Mittwoch, 24. September 2014

Antigone 1 - remixed


Zum Einstieg, mein Thema für die nächsten Monate. 
Eine Stadt, Theben, ein Bürgerkrieg mit ausländischer Beteiligung, der für die Stadt unerwartet siegreich endet. 
Wie wird der Frieden aussehen? 
Wie schafft man Frieden?
Die Schuldigen strafen?
Die Ordnung wiederherstellen?
Nach vorn schauen? 
Die Toten auf beiden Seiten betrauern?
Und da ist es, das grässlich-nötige Wort - die Vergangenheit aufarbeiten? 
Oder, wie es so oft genannt wird, sie "bewältigen"? 
Überwältigen? 

Σοφοκλής - Αντιγόνη

Sophokles - Antigone

Πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει

Viel sind der Wunder, und nichts
ist wunderbarer als der Mensch ist.

πολλὰ (“viel”) τὰ δεινὰ (“[sind] die Wunder”) κοὐδὲν (“und nichts”) ἀνθρώπου (“als der Mensch”) δεινότερον (“wunderbarer”) πέλει (ein emphatisches “ist”) 
oder
Τὰ δεινά (ta deina) ist Neutrum Plural, τά (ta) ist der Artikel, δεινά (deina) ist also substantiviert und heißt damit svw. die Ungeheuerlichkeit(en), das Ungeheure, das Furchtbare; ... κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει: "... doch (das καί ist hier offenbar nicht reihend, sondern steigernd) nichts Ungeheureres als der Mensch regt sich."
oder
τα δεινά - das Leid
 
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CHOR
 
Ungeheuer ist viel und nichts
Ungeheurer als der Mensch.
Er überschreitet auch das graue Meer
Im Notossturm *
Unter tosenden Wogen hindurch.
Erde, der Götter höchste,
Die unerschöpfliche, unermüdliche,
Bedrängt sein Pflug. Auf und ab
Ackern die Rosse ihm
Jahr um Jahr.

Leichtgesinnter Vögel Volk
Fängt er im Garn,
Wilder Tiere Geschlechter
Und Kinder des Meers
In verschlungenem Netzgeflecht,
Der kluge Mensch.
Mit List bezwingt er,
Was haust auf Höhen
Und schweift im Freien.
Dem Pferd mit der mächtigen Mähne,
Dem unbändigen Bergstier
Zähmt er den Nacken
Unter das Joch.

Und die Sprache
Und luftgewirkte Gedanken
Lehrte er sich
Und den Trieb zum Staat
Und Obdach
Gegen ungastlichen Reif vom Himmel
Und Regengeschosse,
Allberaten.
Ratlos tritt er
Vor nichts, was kommt,
Nur dem Tod entrinnt er nicht.
Aber aus heillosen Leiden
Ersann er sich Rettung.

Mit der Erfindung Kunst
Reich über Hoffen begabt,
Treibt's zum Bösen ihn bald
Und bald zum Guten.
Ehrend des Landes Gesetz
Und der Götter beschwornes Recht,
Ist er groß im Volk. Nichts im Volk,
Wer sich dem Unrecht gab
Vermessenen Sinns.
Nie sei Gast meines Herdes, 
Nie mein Gesinnungsfreund,
Wer solches beginnt.
Übersetzer nicht gefunden
* Notosturm = griech. Νότος, lat. Notus: der Südwind, der im Herbst manchmal für die Schiffer wegen der unregelmäßigen Sturmböen eine große Gefahr bedeutete.

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Caspar Neher 1949 Entwurf für Brechts Antigone 
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CHOR 

Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheuerer, als der Mensch.
Denn der, über die Nacht
Des Meers, wenn gegen den Winter wehet
Der Südwind, fähret er aus
In geflügelten sausenden Häusern.
Und der Himmlischen erhabene Erde,
Die unverderbliche, unermüdete,
Reibet er auf; mit dem strebenden Pfluge,
Von Jahr zu Jahr,
Treibt sein Verkehr er, mit dem Rossegeschlecht,
Und leichtträumender Vögel Welt
Bestrickt er, und jagt sie;
Und wilder Tiere Zug,
Und des Pontos salzbelebte Natur
Mit gesponnenen Netzen,
Der kundige Mann.
Und fängt mit Künsten das Wild,
Das auf Bergen übernachtet und schweift.
Und dem raumähnigen Rosse wirft er um
Den Nacken das Joch, und dem Berge
Bewandelnden unbezähmten Stier.
Und die Red und den luftigen
Gedanken und städtebeherrschenden Stolz
Hat erlernet er, und übelwohnender
Hügel feuchte Lüfte, und
Die unglücklichen zu fliehen, die Pfeile. Allbewandert,
Unbewandert. Zu nichts kommt er.
Der Toten künftigen Ort nur
Zu fliehen weiß er nicht,
Und die Flucht unbeholfener Seuchen
Zu überdenken.
Von Weisem etwas, und das Geschickte der Kunst
Mehr, als er hoffen kann, besitzend,
Kommt einmal er auf Schlimmes, das andre zu Gutem.
Die Gesetze kränkt er, der Erd und Naturgewaltger
Beschwornes Gewissen;
Hochstädtisch kommt, unstädtisch
Zu nichts er, wo das Schöne
Mit ihm ist und mit Frechheit.
Nicht sei am Herde mit mir,
Noch gleichgesinnet,
Wer solches tut.

Übersetzt von Friedrich Hölderlin

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 Polnisches Theaterplakat von Wieslaw Grzegorczyk
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CHOR
 Ungeheuer ist viel, und nichts
ungeheurer als der Mensch.
Der nämlich, über das graue Meer
im stürmischen Süd fährt er dahin,
andringend unter rings
umrauschenden Wogen. Die Erde auch,
der Göttlichen höchste, die nimmer vergeht
und nimmer ermüdet, schöpfet er aus
und wühlt, die Pflugschar pressend, Jahr
um Jahr mit Rössern und Mäulern.
Leichtaufmerkender Vögel Schar
umgarnt er und fängt, und des wilden Getiers
Stämme und des Meeres salzige Brut
mit reichgewundenem Netzgespinst-
er, der überaus kundige Mann.
Und wird mit Künsten Herr des Wildes,
des freien schweifenden auf den Höhen,
und zwingt den Nacken unter das Joch,
den dichtbemähnten des Pferdes, und
den immer rüstigen Bergstier.

Die Rede auch und den luft´gen Gedanken und
die Gefühle, auf denen gründet die Stadt,
lehrt er sich selbst, und Zuflucht zu finden vor
unwirtlicher Höhen Glut und des Regens Geschossen.
Allbewandert er, auf kein Künftiges
geht er unbewandert zu. Nur den Tod
ist ihm zu fliehen versagt.
Doch von einst ratlosen Krankheiten
hat er Entrinnen erdacht.

So über Verhoffen begabt mit der Klugheit
erfindender Kunst,
geht zum Schlimmen er bald und bald zum
Guten hin.
Ehrt des Landes Gesetze er und der Götter
beschworenes Recht-
Hoch steht dann seine Stadt. Stadtlos ist er,
der verwegen das Schändliche tut.

Übersetzung von Hans Jonas 


Alles hat Möglichkeiten; 
Nichts hat mehr Möglichkeiten als der Mensch.

Claus Bremer

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