Sonntag, 12. Januar 2014

O Fallada



"O du Falada, da du hangest"
"O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät ihr zerspringen."



Karl Blechen "Karrengaul" 1825/1828


O Fallada, die du hangest! 
Ein Pferd klagt an

Ich zog meine Fuhre trotz meiner Schwäche
Ich kam bis zur Frankfurter Allee.
Dort denke ich noch: O je!
Diese Schwäche! Wenn ich mich gehenlasse
Kann 's mir passieren, daß ich zusammenbreche.
Zehn Minuten später lagen nur noch meine Knochen auf der Straße.

Kaum war ich da nämlich zusammengebrochen
(Der Kutscher lief zum Telefon)
Da stürzten aus den Häusern schon
Hungrige Menschen, um ein Pfund Fleisch zu erben
Rissen mit Messern mir das Fleisch von den Knochen
Und ich lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig
mit dem Sterben.

Aber die kannt' ich doch von früher, die Leute!
Die brachten mir Säcke gegen die Fliegen doch
Schenkten mir altes Brot und ermahnten
Meinen Kutscher, sanft mit mir umzugehen.
Einst mir so freundlich und mir so feindlich heute!
Plötzlich waren sie wie ausgewechselt! Ach, was war
mit ihnen geschehen?

Da fragte ich mich: Was für eine Kälte
Muß über die Leute gekommen sein!
Wer schlägt da so auf sie ein
Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?
So helft ihnen doch! Und tut das in Bälde!
Sonst passiert euch etwas, was ihr nicht für möglich haltet!


Die Gänsemagd.
1815 Erstausgabe
 
Es lebte einmal eine alte Königin, der war ihr Gemahl schon lange Jahre gestorben und sie hatte eine schöne Tochter, wie die erwuchs, wurde sie weit über Feld auch an einen Königssohn versprochen. Als nun die Zeit kam, wo sie vermählt werden sollten, und das Kind in das fremde Reich abreisen mußte, packte ihr die Alte gar viel köstliches Geräth und Geschmeide ein: Gold und Silber, Becher und Kleinode, kurz alles, was ihr zu einem königlichen Brautschatz gehörte, denn sie hatte ihr Kind von Herzen lieb. Auch gab sie ihr eine Kammerjungfer bei, welche mitreiten und die Braut in die Hände des Bräutigams überliefern sollte und jede bekam ein Pferd zur Reise, aber das Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen. Wie nun die Abschiedsstunde da war, begab sich die alte Mutter in ihre Schlafkammer, nahm ein Messerlein und schnitt damit in ihre Finger, daß sie bluteten; darauf hielt sie ein weißes Läppchen unter und ließ drei Tropfen Blut hineinfallen, gab sie der Tochter und sprach: „liebes Kind verwahr sie wohl, sie werden dir unterweges Noth thun.“
Also nahmen beide von einander betrübten Abschied, das Läppchen steckte die Königstochter in ihren Busen vor sich, setzte sich auf’s Pferd und zog nun fort zu ihrem Bräutigam. Da sie eine Stunde geritten waren, empfand sie heißen Durst und rief ihrer Kammerjungfer: steig ab und schöpfe mir mit meinem Becher, den du aufzuheben hast, Wasser aus dem Bach, ich möchte gern einmal trinken. „Ei, wenn ihr Durst habt, sprach die Kammerjungfer, so steigt selber ab, legt euch an’s Wasser und trinkt, ich mag eure Magd nicht seyn!“ Da stieg die Königstochter vor großem Durst herunter, neigte sich über das Wässerlein im Bach und trank und durfte nicht aus dem goldnen Becher trinken. Da sprach sie: „ach Gott!“ da antworteten die drei Blutstropfen: „wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe thät ihr zerspringen.“ Aber die Königsbraut war gar demüthig, sagte nichts und stieg wieder zu Pferd. So ritten sie etliche Meilen weiter fort und der Tag war warm, daß die Sonne stach und sie durstete bald von neuem; da sie nun an einen Wasserfluß kamen, rief sie noch einmal ihrer Kammerjungfer: „steig ab und gieb mir aus meinem Goldbecher zu trinken!“ denn sie hatte aller bösen Worte längst vergessen. Die Kammerjungfer sprach aber noch hochmüthiger: „wollt’ ihr trinken, so trinkt allein, ich mag nicht eure Magd seyn.“ Da stieg die Königstochter hernieder vor großem Durst und legte sich über das fließende Wasser, weinte und sprach: „ach Gott!“ und die Blutstropfen antworteten wiederum: „wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe thät ihr zerspringen!“ Und wie sie so trank und sich recht überlehnte, fiel ihr das Läppchen, worin die drei Tropfen waren, aus dem Busen, und floß mit dem Wasser fort, ohne daß sie es in ihrer großen Angst merkte. Die Kammerfrau hatte aber zugesehen und freute sich, daß sie Macht über die Braut bekäme, denn damit, daß diese die Blutstropfen verloren hatte, war sie schwach geworden. Als sie nun wieder auf ihr Pferd steigen wollte, das da hieß Falada, sagte die Kammerfrau: „auf Falada gehör’ ich und auf meinen Gaul gehörst du“ und das mußte sie sich gefallen lassen, außerdem hieß sie die Kammerfrau auch noch die königlichen Kleider ausziehen und ihre schlechten anlegen, und endlich mußte sie sich unter freiem Himmel verschwören, daß sie am königlichen Hof keinem Menschen nichts davon sprechen wollte, und wenn sie diesen Eid nicht abgelegt hätte, wäre sie auf der Stelle umgebracht worden. Aber Falada sah das alles an und nahm’s wohl in Acht.
Die Kammerfrau stieg nun auf Falada und die wahre Braut auf das schlechte Roß, und so zogen sie weiter, bis sie endlich in dem königlichen Schloß eintrafen, da war große Freude über ihre Ankunft, und der Königssohn sprang ihnen entgegen, hob die Kammerfrau vom Pferde und meinte, sie wäre seine Gemahlin und sie wurde die Treppe hinaufgeführt, die wahre Königstochter aber mußte unten stehen bleiben. Da schaute der alte König am Fenster und sah sie im Hofe halten, nun war sie fein und zart und sehr schön, ging hin ins königliche Gemach und fragte die Braut nach der, die sie bei sich hätte und da unten im Hofe stände, und wer sie wäre? „ei, die hab’ ich mir unterwegs mitgenommen zur Gesellschaft, gebt der Magd was zu arbeiten, daß sie nicht müßig steht.“ Aber der alte König hatte keine Arbeit für sie und wußte nichts, als daß er sagte: „da hab’ ich so einen kleinen Jungen, der hütet die Gänse, dem mag sie helfen!“ Der Junge hieß Kürdchen, (Conrädchen) dem mußte die wahre Braut helfen Gänse hüten.
Bald aber sprach die falsche Braut zu dem jungen König: „liebster Gemahl, ich bitte euch, thut mir einen Gefallen!“ Er antwortete: „das will ich gerne thun.“ „Nun so laßt mir den Schinder rufen und da dem Pferd, worauf ich her geritten bin, den Hals abhauen, weil es mich unterweges geärgert hat;“ eigentlich aber fürchtete sie sich, daß das Pferd sprechen möchte, wie sie mit der Königstochter umgegangen wäre. Nun war das so weit gerathen, daß es geschehen und der treue Falada sterben sollte, da kam es auch der rechten Königstochter zu Ohr und sie versprach dem Schinder heimlich ein Stück Geld, das sie ihm bezahlen wollte, wenn er ihr einen kleinen Dienst erwiese. In der Stadt war ein großes, finsteres Thor, wo sie Abends und Morgens mit den Gänsen durch mußte, „unter das finstere Thor möchte er dem Falada seinen Kopf hinnageln, daß sie ihn doch noch als einmal sehen könnte.“ Also versprach das der Schindersknecht zu thun, hieb den Kopf ab und nagelte ihn unter das finstere Thor fest.
Des Morgens früh, als sie und Kürdchen unterm Thor hinaus trieben, sprach sie im Vorbeigehen:
o du Falada, da du hangest,
da antwortete der Kopf:
o du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz thät ihr zerspringen!
da zog sie still weiter zur Stadt hinaus und sie trieben die Gänse auf’s Feld. Und wenn sie auf der Wiese angekommen war, saß sie hier und machte ihre Haare auf, die waren eitel Silber, und Kürdchen sah sie und freute sich, wie sie glänzten, und wollte ihr ein Paar ausraufen. Da sprach sie:

weh’! weh’! Windchen,
nimm Kürdchen sein Hütchen,
und laß’n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt
und wieder aufgesatzt.
und da kam ein so starker Wind, daß er dem Kürdchen sein Hütchen wegwehte über alle Land, daß es ihm nachlief und bis es wiederkam, war sie mit dem Kämmen und Aufsetzen fertig und er konnte keine Haare kriegen. Da war Kürdchen bös und sprach nicht mit ihr, und so hüteten sie die Gänse bis daß es Abend wurde, dann fuhren sie nach Haus.
Den andern Morgen, wie sie unter dem finstern Thor hinaustrieben, sprach die Jungfrau:
o du Falada, da du hangest,
es antwortete:
o du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
das Herz thät ihr zerspringen!
und in dem Feld setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing an ihr Haar auszukämmen, und Kürdchen lief und wollte darnach greifen, da sprach sie schnell:
weh’! weh’! Windchen,
nimm dem Kürdchen sein Hütchen

und laß’n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt
und wieder aufgesatzt.
da wehte der Wind und wehte ihm das Hütchen vom Kopf weit weg, daß es nachzulaufen hatte, und als es wieder kam, hatte sie längst ihr Haar zurecht und es konnte keins davon erwischen, und sie hüteten die Gänse bis es Abend wurde.
Abends aber, nachdem sie heim kamen, ging Kürdchen vor den alten König und sagte: „mit dem Mädchen will ich nicht länger Gänse hüten.“ Warum denn? sprach der alte König. „Ei, das ärgert mich den ganzen Tag.“ Da befahl ihm der alte König, zu erzählen, wie’s ihm denn mit ihr ginge. Da sagte Kürdchen: „des Morgens wenn wir unter dem finstern Thor mit der Heerde durchkommen, so ist da ein Gaulskopf an der Wand, zu dem redet sie:
Falada, da du hangest,
da antwortet der Kopf:
o du Königsjungfer, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
das Herz thät ihr zerspringen!“
und so erzählte Kürdchen weiter was auf der Ganswiese geschähe und wie es da dem Hut im Wind nachlaufen müßte.
Der alte König befahl ihm aber, den nächsten Tag wieder hinaus zu treiben, und er selbst, wie es Morgens war, setzte sich hinter das finstere Thor und hörte da, wie sie mit dem Haupt des Falada sprach; und dann ging er ihr auch nach in das Feld und barg sich in einem Busch auf der Wiese. Da sah er nun bald mit seinen eigenen Augen, wie die Gänsemagd und der Gänsejung die Heerde getrieben brachten und nach einer Weile sie sich setzte und ihre Haare losflocht, die strahlten von Glanz. Gleich sprach sie wieder:
weh’! weh’! Windchen,
Faß Kürdchen sein Hütchen
und laß’n sich mit jagen,
bis daß ich mich geflochten und geschnatzt
und wieder aufgesatzt.
da kam ein Windstoß und fuhr mit Kürdchens Hut weg, daß es weit zu laufen hatte, und die Magd kämmte und flocht ihre Locken still fort, welches der alte König alles beobachtete. Darauf ging er unbemerkt zurück und als Abends die Gänsemagd heim kam, rief er sie bei Seite und fragte: warum sie dem allem so thäte? „das darf ich euch und keinem Menschen nicht sagen, denn so hab’ ich mich unter freiem Himmel verschworen, weil ich sonst um mein Leben wäre gekommen.“ Er aber drang in sie und ließ ihr keinen Frieden, „willst du mir’s nicht erzählen,“ sagte der alte König endlich, „so darfst du’s doch dem Kachelofen erzählen.“ „Ja, das will ich wohl“ antwortete sie. Damit mußte sie in den Ofen kriechen und schüttete ihr ganzes Herz aus, wie es ihr bis dahin ergangen und wie sie von der bösen Kammerjungfer betrogen worden war. Aber der Ofen hatte oben ein Loch, da lauerte ihr der alte König zu und vernahm ihr Schicksal von Wort zu Wort. Da war’s gut und Königskleider wurden ihr alsbald angethan und es schien ein Wunder, wie sie so schön war; der alte König rief seinen Sohn und offenbarte ihm, daß er die falsche Braut hätte, die wäre ein bloßes Kammermädchen, die wahre aber stände hier, als die gewesene Gänsemagd. Der junge König aber war herzensfroh, als er ihre Schönheit und Tugend erblickte und ein großes Mahl wurde angestellt, zu dem alle Leute und gute Freunde gebeten wurden, obenan saß der Bräutigam, die Königstochter zur einen Seite und die Kammerjungfer zur andern, aber die Kammerjungfer war verblendet und erkannte jene nicht mehr in dem glänzenden Schmuck. Als sie nun gegessen und getrunken hatten und gutes Muths waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Räthsel auf: was eine solche werth wäre, die den Herrn so und so betrogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf und fragte: „welches Urtheils ist diese würdig?“ Da sprach die falsche Braut: „die ist nichts bessers werth, als splinternackt ausgezogen in ein Faß inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen geworfen zu werden, und zwei weiße Pferde davor gespannt müssen sie Gaß auf Gaß ab zu Tode schleifen!“ „Das bist du, sprach der alte König, und dein eigen Urtheil hast du gefunden und darnach soll die widerfahren,“ welches auch vollzogen wurde; der junge König vermählte sich aber mit seiner rechten Gemahlin und beide regirten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.

Aus Brüder Grimm Kinder- und Haus-Märchen Band 2, Große Ausgabe.

Freitag, 10. Januar 2014

Heiner Müller war einmal sehr jung und gestern wäre er 85 geworden




Möchten Sie noch mal jung sein? 
Ich neige nicht zu überflüssigen Betrachtungen.

 
Gespräche zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller

Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum 
Er war voll Grauen nach dem Alphabet 
Mit leeren Augen die kein Blick versteht 
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum 

Vom Frost in Stein gehaun aus dem Spalier 
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee 
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh 
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier 

Im Arm die Lanze deren Spitze blinkt 
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt 
Die letzte Tagesspur ein goldner Strich 
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt

Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich 
Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.

 
Alexander Kluge

Erinnert an Parsifal.
Heiner Müller
Ja, ich wußte das nicht, als ich es geschrieben habe. Das habe ich wirklich im Krankenhaus geschrieben.
Alexander Kluge
So was machst du ja nicht oft, das reimt sich ja alles doppelt. Das ist ja ein ganz strenges Gedicht.
Heiner Müller
Das ist ein Sonett. Ich habe das im Krankenhaus entdeckt, darüber haben wir, glaube ich, gesprochen. Nur strenge Formen helfen gegen Schmerzen, reimlose Gedichte reichen da nicht aus. 
 
Transkript: Der Tod des Seneca
 
...
 

Alexander Kluge
Der André Gide schreibt, daß der Montaigne so gierig war beim Essen, ähnlich wie Henri IV, daß er sich dauernd in den Finger biß - die aßen ja nicht mit Messer und Gabel - oder sich auf die Zunge biß vor lauter Appetit.


Heiner Müller 1968, Photo Roger Melis

Heiner Müller
Nicht Appetit, es ist ein Unterschied, glaube ich... Ich war jetzt in Paris, zum weiß nicht wievielten Mal, weil ich Brigitte zeigen wollte in dieser permanenten Ausstellung im "Pompidou", die Moderne. Es war so furchtbar für mich, das zum dritten Mal zu sehen. Es ist so langweilig, so tot, diese ganze Moderne... Matisse ... Tapetenmuster, und überhaupt, völlig langweilig. Dann kommst du plötzlich in einen Raum. Das ist der Raum von Giacometti. Und plötzlich bist du in einem Tempel. Ich meine das gar nicht "heilig," aber das ist dann plötzlich Kunst. Alles andere kannst du wegwerfen. Da merkt man so deutlich den eigentlichen Schnitt. Picasso war der letzte universelle Künstler, oder der letzte Renaissance-Künstler, wenn du willst. Und der hatte noch Hunger. Danach hatte jeder nur seinen speziellen Appetit. Also der Unterschied zwischen Hunger und Appetit sehr wichtig. Und je schwerer es wird, die Weltbevölkerung zu ernähren, desto mehr nimmt der Hunger in der Kunst ab. Kunst ohne Hunger geht überhaupt nicht. Also Kunst ohne den Anspruch, alles fressen und haben zu wollen, geht gar nicht.


Alexander Kluge
Und wie würdest du Gier formulieren? Was ist Gier?

Heiner Müller 
Gier ist was ganz Positives in der Kunst und eine Voraussetzung für Kunst.
...

http://www.zeit.de/2009/03/L-Mueller 

Donnerstag, 9. Januar 2014

Christus Höllenfahrt


CHRISTUS ABSTIEG IN DIE HÖLLE

Im Stil von Hieronymus Bosch
Niederlande, ca. 1550–60

Als Höllenfahrt Christi (lat. Descensus Christi ad Inferos) bezeichnet man die traditionelle christliche Vorstellung, dass Jesus in der Nacht nach seiner Kreuzigung in die Hölle hinabgestiegen sei und dort bzw. in der Vorhölle, dem „Schoß Abrahams“, die Seelen der Gerechten seit Adam befreit habe.
Apokryphisches Nikodemus-Evangelium
Aus dem Bericht der Wiederauferstandenen über Jesus Abstieg in die Hölle
 
Wir waren also in der Unterwelt mit allen von Anfang der Welt an Verstorbenen. Zu mitternächtlicher Stunde drang nun in die dortige Finsternis etwas wie Sonnenlichtund glänzte,und erleuchtet wurden wir alle, und wir sahen einander...
Der Prophet Jesaja, der dort anwesend war, sprach: Dieses Leuchten kommt vom Vater und vom Sohn und vom Heiligen Geist...
 Da nun alle in solcher Freude waren,kam Satan, der Erbe der Finsternis, und spricht zu Hades: Unersättlicher, Allesverschlinger, höre meine Worte! Da gibt es einen aus dem Judenvolk,der Jesus heißt und sich Gottes Sohn nennt...
Er hat mir viel Böses in der Welt droben angetan,als er mit den Sterblichen umherschweifte...
Dann befahl Hades seinen Dienern: Befestigt gut und sicher die ehernen Tore und die eisernen Querbalken,und behaltet meine Verschlüsse in der Gewalt, und habt alles im Blick, gerade dastehend! Denn wenn er hereinkommt, wird Wehe über uns kommen..



...
Sofort schrie Hades: Wir wurden besiegt, wehe uns! Aber wer bist du, der da hat solche Vollmacht und Gewalt?
... 

Ans Kreuz wurdest du genagelt und ins Grab gelegt, und eben erst frei geworden, hast du unsere ganze Macht zerbrochen.
Da packte der König der Herrlichkeit den Obersatrapen Satan am Kopfeund übergab Ihn den Engeln mit den Worten: Mit Eisenketten fesselt ihm Hände und Füße, Hals und Mund!
Dann übergab er Ihn Hades und sprach: Nimm Ihn und halte Ihn fest bis zu meiner zweiten Ankunft!
Und Hades nahm Satan in Empfang und sprach zu ihm: Beelzebul, Erbe des Feuers und der Pein, Feind der Heiligen, was zwang dich, den Kreuzestod des Königs der Herrlichkeit zu veranstalten, so daß er hierhin kam und uns entmachtete? 

...
Während Hades so mit Satan sprach,streckte der König der Herrlichkeit seine rechte Hand aus und ergriff Ihn und erweckte den Urvater Adam.
Dann wandte er sich auch zu den übrigen und sprach:Her zu mir alle, die ihr durch das Holz, nach dem dieser griff, sterben mußtet!Denn siehe: wieder will durch das Holz des Kreuzes euch alle ich aufrichten.
Darauf ließ er sie alle hinaus. Und der Urvater Adam, dem man ansah, daß er voller Freude war, sprach: Ich danke deiner Großherzigkeit, Herr,daß du mich aus der tiefsten Unterwelt hinaufgeführt hast. 



Mittwoch, 8. Januar 2014

JANDL und noch mehr JANDL


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lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illttum

 
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Norman Junge 
aus Ernst Jandl: Ottos Mops, Weinheim und Basel 2001

ottos mops

ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso

otto holt koks
otto holt obst
otto horcht
otto: mops mops
otto hofft

otto mops klopft
otto: komm mops komm
ottos mops kommt
ottos mops kotzt
otto: ogottogott 


Norman Junge ottos mops kotzt Detail

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etude in f

eile mit feile
eile mit feile
eile mit feile
durch den fald
durch die füste
durch die füste
durch die füste
bläst der find
falfischbauch
falfischbauch
eile mit feile
eile mit feile
auf den fellen
feiter meere
auf den fellen
feiter meere
eile mit feile
auf den fellen
falfischbauch
falfischbauch
eile mit feile
auf den fellen
feiter meere
feiter meere
falfischbauch
falfischbauch
fen ferd ich fiedersehn
falfischbauch
falfischbauch
fen ferd ich fiedersehn
fen ferd ich fiedersehn
falfischbauch
fen ferd ich fiedersehn
falfischbauch
falfischbauch
ach die heimat
ach die heimat
fen ferd ich fiedersehn
ist so feit


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daliegen


sich anscheißen
und gewaschen werden
und daliegen
und sich anscheißen
und gewaschen werden
und daliegen
und sich anscheißen
und gewaschen werden
und daliegen
und die letzte Ölung kriegen
und sich anscheißen
und gewaschen werden
und daliegen
daliegen
und in himmel kommen


Ernst Jandl

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falamaleikum

falamaleikum
falamaleitum
falnamaleutum
fallnamalsooovielleutum
wennabereinmalderkrieglanggenugausist
sindallewiederda.
oderfehlteiner?


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beschreibung eines gedichtes

bei geschlossenen lippen
ohne bewegung in mund und kehle
jedes einatmen und ausatmen
mit dem satz begleiten
langsam und ohne stimme gedacht
ich liebe dich
so daß jedes einziehen der luft durch die nase
sich deckt mit diesem satz
jedes ausstoßen der luft durch die nase
das ruhige sich heben 

und senken der brust

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Parodie zu ottos mops kotzt:

Annas Gans

Robert Gernhardt
[in der tradition ernst jandls]

annas gans aast
anna: ab gans ab
annas gans rast ab
anna: aha

anna sagt: ach
anna sagt: angst
anna klagt
anna: gans gans
anna mahnt

annas gans scharrt
anna: ran gans ran
annas gans naht
annas gans kackt
anna: hahaha


 

Montag, 6. Januar 2014

The Only Lovers Left Alive - Ein eigenartiger Film


Ein eigenartiger Film. Ich habe mich, unerwarteterweise nicht eine Sekunde gelangweilt, mußte unablässig schauen und denken.

Die Protagonisten sind Vampire. Ihre Nahrungsbeschaffung ist ein hochkompliziertes, meist unblutiges Netz von Sicherheitsmaßnahmen und Organisation. Sie lecken manchmal Blut am Stil, sind unendlich gebildet & sehr schön.

Sie tragen Handschuhe, die sie nur in Momenten der Intimität und dann mit Erlaubnis der anderen ablegen

Byron war ein Angeber, Mary Shelley dagegen zum Anbeißen. Schubert hat ein von einem Vampir ein Streichquartett geschenkt bekommen, aber nur das Adagio & Jack White ist bewunderungswürdig. Ach, und Kit Marlow hat Shakespeare Hamlet überlassen, denn der zum Vampir gewordene Autor wollte das Stück nicht selbst veröffentlichen. Vampire produzieren auch selbst Kunstwerke, trennen sich aber nur ungern davon. L'art pour l'art wäre wohl ihr Wahlspruch.

Ein bunter Schwarz-Weiß Film, wunderschön morbid photographiert von Yorick Le Saux. (Was für ein Name!) Ein Tanz zu zweit gefilmt von oben, Vinyl dreht sich, die Tänzer tun es auch. Zerfallende Städte, die die überwältigenden Ruinen ihrer einstigen Größe bewahren, Varianten von Dunkelheit, Licht als Bedrohung des grauschattierten Bildes. Und natürlich Rot, die Farbe des zu unterdrückenden Triebes, der immer wieder droht, hervorzubrechen und die elegante Feinsinnigkeit in tausend Stücke zu sprengen.

Tilda Swinton könnte auch in der Verfilmung des Telephonbuches einer Kleinstadt mitspielen (Manchmal ähnelt sie Gollums weiblicher Version, oder?) und ich wäre bereit zuzugucken. Sie hat etwas Außerirdisches, ähnlich wie Benedict Cumberbatch, vielleicht sind es die weit auseinander stehenden Augen, die mich an die Aliens früher us-amerikanischer B-Pictures erinnern.

 Angeblich das Photo eines bei einem Absturz in
Roswell, New Mexico im Juni/July 1947
verunglückten Extraterrestrischen Lebewesens.

Wer sind diese Vampire? Bewahrer der Geschichte, blutnippende Festplatten zur ewigen Speicherung von Kunst? Oder ewig erschöpfte Junkies, die sich ohne das lebenserhaltende Blut der sterblichen, und also verächtlichen Menschen, in gewöhnliche Süchtige auf Entzug verwandeln, die all ihre hehren Ideen vergessen und einfach nur den nächsten Schuß suchen? 
Sind sie Nostalgiker, die in elitärer depressiver zweisamer Einsamkeit verharren und Relikte menschlicher Kreativität horten? 
Menschen nennen sie übrigens herablassend "Zombies".

 
Vom Soundtrack:
Charlie Feathers Can't Hardly Stand It

Sonntag, 5. Januar 2014

Bill Brandt - Nackte Leiber




FRAUENKÖRPERLANDSCHAFTEN

Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.
1.Mose 2,25


Nackte 1953

        Weiche hellgraue Kurven zu einer schwarzen Mitte hin.   

        Eine gute Nacktphotographie kann erotisch sein, aber sicher 
        nicht sentimental oder pornographisch. B.B.
 
        A good nude photograph can be erotic, but certainly not
        sentimental or pornographic. B.B.

London Belgravia 1951
        Lange Linien im Dreieck, doch Richtung nach außen.    

        Als ich begann Nackte zu photographieren, ließ ich mich
        von der Kamera leiten, und anstatt zu photographieren, was
        ich sah, photographierte ich, was die Kamera gesehen hat.
        Ich griff nur wenig ein, und die Linse produzierte  
        anatomische Bilder und Formen welche meine Augen nie bemerkt 
        hatten. B.B.
   
        When I began to photograph nudes, I let myself be guided by 
        this camera, and instead of photographing what I saw, I 
        photographed what the camera was seeing. I interfered very 
        little, and the lens produced anatomical images and shapes 
        which my eyes had never observed. B.B.

Nackte, Camden Hill, London, 1958

          Starke  Senkrechte schützt weiche Nebenlinien.
 
         Wiki schreibt: Schwarzweißfotografie ist eine besondere Kategorie der
          Fotografie, bei der die realen Farbhelligkeitsnuancen von Objekten in einem 
          bildgebenden Verfahren in unbunten Grauwertabstufungen, einschließlich der 
          Extremwerte Schwarz und Weiß, auf einem Bildspeicher fixiert werden.
          Ursprünglich  sprach man von einem Graustufenfoto. Vor Aufkommen der
          Farbfotografie hatte das Schwarzweißverfahren keinen Namen, mangels 
          Alternativen sprach man allgemein von Fotografie.
         

Samstag, 4. Januar 2014

Augenblicke - Jorge Luis Borges


Augenblicke

„Wenn ich mein Leben noch einmal
leben könnte,

im nächsten Leben, würde ich versuchen,
mehr Fehler zu machen.

Ich würde nicht so perfekt sein wollen,

ich würde mich mehr Entspannen.

Ich wäre ein bisschen verrückter, als
ich es gewesen bin,

ich würde viel weniger Dinge so ernst
nehmen.

Ich würde nicht so gesund leben.

Ich würde mehr riskieren, würde mehr
reisen,

Sonnenuntergänge betrachten, mehr
bergsteigen,

mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres
Lebens fruchtbar verbrachten;

freilich hatte ich auch Momente
der Freude, aber wenn ich noch
einmal anfangen könnte, würde
ich versuchen,

nur mehr gute Augenblicke zu haben.

Falls du es noch nicht weißt, aus diesen
besteht nämlich das Leben;

nur aus Augenblicken; vergiss nicht
den jetzigen.

Wenn ich noch einmal leben könnte,

würde ich von Frühlingsbeginn
an bis in den Spätherbst hinein
barfuss gehen.

Und ich würde mehr mit Kindern spielen,

wenn ich das Leben noch vor mir hätte.

Aber sehen Sie ... ich bin 85 Jahre alt
und weiß, dass ich bald sterben werde.“

Jorge Luis Borges

 

Donnerstag, 2. Januar 2014

Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.


2013 ff. 

Noch gegen Ende des Jahres 2012 sah ich Ödipus Stadt am Deutschen Theater.
In der Fassung von John Düffel, inszeniert von Stephan Kimmig mit Ulrich Matthes, Susanne Wolff, Barbara Schnitzler, Sven Lehmann, Katharina Marie Schubert, Elias Arens, Moritz Grove, Thorsten Hierse, Olivia Gräser. 
Es war das letzte Mal, dass ich Sven Lehmann auf der Bühne erlebte, als zornigen blinden Mann, der Stock so sehr zum Finden des Weges nötig, wie zum Erschlagen der wahrhaft Blinden um ihn herum.
 
In der Kantine des Deutschen ist auf einem Tisch, an seinem Stammplatz eine kleine bronzene Plakette mit seinem Namen eingelassen. Einen Moment lang sah ich dort die vielen anderen Namen, derjenigen, die uns in den letzten Jahren verlassen haben, Schauspieler und Schauspielerinnen, die mein Theaterlieben befeuert und genährt haben. Ein ganzer Tisch in Bronze, Namen, Namen.

Onkel Wanja in Ingolstadt
mit Ulrich Kielhorn, Patricia Coridun, Teresa Trauth, Kathrin Becker, Sascha Römisch, Ralf Lichtenberg, Tobias Hofmann, Karlheinz Habelt in der Regie von Donald Berkenhoff.

Wahrhaft eine Komödie. Oder Tramödie? Sie alle saufen, lieben, reden gegen die Selbstauflösung in der Nutzlosigkeit & Ödnis, gegen das Ergrauen, Ergeben, Ermüden. Wie hier die Gegenwart unauffällig, kriechend in das historische Experiment kroch, war wirklich atemberaubend.
Christoph Nel in Peter Pan von Bob Wilson am Berliner Ensemble.
Warum zittert jemand? Vor Erregung? Aus Lust? Aus Angst? Weil er unter Strom steht oder ihn ein innerer Lachkrampf schüttelt? Vielleicht muß Tinkerbell auch mit ihren unsichtbaren Flügel so schnell flattern, um sich in der Welt zu halten, dass sie dadurch unablässig vibriert. Und dagegen und darüber diese Himmelsstimme. Inkarnation der Gänsehaut.

Die Ausstellung BERLIN-WIEN in der Berlinischen Galerie (noch bis Ende Januar) & Barbara Klemm im Gropiusbau (bis Anfang März) & immer wieder das Pergamonmuseum & die Balkenhol Figuren im CityQuartier DomAquarée (Was für ein pretentiöser Name für eine Einkaufspassage!).
 
Wie das aussehen wird, wenn der An- und Vorbau von Herrn Chipperfield fertig ist? Sicher besser als das Stadtschloßimitat. Es gibt übrigens einen sehr schönen LEGO-Bausatz - Flughafen BER, für die Phantasten unter uns.

Wiederentdeckt, die Gedichte des Polen Zbigniew Herbert (1924-1998)

HERR COGITO UND DER GEDANKENVERKEHR
Gedanken gehn durch den Kopf
meint eine Redensart


die Redensart überschätzt
den Gedankenverkehr


die meisten
stehn reglos
mitten in der öden Landschaft
der grauen Hügel
und dürren Bäume


manchmal erreichen sie noch
den reißenden Fluß der fremden Gedanken
bleiben am Ufer stehn
auf einem Bein
wie hungrige Reiher

erinnern sich traurig
an die versiegten Quellen

drehn sich im Kreise
suchen nach Körnern


sie gehn nicht
denn sie kommen nicht an
sie gehn nicht
denn sie wüßten nicht wohin


sie sitzen am Stein
ringen die Hände

unter dem tiefen
bewölkten
Himmel
des Schädels


Vivaldi Die Vier Jahreszeiten Recomposed von Max Richter, er selbst sagt dazu: "Es ist so, als würde man bei jemandem ins Haus gehen und etwas die Möbel verrücken. Ich wollte herausfinden, welche neuen Formen und Patterns sich mit dem Material entwickeln lassen." Ich verstehe leider nicht genug von Musik um meinen Eindruck in gut beschreibende Worte fassen zu können, kann aber empfehlen und das tue ich. Überraschung!

Eine lustige Seite nicht nur für Berliner: NOTES OF BERLIN - Zettel, Aufkleber, selbstgemachte Poster, gefunden und gepostet, zwischen grob und herzlich, so in etwa wie der Berliner dem Vernehmen nach ist.
 
Und dann: es war der letzte Abend des nun vergangenen Jahres, vor den Parties, zum Jahresabschluss ein Konzertbesuch im Berliner Ensemble, den ich unbedingt hätte unterlassen sollen.
Vier Oktaven waren es einmal, vorgestern waren davon noch ungefähr fünf Töne übrig, mein alter Phoneater, Doktor Wendlandt, wäre wahrscheinlich todesmutig auf die Bühne gesprungen und hätte sie in selbstschützenden Gewahrsam genommen. Nahezu keine Stimme, wenig Interesse an den Brecht-Liedern, die sie zu singen vorgab, und gar keines an den Gästen, die sie eingeladen hatte. Und diese Gäste hätten sehr wohl Interesse verdient.
Was war das, um Gottes willen? 
Um mich herum saßen Menschen, die vor vielen Jahren vielleicht einmal Punks waren oder zumindestens gern gewesen wären und sie wippten mit den Füßen, egal wie unrhythmisch und ohrenverstörend schief auf der Bühne gesungen wurde. Es war, als befände ich mich auf einer surrealen Zeitreise in die Vergangenheit, in der nur gehört wurde, was gehört worden war, damals, als man noch jung war, damals als sie stimmgewaltig die Abwesenheit von Farbfilmen beklagte und in Talkshows die Beglückung durch den G-Punkt vorführte, damals als sie noch eine Sängerin war, damals als sie uns zeigte, was es heißt nichtkonform zu sein.
Ich lese gerade ein Essay von Wayne Koestenbaum "Erniedrigung", eine assoziative Studie warum wir es erschauernd geniessen, wenn Liza Minelli, die Tochter von Judy Garland, trunken und als Schatten ihrer selbst verächtlich über ihre eigene letzte Hochzeit spricht. Talent das sich erniedrigt. Überleben im Angesicht des eigenen Unterganges.
 
Arbeit und Struktur, Wolfgang Herrndorfs Blog über seine Arbeit und sein Leben, geschrieben in Ungewissheit in den Jahren seines Sterbens. Die Texte habe ich gelesen an dem Abend als die Nachricht seines Todes öffentlich wurde, bis zum nächsten Morgen. So schön, so traurig, so klug, so bar aller Sentimentalität, dass es mich fast zerrissen hat. Es geschieht selten, dass ich weine während ich lese.

"2.8. 2013 20:21 
Jeden Abend der gleiche Kampf. Laß mich gehen, nein, laß mich gehen, nein. Laß mich."
Und Nelson Mandela und Dieter Hildebrandt, zu dessen Tode Roger Willemsen den guten Satz schrieb: "Am 20. November starb Dieter Hildebrandt. Das hätte er nicht tun sollen."
Und jetzt auf ins Jahr 2014! TOI TOI TOI!
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 Wolfgang Herrndorf Blog

Die Zeit über Vivaldi Recomposed 

Bug-Magazin über Max Richter 

Live-Mitschnitt 

Dienstag, 31. Dezember 2013

Iss freudig dein Brot und trink vergnügt deinen Wein

Ein gutes Neues Jahr wünsche ich euch und mir.

  CARPE DIEM *

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ODE AN LEUKONOË

 

Frage nicht (denn eine Antwort ist unmöglich), welches Ende die Götter mir, welches sie dir,
Leukonoë, zugedacht haben, und versuche dich nicht an babylonischen Berechnungen!
Wie viel besser ist es doch, was immer kommen wird, zu ertragen!
Ganz gleich, ob Jupiter dir noch weitere Winter zugeteilt hat oder ob dieser jetzt,
der gerade das Tyrrhenische Meer an widrige Klippen branden lässt, dein letzter ist,
sei nicht dumm, filtere den Wein und verzichte auf jede weiter reichende Hoffnung!
Noch während wir hier reden, ist uns bereits die missgünstige Zeit entflohen:
Genieße den Tag, und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!

Horaz 23 v. Chr. in den Gedichten Liber I *

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KOHELET - BUCH DES PREDIGERS


Also: Iss freudig dein Brot und trink vergnügt deinen Wein; denn das, was du tust, hat Gott längst so festgelegt, wie es ihm gefiel.
Trag jederzeit frische Kleider und nie fehle duftendes Öl auf deinem Haupt.
Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich unter der Sonne anstrengst.
Alles, was deine Hand, solange du Kraft hast, zu tun vorfindet, das tu! Denn es gibt weder Tun noch Rechnen noch Können noch Wissen in der Unterwelt, zu der du unterwegs bist.
*
Kohelet 9.7 - 12.8

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ICH EMPFINDE FAST EIN GRAUEN

 
Ich empfinde fast ein Grauen,
dass ich, Plato, für und für
bin gesessen über dir.
Es ist Zeit hinauszuschauen
und sich bei den frischen Quellen
in dem Grünen zu ergehn.
wo die schönen Blumen stehn
und die Fischer Netze stellen!

Wozu dienet das Studieren
als zu lauter Ungemach!
Unterdessen läuft die Bach
unsers Lebens, das wir führen,
ehe wir es inne werden,
auf ihr letztes Ende hin:
dann kömmt ohne Geist und Sinn
dieses alles in die Erden.

Holla, Junger, geh und frage,
wo der beste Trunk mag sein,
nimm den Krug und fülle Wein!
Alles Trauren, Leid und Klage,
wie wir Menschen täglich haben,
eh uns Clotho fortgerafft,
will ich in den süssen Saft,
den die Traube gibt, vergraben.

Kaufe gleichfalls auch Melonen
und vergiss des Zuckers nicht,
schaue nur, dass nichts gebricht!
Jener mag der Heller schonen,
der bei seinem Gold und Schätzen
tolle sich zu kränken pflegt
und nicht satt zu Bette legt;
ich will, weil ich kann, mich letzen!

Bitte meine guten Brüder
auf die Musik und ein Glas!
Kein Ding schickt sich, dünkt mich, bass
als ein Trank und gute Lieder.
Lass ich gleich nicht viel zu erben,
ei, so hab ich edlen Wein!
Will mit andern lustig sein,
Wann ich gleich allein muß sterben.

Martin Opitz um 1624 *

Fleischerstand
 Pieter Aertsen 1551
Im Hintergrund verteilt Maria, auf der Flucht nach Ägypten, Almosen an die Gläubigen und oben rechts sieht man den Verlorenen Sohn.
 
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Horatius travestitus I, 11

 

Laß das Fragen doch sein! Sorg dich doch nicht über den Tag hinaus!
Martha! Geh nicht mehr hin, bitte, zu der dummen Zigeunerin!
Nimm dein Los, wie es fällt! Lieber Gott, ob dies Jahr das letzte ist,
das beisammen uns sieht, oder ob wir alt wie Methusalem
werden: sieh’s doch nur ein: das, lieber Schatz, steht nicht in unsrer Macht.
Amüsier dich, und laß Wein und Konfekt schmecken dir wie bisher!
Seufzen macht mich nervös. Nun aber Schluß! All das ist Zeitverlust!
Küssen Sie mich, mon amie! Heute ist heut! Après nous le déluge!
*

Christian Morgenstern

Bernardo Strozzi Vanitas 1637
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* Carpe diem - Nutze den Tag 
* Horaz: wortwörtliche Übersetzung“ von Hans Zimmermann, Görlitz
* Bibel - Kohelet 9.7 - 12.8
  * Martin Opitz: Gedichte. Hg. Jan-Dirk Müller. Philipp Reclam Jun. Stuttgart 1995
Auch zu finden in "Des Knaben Wunderhorn" Band 1 unter dem Titel "Überdruß der Gelahrtheit"
* Après nous le déluge! - Nach uns die Sintflut 
Wiki sagt: Der Ausspruch wird auf die Marquise de Pompadour (1721–1764), zurückgeführt. Während eines Festes, das durch die Nachricht von der Niederlage bei Roßbach (1757) gestört zu werden drohte, soll sie « Après nous le déluge ! » („Nach uns die Sintflut!“) ausgerufen haben.