessres.

Thälmann

Nein.

Ulbricht

Wenn du das Ohr an den Boden legst. kannst du sie schnar-

chen hören, unsre Menschen, Fickzellen mit Fernheizung

von Rostock bis Johanngeorgenstadt, den Bildschirm vorm

Schädel, den Kleinwagen vor der Tür.

(Schüsse. Leuchtspur.)

Wieder einer. Hoffentlich ist es nicht mein Abschnitt

Meine Tochter (35) hatte das Stück sehr aufgewühlt und dann sagte sie: nur ein paar Jahre jünger und man versteht nix mehr. Geschichte verschwindet nie, aber das Wissen um sie schon, und schnell und gründlich. Meine hinreißende Studententruppe vom letzten Jahr, alle in den Neunzigern geboren, hatten, nachdem wir eine Woche mit Geschichtserforschung des 20. Jahrhunderts zugebracht hatten, beim Lesen von Müllers "Mauser" den Schrecken und die Fassungslosigkeit der Unschuldigen in den Augen.


Die kleine Reise hat sich sehr gelohnt. Ich hatte ganz stark das Gefühl, dass die Senftenberger ihr Theater mögen und es behalten wollen, ein sehr wichtiger Punkt, bedenkt man dass es im Land Brandenburg nur noch wenige Stadttheater mit Ensemble gibt. Frankfurt/Oder und Brandenburg sind schon weg. Schwedt, Potsdam, Cottbus und Senftenberg leben noch. Möge ihnen ein langes, nicht zu unterfinanziertes und lebendiges Leben beschert sein.

* Frank Castorf


Samstag, 27. September 2014

Verrücktes Blut - Maxim Gorki Theater


O schöne neue Welt, die solche Bürger hat ...
William Shakespeare Der Sturm

Ich war im Theater. Es war lustig. Nichts wirklich Neues, aber unerwartet spannend. VERRÜCKTES BLUT vom Dramaturgen Jens Hillje und dem Regisseur Nurkan Erpulat in Zusammenarbeit mit den Spielern für das Theater in der Naunystrasse, auf der Grundlage des französischen Films "Heute trage ich einen Rock", entwickelt, jetzt zu sehen im Maxim Gorki Theater, dass sich selbst als Zentrum des postmigrantischen Theaters bezeichnet.
Nun rattert es in meinem Kopf und das ist gut und auch erschreckend. 


THILO SARRAZIN - in meiner faulen linksbürgerlichen Arroganz habe ich seine Bücher nicht gelesen, nur verurteilt. Erst heute, nachdem ich im Maxim Gorki Theater "Verrücktes Blut" gesehen habe und nach der anschließenden Diskussion mit meinen Freundinnen, von denen eine Lehrerin einer jetzt achten Klasse in Neukölln ist, beginne ich mich zu fragen, ob mein Hochmut nicht ignorant und also gefährlich sein könnte.

In­te­gra­ti­on ist eine Leis­tung des­sen, der sich in­te­griert. Je­man­den, der nichts tut, muss ich auch nicht an­er­ken­nen. Ich muss nie­man­den an­er­ken­nen, der vom Staat lebt, die­sen Staat ab­lehnt, für die Aus­bil­dung sei­ner Kin­der nicht ver­nünf­tig sorgt und stän­dig neue klei­ne Kopf­tuch­mäd­chen pro­du­ziert. Das gilt für 70 Pro­zent der tür­ki­schen und 90 Pro­zent der ara­bi­schen Be­völ­ke­rung in Ber­lin.

Thilo Sar­ra­zin im In­ter­view mit dem Ma­ga­zin „Lett­re In­ter­na­tio­nal“ Nr. 86 vom 01.​10.​2009 , Seite 197-​201


Wir haben in Ber­lin vier­zig Pro­zent Un­ter­schicht­ge­bur­ten, und die fül­len die Schu­len und die Klas­sen, dar­un­ter viele Kin­der von Al­lein­er­zie­hen­den. Wir müs­sen in der Fa­mi­li­en­po­li­tik völ­lig um­stel­len: weg von Geld­leis­tun­gen, vor allem bei der Un­ter­schicht.

Sar­ra­zin im In­ter­view mit dem Ma­ga­zin „Lett­re In­ter­na­tio­nal“ Nr. 86 vom 01.​10.​2009 , Seite 197-​201


Wäh­rend die Tüch­ti­gen auf­stei­gen und die Un­ter­schicht oder un­te­re Mit­tel­schicht ver­las­sen, wur­den und wer­den in einer ar­beits­ori­en­tier­ten Leis­tungs­ge­sell­schaft nach »unten« vor allem jene ab­ge­ge­ben, die we­ni­ger tüch­tig, we­ni­ger ro­bust oder ganz schlicht ein biss­chen düm­mer und fau­ler sind.


Thilo Sar­ra­zin: Deutsch­land schafft sich ab, Mün­chen, 13. Auf­la­ge 2010, Seite 79-80 


Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch."  
B. Brecht Arturo Ui

Was für ein gewalttätiges Wort: "Unterschicht". - Verbales Attentat, entmenschlichender Stempel, Entsubjektivierung einer großen Menge von Menschen. Endlösungsmentalität. Be-, Verurteilung von Personen auf der Grundlage ihrer sozialen Ausgangssituation.
In Aldous Huxleys "Schöner Neuen Welt" wird eine Unterschicht, die Epsilons, durch Sauerstoffentzug im Embryonalstadium erzeugt, Irgendwer muß ja die Drecksarbeit verrichten. 
Heute Abend im Theater wurden zumeist unsere Erwartungen, also die der weißen Mittelschicht, verhandelt und wie ihnen nicht oder nur mangelhaft entsprochen wird. Aber wie werden "wir" von den Anderen betrachtet, beurteilt, verurteilt? Wie groß ist der Riss zwischen unseren Welten wirklich?
In meinem Hirn mischen sich Islam, ISIL, Osama bin Laden, maurische Archtektur und Dichtung, Nathan der Weise und mangelhafte Kenntnisse des Koran zu einem unklaren und vorurteilsbehafteten Brei. 
Pädophile Erzbischöfe sind nicht typisch für den Katholizismus, genausowenig wie es Inquisition und Hexenverbrennungen waren?
Der Islam, im 7. Jahrhundert nach UNSERER Zeitrechnung entstanden, befindet sich jetzt also ungefähr in einer Zeit entsprechend UNSEREM Mittelalter? 
Lebe ich in einer Blase ungeprüfter Toleranz? Mir geht es gut, ziemlich. Vielen anderen nicht. Wenn die nun anders leben wollen als ich, was dann?
Nur um es klar zu sagen, ich lebe gern in einer, wenn auch sehr wackeligen, Demokratie, ich bin eine anarchische linke Feministin und wünsche so wenig Staatsintervention in meine Angelegenheiten wie nur irgend möglich. Aber wie kann ich diese Realität aufrechterhalten, ohne ein übles Arschloch zu werden, ohne ignorant, ausschließend, letztendlich rassistisch zu werden?
Ich bin ver-wirrt, aus meiner Mitte geworfen. Ich will keine Schleier, Burkas, keine weibliche Beschneidung, keinen Gott, der straft, verdammt und aussortiert. Aber ich will auch nicht einen Großteil meiner Mitmenschen ablehnen, verachten oder wegrationalisieren. Was tun?

Von der Website Der Alternative für Deutschland - AfD - konsensfähiger Rassismus für den Hausgebrauch oder für wen die NPD zu unästhetisch ist:

Zuwanderung und Asyl 

Da wir demographische Nachhaltigkeit ernst nehmen, bejahen wir die Zuwanderung integrationswilliger und integrationsfähiger Einwanderer nach Deutschland.
Weil wir uns der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlen, muss die Einwanderungspolitik nach klaren Kriterien gesetzlich geordnet werden, z. B. in Anlehnung an entsprechende Kriterien wie in Australien oder Kanada. Entscheidend sind Sprachkenntnisse, Ausbildung, berufliches Wissen und die Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarktes. Eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme – auch aus Ländern der EU – lehnt die AfD strikt ab.

Sozialleistungen für Zuwanderer sind ohne jede Einflussnahme der EU ausschließlich nach deutscher Gesetzgebung zu gewähren. Leistungen wie ALG II (Arbeitslosengeld), Kinder- und Wohngeld sollen nur solche Zuwanderer erhalten, die in erheblichem Umfang Steuern, bzw. Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland gezahlt haben oder deren Eltern das getan haben.

Politisch Verfolgten im Sinne des Grundgesetzes ist Asyl zu gewähren. Als Gäste des Landes sollen Asylanten würdig behandelt und als Mitmenschen akzeptiert werden, wozu auch das Recht gehört, ihr Auskommen selbst erarbeiten zu dürfen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Aus Gründen der Humanität ist es eine Pflicht, Kriegsflüchtlingen bei uns oder an anderen sicheren Aufenthaltsorten mit Unterkünften und dem notwendigen Lebensunterhalt beizustehen.

Dieser französische Film diente als die Vorlage:
http://de.wikipedia.org/wiki/Heute_trage_ich_Rock!

Donnerstag, 25. September 2014

Antigone 2 - Antigonick von Anne Carson - ein Bilderbuch - ein Comicstrip


Hier sind Kreons Verben für heute:
URTEILE FÄLLEN
GESETZE ERLASSEN
ANSTOSS ERREGEN
KAPITAL AUS ETWAS SCHLAGEN.

Hier sind Kreons Substantive:
MÄNNER
VERNUNFT
VERRAT
TOD
STAATSSCHIFF
MEINS.

Here are Kreon’s verbs for today: 
ADJUDICATE 
LEGISLATE 
SCANDALIZE 
CAPITALIZE. 

Here are Kreon’s nouns: 
MEN 
REASON 
TREASON
DEATH
SHIP OF STATE 
MINE.


ANTIGONICK 
Anne Carson & Bianca Stone &
Robert Currie

Antigon-nick - in the nick of time = gerade rechtzeitig, im letzten Moment - dieser Nick ist der stumme Mitspieler. Wenn alle anderen am Ende, die Bühne verlassen haben, bleibt er, Nick, der fortfährt zu vermessen/zu messen, "who continues measuring".


Die erste Seite

CHORUS (Ungeheuer ist viel...)

Many terribly quiet customers exist but none more
terribly quiet than Man:
his footsteps pass so perilously soft across the sea
in marble winter,
up the stiff blue waves and every Tuesday
down he grinds the unastonishable earth
with horse and shatter.

Shatters too the cheeks of birds and traps them in his forest headlights,
salty silvers roll into his net, he weaves it just for that,
this terribly quiet customer.
He dooms
animals and mountains technically,
by yoke he makes the bull bend, the horse to its knees.

And utterance and thought as clear as complicated air and
moods that make a city moral, these he taught himself.
The snowy cold he knows to flee
and every human exigency crackles as he plugs it in:
every outlet works but
one.
Death stays dark.

Death he cannot doom.
Fabrications notwithstanding.
Evil,
good,
laws,
gods,
honest oath taking notwithstanding.

Hilarious in his high city
you see him cantering just as he please,
the lava up to here.
 
© Antigonick by Anne Carson

“seven gates / and in each gate a man / and in each man a death / at the seventh gate.”
"sieben tore / und in jedem tor ein mann / und in jedem mann ein tod / am siebten tor."

Übersetzung & Text & Handschrift: Anne Carson
Illustrationen: Bianca Stone
Design: Robert Currie

Mittwoch, 24. September 2014

Antigone 1 - remixed


Zum Einstieg, mein Thema für die nächsten Monate. 
Eine Stadt, Theben, ein Bürgerkrieg mit ausländischer Beteiligung, der für die Stadt unerwartet siegreich endet. 
Wie wird der Frieden aussehen? 
Wie schafft man Frieden?
Die Schuldigen strafen?
Die Ordnung wiederherstellen?
Nach vorn schauen? 
Die Toten auf beiden Seiten betrauern?
Und da ist es, das grässlich-nötige Wort - die Vergangenheit aufarbeiten? 
Oder, wie es so oft genannt wird, sie "bewältigen"? 
Überwältigen? 

Σοφοκλής - Αντιγόνη

Sophokles - Antigone

Πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει

Viel sind der Wunder, und nichts
ist wunderbarer als der Mensch ist.

πολλὰ (“viel”) τὰ δεινὰ (“[sind] die Wunder”) κοὐδὲν (“und nichts”) ἀνθρώπου (“als der Mensch”) δεινότερον (“wunderbarer”) πέλει (ein emphatisches “ist”) 
oder
Τὰ δεινά (ta deina) ist Neutrum Plural, τά (ta) ist der Artikel, δεινά (deina) ist also substantiviert und heißt damit svw. die Ungeheuerlichkeit(en), das Ungeheure, das Furchtbare; ... κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει: "... doch (das καί ist hier offenbar nicht reihend, sondern steigernd) nichts Ungeheureres als der Mensch regt sich."
oder
τα δεινά - das Leid
 
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CHOR
 
Ungeheuer ist viel und nichts
Ungeheurer als der Mensch.
Er überschreitet auch das graue Meer
Im Notossturm *
Unter tosenden Wogen hindurch.
Erde, der Götter höchste,
Die unerschöpfliche, unermüdliche,
Bedrängt sein Pflug. Auf und ab
Ackern die Rosse ihm
Jahr um Jahr.

Leichtgesinnter Vögel Volk
Fängt er im Garn,
Wilder Tiere Geschlechter
Und Kinder des Meers
In verschlungenem Netzgeflecht,
Der kluge Mensch.
Mit List bezwingt er,
Was haust auf Höhen
Und schweift im Freien.
Dem Pferd mit der mächtigen Mähne,
Dem unbändigen Bergstier
Zähmt er den Nacken
Unter das Joch.

Und die Sprache
Und luftgewirkte Gedanken
Lehrte er sich
Und den Trieb zum Staat
Und Obdach
Gegen ungastlichen Reif vom Himmel
Und Regengeschosse,
Allberaten.
Ratlos tritt er
Vor nichts, was kommt,
Nur dem Tod entrinnt er nicht.
Aber aus heillosen Leiden
Ersann er sich Rettung.

Mit der Erfindung Kunst
Reich über Hoffen begabt,
Treibt's zum Bösen ihn bald
Und bald zum Guten.
Ehrend des Landes Gesetz
Und der Götter beschwornes Recht,
Ist er groß im Volk. Nichts im Volk,
Wer sich dem Unrecht gab
Vermessenen Sinns.
Nie sei Gast meines Herdes, 
Nie mein Gesinnungsfreund,
Wer solches beginnt.
Übersetzer nicht gefunden
* Notosturm = griech. Νότος, lat. Notus: der Südwind, der im Herbst manchmal für die Schiffer wegen der unregelmäßigen Sturmböen eine große Gefahr bedeutete.

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Caspar Neher 1949 Entwurf für Brechts Antigone 
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CHOR 

Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheuerer, als der Mensch.
Denn der, über die Nacht
Des Meers, wenn gegen den Winter wehet
Der Südwind, fähret er aus
In geflügelten sausenden Häusern.
Und der Himmlischen erhabene Erde,
Die unverderbliche, unermüdete,
Reibet er auf; mit dem strebenden Pfluge,
Von Jahr zu Jahr,
Treibt sein Verkehr er, mit dem Rossegeschlecht,
Und leichtträumender Vögel Welt
Bestrickt er, und jagt sie;
Und wilder Tiere Zug,
Und des Pontos salzbelebte Natur
Mit gesponnenen Netzen,
Der kundige Mann.
Und fängt mit Künsten das Wild,
Das auf Bergen übernachtet und schweift.
Und dem raumähnigen Rosse wirft er um
Den Nacken das Joch, und dem Berge
Bewandelnden unbezähmten Stier.
Und die Red und den luftigen
Gedanken und städtebeherrschenden Stolz
Hat erlernet er, und übelwohnender
Hügel feuchte Lüfte, und
Die unglücklichen zu fliehen, die Pfeile. Allbewandert,
Unbewandert. Zu nichts kommt er.
Der Toten künftigen Ort nur
Zu fliehen weiß er nicht,
Und die Flucht unbeholfener Seuchen
Zu überdenken.
Von Weisem etwas, und das Geschickte der Kunst
Mehr, als er hoffen kann, besitzend,
Kommt einmal er auf Schlimmes, das andre zu Gutem.
Die Gesetze kränkt er, der Erd und Naturgewaltger
Beschwornes Gewissen;
Hochstädtisch kommt, unstädtisch
Zu nichts er, wo das Schöne
Mit ihm ist und mit Frechheit.
Nicht sei am Herde mit mir,
Noch gleichgesinnet,
Wer solches tut.

Übersetzt von Friedrich Hölderlin

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 Polnisches Theaterplakat von Wieslaw Grzegorczyk
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CHOR
 Ungeheuer ist viel, und nichts
ungeheurer als der Mensch.
Der nämlich, über das graue Meer
im stürmischen Süd fährt er dahin,
andringend unter rings
umrauschenden Wogen. Die Erde auch,
der Göttlichen höchste, die nimmer vergeht
und nimmer ermüdet, schöpfet er aus
und wühlt, die Pflugschar pressend, Jahr
um Jahr mit Rössern und Mäulern.
Leichtaufmerkender Vögel Schar
umgarnt er und fängt, und des wilden Getiers
Stämme und des Meeres salzige Brut
mit reichgewundenem Netzgespinst-
er, der überaus kundige Mann.
Und wird mit Künsten Herr des Wildes,
des freien schweifenden auf den Höhen,
und zwingt den Nacken unter das Joch,
den dichtbemähnten des Pferdes, und
den immer rüstigen Bergstier.

Die Rede auch und den luft´gen Gedanken und
die Gefühle, auf denen gründet die Stadt,
lehrt er sich selbst, und Zuflucht zu finden vor
unwirtlicher Höhen Glut und des Regens Geschossen.
Allbewandert er, auf kein Künftiges
geht er unbewandert zu. Nur den Tod
ist ihm zu fliehen versagt.
Doch von einst ratlosen Krankheiten
hat er Entrinnen erdacht.

So über Verhoffen begabt mit der Klugheit
erfindender Kunst,
geht zum Schlimmen er bald und bald zum
Guten hin.
Ehrt des Landes Gesetze er und der Götter
beschworenes Recht-
Hoch steht dann seine Stadt. Stadtlos ist er,
der verwegen das Schändliche tut.

Übersetzung von Hans Jonas 


Alles hat Möglichkeiten; 
Nichts hat mehr Möglichkeiten als der Mensch.

Claus Bremer

Dienstag, 23. September 2014

Der IKS-Haken oder Catch 22 - Joseph Heller 1961


Es war nur ein Haken dabei, und das war der IKS-Haken
There was only one catch and that was Catch-22


Ich verabscheue Kriegsfilme und Kriegsbücher, irgendwann kriecht immer der Heroismus der Kämpfenden ins Spektakel und versauert mir das Ansehen. Heldentum macht mir Angst. Krieg ist gräßlich. Punkt. Ich bin in der glücklichen Lage, noch nie einen am eigenen Leibe erlebt haben zu müssen. Aber selbst lächerliche Bühnenschüsse machen mir Angst, ich will sehr alt und dabei unversehrt, in meinem Bett sterben. Krieg ist gräßlich. Punkt.
Aber, oder besser, darum gibt es für mich vier Ausnahmen, Kriegsfilme, bzw. Bücher über den Krieg, die den Krieg, als genau das beschreiben, weshalb ich ihn hasse: Wege zum Ruhm von Stanley Kubrick, Im Westen nichts Neues nach dem Roman von Erich Maria Remarque, Der Aufstieg in der Regie der viel zu früh verstorbenen Larissa Schepitko und eben den IKS-Haken oder wie das Buch, das die Vorlage lieferte, im Original heißt: Catch 22. 

  
Der Held des Buches/Filmes, Yossarian, will raus aus dem Krieg, er ist Flieger, beim Truppenarzt beschreibt er seine schreckliche Angst bei den Einsätzen, doch der Arzt versichert ihm, dass es normal ist, Angst zu haben und erst, wenn er keine Angst mehr hat, also bleiben will, könnte man ihn ausmustern.
Das ist der IKS-Haken oder der Catch 22.

Wiki sagt, ein Catch 22 ist eine paradoxe Situation, der ein Individuum nicht entkommt, weil die Regeln sich widersprechen.
A catch-22 is a paradoxical situation from which an individual cannot escape because of contradictory rules.  


Ein "catch" ist ein Dilemma, eine Zwickmühle, ein unlösbares Problem, eines bei dem alle Lösungen nur schlechte sein können.
Das ist der Haken, da hängts, daran scheiterts. 

Joseph Heller Der IKS Haken 


„Heißt das, daß die Sache einen Haken hat?“ „Klar hat sie einen Haken“, erwiderte Doc Da-
neeka. „Den IKS-Haken. Wer den Wunsch hat, sich vom Fronteinsatz zu drücken, kann nicht verrückt sein.“
Es war nur ein Haken bei der Sache, und das war der IKS-Haken. IKS besagte, daß die Sorge um die eigene Sicherheit angesichts realer, unmittelbarer Gefahr als Beweis für fehlerloses Funktionieren des Gehirns zu werten sei. Orr war verrückt und konnte fluguntauglich geschrieben werden. Er brauchte nichts weiter zu tun, als ein entsprechendes Gesuch zu machen; tat er dies aber, so galt er nicht länger mehr als verrückt und würde weitere Einsätze fliegen müssen. Oder wäre verrückt, wenn er noch weitere Einsätze flöge, und bei Verstand, wenn er das ablehnte, doch wenn er bei Verstand war, mußte er eben fliegen. Flog er diese Einsätze, so war er verrückt und brauchte nicht zu fliegen; weigerte er sich aber zu fliegen, so mußte er für geistig gesund gelten und war daher verpflichtet zu fliegen. Die unübertreffliche Schlichtheit dieser Klausel der IKS beeindruckte Yossarian zutiefst, und er stieß einen bewundernden Pfiff aus. 


Joseph Heller Catch 22

"You mean there's a catch?"
"Sure there's a catch", Doc Daneeka replied. "Catch-22. Anyone who wants to get out of combat duty isn't really crazy."
There was only one catch and that was Catch-22, which specified that a concern for one's own safety in the face of dangers that were real and immediate was the process of a rational mind. Orr was crazy and could be grounded. All he had to do was ask; and as soon as he did, he would no longer be crazy and would have to fly more missions. Orr would be crazy to fly more missions and sane if he didn't, but if he was sane, he had to fly them. If he flew them, he was crazy and didn't have to; but if he didn't want to, he was sane and had to. Yossarian was moved very deeply by the absolute simplicity of this clause of Catch-22 and let out a respectful whistle.
  

Joseph Heller Der IKS Haken

 „Freu dich, dass du am Leben bist.“
„Sei wütend darüber, dass du sterben musst.“ „Das Leben könnte viel schlimmer sein!“ rief
sie.
„Es könnte aber auch viel besser sein“, versicherte er hitzig.
„Du nennst immer nur einen Grund“, nörgelte
sie. „Du hast aber gesagt, du könntest zwei anführen.“
„Und erzähl mir nicht, dass Gott im verborgenen arbeitet“, fuhr Yossarian fort und überrannte ihren Einwurf. „Von verborgen kann keine Rede sein. Er arbeitet nämlich überhaupt nicht. Er spielt. Oder hat uns vergessen. Jedenfalls der Gott, von dem
Leute wie du reden – der ist ein Bauerntölpel, ein ungeschickter, tolpatschiger, hirnloser, arroganter, ungeschliffener Jockel. Lieber Himmel, kann man denn Ehrfurcht vor einem höchsten Wesen empfinden, das es für nötig hält, Dinge wie eine verschleimte Kehle und Zahnverfall in seine göttliche Schöpfung aufzunehmen? Was ging denn eigentlich in jenem verbildeten, bösartigen, verstopften Hirn vor, als er die alten Leute der Fähigkeit beraubte, die Schließmuskeln zu kontrollieren? Warum, zum Teufel, hat er überhaupt den Schmerz geschaffen?“
„Schmerz?“ Leutnant Schittkopps Frau stürzte sich triumphierend auf dieses Wort. „Der Schmerz ist ein sehr nützliches Symptom. Der Schmerz warnt uns vor Gefahren, die dem Körper drohen.“
„Und wer hat diese Gefahren geschaffen?“ verlangte Yossarian zu wissen. Er lachte höhnisch. „O ja, er war wirklich barmherzig, als er uns mit dem Schmerz beschenkt hat! Warum konnte er sich zu unserer Warnung nicht einer Klingel bedienen oder eines seiner himmlischen Chöre? Oder auch eines Systems von blauen und roten Neonleuchten, die alle Menschen mitten auf der Stirn tra- gen? Jeder Fabrikant von Musikautomaten, der sein Geld wert ist, hätte sich das ausdenken können. Warum also nicht er?“
„Die Menschen würden recht blöde aussehen, wenn sie mit roten Neonleuchten auf der Stirn he- rumliefen.“
„Sehen Sie denn schön aus, wenn sie sich in Schmerzen winden oder von Morphium betäubt
daliegen? Was für ein kolossaler, unsterblicher Pfuscher! Denk doch nur, welche Gelegenheit und welche Macht er hatte, etwas wirklich Herrliches zu schaffen, und sieh nur, was für einen stupiden, hässlichen Brei er stattdessen angerührt hat. Sei- ne Unfähigkeit ist geradezu erschütternd. Es liegt auf der Hand, daß er nie Löhne zu zahlen gehabt hat. Kein Geschäftsmann mit Selbstachtung würde einen Pfuscher wie ihn je einstellen, nicht einmal als Adressenschreiber!“
Leutnant Schittkopps Frau war wachsbleich geworden und starrte Yossarian erschreckt und ungläubig an. „Rede lieber nicht so von ihm, Schatz“, tadelte sie ihn leise und feindselig. „Er bestraft dich vielleicht dafür.“
„Straft er mich denn nicht schon genug?“ schnaufte Yossarian wütend. „Man darf ihm das einfach nicht durchgehen lassen. Nein, man darf ihm nicht all den Kummer durchgehen lassen, den er über uns gebracht hat. Eines Tages soll er mir dafür zahlen. Ich weiß auch schon wann. Am Tage des Jüngsten Gerichtes. Jawohl, das ist der Tag, an dem ich ihm endlich so nahe kommen werde, dass ich diesen kleinen Jockel beim Schlips packen und...“
„Hör auf! Hör auf!“ kreischte Leutnant Schittkopps Frau plötzlich und hämmerte, ohne Schaden anzurichten, mit beiden Fäusten auf Yossarians Kopf los. „Hör auf!“
Yossarian ging hinter seinem Arm in Deckung und ließ sie noch einige Sekunden ihre weibliche Wut an ihm austoben, dann packte er entschlossen ihre Handgelenke und zwang sie aufs Bett. „Worüber regst du dich eigentlich so auf, zum Teufel?“ fragte er verwundert und reuig amüsiert. „Ich dachte, du glaubtest nicht an Gott.“
„Tu ich auch nicht“, schluchzte sie und brach heftig in Tränen aus. „Aber der Gott, an den ich nicht glaube, ist ein gütiger Gott, ein gerechter Gott, ein barmherziger Gott. Er ist nicht der gemeine und törichte Gott, als den du ihn hinstellst.“



Joseph Heller Catch 22

"And don't tell me God works in mysterious ways," Yossarian continued, hurtling over her objections. "There's nothing so mysterious about it. He's not working at all. He's playing or else He's forgotten all about us. That's the kind of God you people talk about—a country bumpkin, a clumsy, bungling, brainless, conceited, uncouth hayseed. Good God, how much reverence can you have for a Supreme Being who finds it necessary to include such phenomena as phlegm and tooth decay in His divine system of creation? What in the world was running through that warped, evil, scatological mind of His when He robbed old people of the power to control their bowel movements? Why in the world did he ever create pain? ... Oh, He was really being charitable to us when He gave us pain! [to warn us of danger] Why couldn't He have used a doorbell instead to notify us, or one of His celestial choirs? Or a system of blue-and-red neon tubes right in the middle of each person's forehead. Any jukebox manufacturer worth his salt could have done that. Why couldn't He? ... What a colossal, immortal blunderer! When you consider the opportunity and power He had to really do a job, and then look at the stupid, ugly little mess He made of it instead, His sheer incompetence is almost staggering. ..."


 

Sonntag, 21. September 2014

DER ABSINTHTRINKER



DER ABSINTHTRINKER


Angel Fernandez de Soto
Picasso 1903

ABSINTH
(An Richard Dehmel)

Im Oceane des Absinths
Fand ich den Continent des Rausches!
Dort ist das Klima capriciös
Wie — eine schwangre Frau.

Das Meer ist trunken wie die Luft
Und tanzt in grünlich gelben Wogen.
Im Oceane des Absinths
Fand ich den Continent des Rausches!

Doch wehe! Was umklammert jäh
Mein Schiff? — Polypen, widrig, klebrig!
Ein Riesenarm zerknickt den Mast —
Und ohne Klagelaut versink ich
Im Oceane des Absinths.

Albert Giraud
 
Aus: Albert Giraud, Pierrot lunaire
Übersetzung von Otto Erich Hartleben
Der Verlag deutscher Phantasten, Berlin
1893

Die Bezeichnung Absinth stammt vom lateinischen Namen der Pflanze Wermut
 Artemisia absinthium



Gehorsam


Ich höre Dir zu. Ich höre auf Dich. Ich bin Dir gehorsam. Ich gehorche Dir. Zwischen Gehör und Gehorsam liegt der Schnitt. Gehöre ich mir oder bin ich hörig. Horch! Gehorche. Sei gehorsam! Kadavergehorsam, blinder Gehorsam. Gehorche ich, darf ich nicht mehr auf mich hören, muß mich taub stellen für alle Stimmen, die Anderes sprechen als der, dem ich gehorche. Horch wer kommt von draußen rein? 

Mein Großvater väterlicherseits hatte so ein riesiges altmodisches rosafarbenes Hörgerät, wenn er Fernsehen gucken wollte, setzte er sich ganz nah an den Apparat, schaltete seine Hörhilfe aus und beantwortete das ununterbrochene Gerede meiner Großmutter auf die Sekunde genau alle fünf Minuten mit einem freundlichem "Ja, Margarete" - es schien, eine glückliche Ehe zu sein. Er hat nichts gehört. Ach, wenn Ungehörsam immer so einfach wäre!


Der Übergang
Monument Anonymer Passanten
Errichtet in Erinnerung an die Ausrufung des Kriegsrechtes vom 13.12. 1981 bis zum 22.7. 1983 durch die polnische Regierung mit General Wojciech Jaruzelski an ihrer Spitze
Jerzy Kalina 2005 Wroclaw

gehorsam Adj. ‘folgsam, willig, brav’, ahd. gihōrsam, hōrsam (8. Jh.), mhd. mnd. gehōrsam, mnl. ghehoorsaem, nl. gehoorzaam, aengl. (ge)hīersum, (ge)hȳrsum. Das Adjektiv entsteht als Wiedergabe des den christlichen Gehorsamkeitsbegriff gegenüber Gott und der klerikalen Hierarchie ausdrückenden lat. oboediēns Part.adj. ‘willfährig, fügsam’. Dieses geht aus dem Part. Präs. von lat. oboedīre ‘jmdm. Gehör schenken, gehorchen, gehorsam sein’ hervor. Das Germ. knüpft an das dem lat. Wort zugrundeliegende Simplex lat. audīre ‘hören’ an und leitet das Adjektiv von dem unter hören (s. d.) behandelten Verb mit dem Suffix zur Bezeichnung von Charaktereigenschaften germ. -sama- (s. -sam) ab. – Gehorsam m. ‘Folgsamkeit’, ahd. gihōrsamī f. (um 1000), hōrsamī f. (9. Jh.), mhd. gehōrsam(e) f., daneben gehōrsam m.; seit dem 16. Jh. überwiegt die maskuline Form. Noch im 18. Jh. steht Gehorsam auch für ‘Gefängnis’, entstanden wohl aus einer Wendung wie in den Gehorsam gehen ‘in Haft gehen’. Gehorsamkeit f. ‘Folgsamkeit’, vgl. mhd. gehōrsamecheit ‘Gehorsam, Gelübde’. (Etymologisches Wörterbuch)

Gehorsam ist prinzipiell das Befolgen von Geboten oder Verboten durch entsprechende Handlungen oder Unterlassungen. Das Wort leitet sich (ähnlich wie Gehorchen) von Gehör, horchen, hinhören ab und kann von einer rein äußerlichen Handlung bis zu einer inneren Haltung reichen. (Wiki)

Obedience (engl. „Gehorsam“) ist eine Hundesportart, bei der es besonders auf harmonische, schnelle und exakte Ausführung der Übungen ankommt. Obedience wird auch als „Hohe Schule“ der Unterordnung bezeichnet.
(Wiederum Wiki) 

https://www.youtube.com/watch?v=98iK532OZgg

http://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment

Samstag, 20. September 2014

Ziviler Gehorsam


Ein guter Bekannter hat gerade seine Job verloren, nach 18 Jahren, und als ob das nicht schlimm genug wäre, hatte man ihn vorher, bei Nachfrage, noch über die nun ja stattfindende Kündigung belogen und ist erst in allerletzter Minute, und also viel zu spät, mit der Wahrheit rausgerückt, und dieser Vorgang wurde auch noch, obwohl er sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen, in herablassender Art und Weise ohne Respekt "abgewickelt". So weit, so schlimm.
Nun hat sich dieser Mann über die Umgangsformen bei seinem Arbeitsgeber beklagt, oder besser, sie öffentlich gemacht. Und wird dafür beschimpft - weil es ihm doch noch besser geht als anderen, weil sowas doch normal sei, weil er, wenn er widerspricht, gar nicht auf einen anderen Job hoffen könne, etc.
Warum das? Warum reagieren wir panisch, abwertend, beschwichtigend darauf, dass sich jemand wehrt, wie hilflos auch immer?
Vor hunderten Jahren in der Schule mußten wir eine außerordentlich schwere Klassenarbeit schreiben, alle linsten, kopierten, tuschelten, ein Mitschüler und ich wurden erwischt und sollten uns öffentlich entschuldigen. Wir weigerten uns beide und mußten gefühlte fünfzig Stunden nachsitzen. Später kamen fast alle anderen zu uns und versicherten uns mit gedämpfter Stimme ihrer Bewunderung.
Jahre später eine Produktion an den Kammerspielen, katastrophale Proben eines äußerst kompizierten Stückes, der Regisseur verschwand viertelstündlich auf dem Klo und kam zunehmend weicher, unschärfer und nuschelnder wieder - Was tun? - eine Delegation, bestehend aus einer Kollegin und mir, sprach, vom Ensemble beauftragt, beim Intendanten vor, der auch prompt auf der Probe erschien. Auf seine streng-väterliche Frage "Was denn hier los sei?" erhielt er von den uns ausgeschickt habenden Kollegen tapfere Blicke und die irritiert klingende Antwort: " Hier ist alles in Ordnung!" Er ging, erleichtert und mit vorwurfsvollem Blick auf die beiden Kassandren. Bei der Premiere haben wir gerade einen (EINEN) Applausvorhang geschafft, und einer meiner liebsten Kollegen saß im Saal mit klatschbereite erhobenen Händen, unfähig sie gegeneinander zu bewegen, so gräßlich war das, was er gerade gesehen hatte. 
Warum wehren wir uns nicht einmal dann, wenn wir nicht wirklich etwas riskieren? Vorauseilenden Gehorsam, Feigheit ohne guten Grund scheinen wir, so sehr verinnerlicht zu haben, dass wir, wenn ein anderer sich doch einmal wehrt, ihn dann für unsere eigene Unfähigkeit abstrafen. Liebgehabt werden um jeden Preis, nur nicht unangenehm auffallen, keinen Anstoß erregen, alle Türen offen halten - selbst dann, wenn wir nicht mehr riskieren, als den Unmut von Einigen, nicht das Leben, nicht die Existenz.
Dies sind "kleine" Beispiele, Harmlosigkeiten, aber wenn wir bei denen schon versagen, wie soll es dann in der wirklichen Not funktionieren?


Vergiß Dein Mittagsbrot nicht und mach schön Ärger
© Banksy (Der Schriftzug ist eventuell dazugefügt worden.)

Ziviler Ungehorsam ist nicht unser Problem. Unser Problem ist der zivile Gehorsam. Unser Problem ist, dass Menschen auf der ganzen Welt dem Diktat ihrer Regierungen folgen und deshalb in Kriege ziehen, in denen Millionen genau wegen dieses zivilen Gehorsams getötet werden.
Unser Problem ist der zivile Gehorsam auf der ganzen Welt, angesichts der Armut, des Hungers, der Dummheit, der Kriege und aller Verbrechen. Unser Problem besteht darin, dass die Menschen gehorsam sind während die Gefängnisse sich mit Kleinkriminellen füllen und die großen Verbrecher die Staatgeschäfte führen. Das ist unser Problem.

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“Civil disobedience is not our problem. Our problem is civil obedience. Our problem is that people all over the world have obeyed the dictates of leaders…and millions have been killed because of this obedience…Our problem is that people are obedient allover the world in the face of poverty and starvation and stupidity, and war, and cruelty. Our problem is that people are obedient while the jails are full of petty thieves… (and) the grand thieves are running the country. That’s our problem.”

Howard Zinn
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Auch interessant:

ZIVILER UNGEHORSAM

Matt Damon liest den Text über zivilen Ungehorsam

Interessante Lektüre:

Eine Geschichte des amerikanischen Volkes von Howard Zinn !!!

http://www.amazon.de/Eine-Geschichte-amerikanischen-Volkes-Howard/dp/3868201920/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1411238109&sr=8-1&keywords=Eine+Geschichte+des+amerikanischen+Volkes

Freitag, 19. September 2014

Geburtstag Nr. 56


    
      Dieses Kind wurde um den 26.12.1957 herum gezeugt, teilt mir 
      der Zeugungsrechner mit. Das Christkind kommt - und meine 
      Eltern freuten sich auf ihre Art.

      Mehr als neun Monate, wenn alles normal läuft, liegen wir in 
      warmer Suppe im Bauch einer immer runder werdenden Frau 
      und evolutionieren im Schnelldurchlauf, bevor wir via Vagina 
      oder, beim Kaiserschnitt wie bei mir, durch die Bauchdecke, das Licht 
      der Welt erblicken. (Da ist es schon wieder das Licht.) Angenehm 
      kann das nicht sein, erst warm, feucht und dunkel und dann, 
      plötzlich deutlich kühler, trocken, gleißend hell. Dann wird man 
      auch noch mit dem Kopf nach unten gehängt und, wenn man die 
      Selbstbeherrschung besitzt, nicht sofort von selbst empört loszubrüllen, 
      wird einem von einer fremden Hand auf den winzigen Arsch gehauen. 
      
      10 und ein halbes Pfund soll ich gewogen haben! Ein Wonneproppen 
      der gigantischen Art und hatte bis dahin schon einiges überlebt: 
      Im Nachtschrank meiner, für sechs Monate zum Liegen verdammten,
      Mutter lag Thalidomid, besser bekannt als Contergan, gegen 
      Kopfschmerzen, die sie Gott sei Dank nicht bekam. Um ihr 
      das Liegen zu versüßen, kaufte meine Oma einen der noch ganz 
      neuen Fernseher, woraufhin besorgte Ärzte sie in eine Asbestschürze
      wickelten, um das Embryo, also mich, vor Fernsehstrahlung zu schützen. 
      Die um den Hals gewickelte Nabelschnur war dann nur noch das 
      Krönchen.

      Ich erinnere mich an nichts davon. Nicht an meine zwei Jahre   
      währende Verweigerung zu laufen, bis mir meine Mutter ein Stück
      Schokolade, von mir zärtlich Glagla genannt, aus zwei Meter Entfernung 
      anbot. (Ich laufe, weil ich ausgetrickst worden bin.) Nicht an all die
      anderen zauberhaften, niedlichen, entzückenden Dingen, die ich,
      blondgelockt, blauäugig und fett, angestellt oder geäußert haben soll. 
      Mein erinnertes Leben beginnt erst viel später und selbst da weiß ich 
      nicht, wo Erzähltes oder auf undigitalen Photographien Gesehenes
      aufhört und mein eigenes Gehirn, bzw. meine Erinnerung beginnt.

      Vielleicht war alles ganz anders? Meine ersten Jahre voll dunkler
      Abenteuer und surrealer Ereignisse, die mir verschwiegen werden?
      Im hohen Alter soll angeblich das zunehmend schlechter funktionierende
      Kurzzeitgedächtnis durch immer deutlichere Kindheitserinnerungen
      ersetzt werden. Wer weiß, was mir da noch für Überraschungen ins Haus 
      stehen!

 Baby Herman © Disney
      
 AN DAS BABY
 
Alle stehn um dich herum:
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti...
Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
"Baby, lach mal!" ruft Mama.
"Guck", ruft Tante, "eiala!"
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was meinste?
Weinste.

Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was machste?
Lachste.
 
Kurt Tucholsky 
 

Dienstag, 16. September 2014

Theater - Drei Listen


11 Inszenierungen, die mein Denken über das Theater geprägt haben:

Der Drache - Jewgeni Schwarz - Benno Besson/Horst Sagert - Deutsches Theater

Circa 1970. Der Gang die lange Treppe herunter von Rolf Ludwig als Drache. Eberhard Esche als Lanzelot mit schwerem Schwert, als müder Held. Die phantastische Bühne und die wie traumgeschaffenen Kostüme von Horst Sagert. Ich habe, als Zwölfjährige, ohne es wirklich zu begreifen, viel über Terror, Angst und Verrat erfahren und über Widerstand.

 
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui - Brecht - Wekwerth/Palitzsch - Berliner Ensemble

Um 1968. Die Artistik, und dass Geschichte ganz nah und ganz fremd erzählt werden kann, das immense Tempo, die Reibung zwischen der hohen gereimten Verssprache und dem harsche Ton, der ernüchternde Ausstieg am Ende, die Entzauberung. Die Musik. Mein Vater.

Ihr aber lernet wie man sieht statt stiert,
Und handelt statt zu reden noch und noch.
Sowas hätt' einmal fast die Welt regiert,
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Die Insel - Athol Fugard - Lang/Grashoff - Deutsches Theater

1980. Zwei Schauspieler, eine fast leere Bühne. Intimität und Intensität. Die Musik. Die Ungeheuerlichkeit des Verhandelten. Danach konnte ich stundenlang nicht reden.

Der Bau - Heiner Müller - Fritz Marquardt - Volksbühne

In den 70ern. Das menschenförmige Loch in der Mauer, wenn der eine Arbeiter abhaut. Unerhört! Dieter Montag als Barka, wenn er seine, nicht von ihm schwangere, Liebste im Schnee zärtlich zur Rampe trägt. Müllers Sprache. Müllers Denken. Dialektik in Poesie.


1980 - Pina Bausch & Company
1987 beim Gastspiel in Ost-Berlin. "Ist die Wiese schön grün!" Mechthild Großmanns Stimme und wenn alle Spieler ihre Narben zeigen. Dass Tanz so ganz anders sein kann, so wahr und witzig und schön und erzählerisch. Dass Tänzer Menschen mit Gedanken und Meinungen sind. Getanzter Schmerz.

Peer Gynt - Ibsen - Peter Stein - Schaubühne (TV Übertragung)

70er Jahre. Als Kind aufbleiben dürfen, um Theater im Fernsehen zu gucken. Bruno Ganz, Bruno Ganz. So viel Geschichten, soviel Imagination. Eine Zwiebel-Inszenierung.

Othello - Shakespeare - Frank Castorf - Anklam

Neu. Anders. Klarer. Das blöde Stück macht Sinn. Endlich. Ich werde Fan. Kurt Naumann, schweigend im schwarzen Ledermantel, draußen, Katalysator für jedermanns Frust. Zum ersten Mal: Kühlschrank und Bier und superhohe Hackenschuhe und viel Wasser und Freiheit, außerhalb des Textes zu improvisieren.

Minna von Barnhelm - Lessing - Armin Petras - Leipzig

Alles falsch und alles richtig. Tellheims und Minnas Liebesgeschichte interessiert den Regisseur nicht und ist entsprechend öde. Aber die drei Tellheims, drei Generationen entlassener, arbeitsloser NVA-Offiziere, die manisch Geld drucken und elend scheitern, sind so sehr wahr. Die DDR, nach ihrem Vegehen, zum ersten Mal auf der Bühne.

Bernards Albas Haus - Lorca - Konstanze Lauterbach - Leipzig

Frauen, Kraft, Lust, Druck, Wut, Sinnlichkeit. Annette Straube klettert den roten Samtvorhang hoch. Die Musik. 

Splendids - Jean Genet - Michael Grüber

Ich weiß es nicht einmal warum, aber es war groß.  Ganz ruhig, wie ein zärtlicher, unerbittlicher Kopf-Auge-Ohrwurm, der dich verführt und einvernehmlich überwältigt. Dass man so langsam eine Zigarette rauchen kann.
(Nur Ben Becker hat gestört, er nervte, wie immer.)

The Mahabarata - Peter Brook

Acht Stunden in Französisch, einer Sprache, die ich nicht verstehe, und ich hätte noch acht weitere Stunden sehen wollen.

11 Inszenierungen, die mich mit leichtem Schritt und wachem Hirn das Theater verlassen liessen:


Die Perser - Aischylos - Dimiter Gotscheff
Einstein on the beach - Glass/Wilson (Rekonstruktion)
Emilia Galotti - Lessing - Michael Thalheimer - Deutsches Theater
Murks den Europäer! Murks ihn! Murks ihn! Murks ihn! Murks ihn ab! - Christoph Marthaler - Volksbühne
Die Räuber - Schiller - Antu Romero Nunes - Gorki Theater Berlin
Ödipus Stadt - Aischylos/John von Düffel - Stephan Kimmig - Deutsches Theater
Das trunkene Schiff - Paul Zech - Frank Castorf Volksbühne
Die spanische Fliege - Arnold und Bach - Herbert Fritsch - Volksbühne
Der Reigen - Schnitzler - Claudia Bauer - Magdeburg
Der blaue Drache - Robert Lepage - Montreal
Wicked - Stephen Schwartz - New York

8 Inszenierungen, an denen ich mitgearbeitet habe, die meine Sicht auf das Theater verändert haben: 


Dantons Tod - Büchner - Alexander Lang - Deutsches Theater
Der Lohndrücker - Heiner Müller - Deutsches Theater
Die Kahle Sängerin - Ionesco - Katja Paryla - Deutsches Theater
Paris, Paris - Bulgakow - Frank Castorf - Deutsches Theater
Der Meister und Margaritta - Bulgakow - ich - Ingolstadt
Der Goldene Drache - Schimmelpfennig - ich - Heilbronn
Der Menschenfeind - Moliere - ich - Karlsruhe
Sugar Dollies - Claus Chatten - ich - Deutsches Theater

Alice im Wunderland - Lewis Caroll - ich - Rostock