Sonntag, 6. Oktober 2013

Theater hat auch Eigenwerbung


   Vor Jahren, in einer öffentlichen Diskussionsrunde,
   oder trendiger, auf einem Panel, gemeinsam mit anderen 
   Regisseuren während der Berliner Festtage, über irgendein
   theaterbezogenes Thema gelang es dem, zugegebenermaßen, 
   erfolgreichsten unter uns mit blitzschnellem Charme und 
   nahezu unbemerkbarer Frechheit immer wieder die Höhepunkte 
   seiner Karriere in das Gespräch einzuflechten. Großartig. 
   Beim Mittagessen mit einem nur flüchtig bekannten älteren
   Kollegen werden mir die genauen Premieren-Applausminuten jeder  
   seiner mir unbekannten Produktionen serviert. Nicht wirklich 
   appetitanregend.
   Ich werde zur Premiere eines Bekannten eingeladen und drücke 
   bedauernd den Absagen-Button, weil ich wieder mal keine Zeit
   habe oder in einer anderen Stadt hocke. Schade.
   Eine fremde Dame postet auf Facebook fast täglich Aufrufe, ihre 
   acting Kurse zu besuchen, die sich an einer mir unbekannten 
   acting-Technik orientieren und die mir helfen sollen relaxter zu 
   acten. Und auch mal abgesehen davon, dass ich innerhalb 
   Deutschlands eh zu nix gehen würde, was sich acting-irgendwas 
   nennt, nervt sie mir die Seite voll. Sie wird entfreundet, aber 
   schnell.

   Facebook und all die anderen sozialen Netzwerke sind voll von 
   Vorankündigungen, Privatrezensionen, Crowdfunding-Aufrufen,  
   Inszenierungsphotos, letzten und allerletzten Terminen, Website-
   Links, Projekt-Einladungen und dringlichen Bitten um 
   Unterstützung, Besuch und Weiterverbreitung.

   Wir alle befahren eine unsichere, verunsichernde Strasse
   zwischen notwendiger und interessanter Werbung, auch wenn es 
   Eigenwerbung ist und Anbiederung mit verzweifelten Untertönen, 
   Glatteis allüberall, oder?
   Die einen verkaufen Homestories, Hochzeitsphotos, Diättipps und  
   oder ergreifende Berichte über weltwichtige Aufenthalte bei 
   hungernden Kindern, an der Front oder im Entzug. Von 
   Selbstvermarktung durch Werbeauftritte will ich gar nicht erst 
   anfangen.

© Mike Köppel

   Andere versuchen so entspannt wie möglich über ihre Arbeit zu 
   sprechen, Interesse zu erwecken. Und manche haben fast gar keine 
   Chancen sich überhaupt vorzustellen. 
   Klinken putzen, klappern, das zum Handwerk gehört, sich anbieten 
   wie Sauerbier* und was der abfälligen Formulierungen mehr sind 
   für den einfachen Fakt, dass nur die wenigsten unter uns 
   "gefragt" genug sind, um nie nach Arbeit Ausschau halten zu 
   müssen. Es ist verflixt. Ohne Veröffentlichung geht es nicht, 
   aber wie macht man's ohne Peinlichkeit? Humor hilft. 
   Selbstvertrauen auch. Wenn das, was wir machen Qualität hat, dann
   sollen es die Leute auch wissen. Sie müssen ja nicht zuhören.
   Aber vielleicht verpassen sie dann etwas Schönes und/oder 
   Wichtiges.


"Du kannst ein erfolgreicher Künstler sein"

   *In früheren Zeiten kam es bei der Bierproduktion häufiger zu 
   Misserfolgen, so dass anstelle des gewünschten Produkts "saures" 
   Bier entstand. Um den Schaden zu begrenzen, wurde dieses 
   minderwertige Produkt mit marktschreierischen Methoden (meist 
   erfolglos) angepriesen. Die Redensart kommt schon bei Hans Sachs 
   und bei Grimmelshausen vor. 
 

Chandigarh - Le Corbusier



       Le Corbusier geboren am 6. Oktober 1887, also heute vor 126 
       Jahren, entwarf 1951 im Auftrag der indischen Regierung eine 
       Stadt.

Chandigarh

       Panjabi: ਚੰਡੀਗੜ੍ਹ
       Hindi: चंडीगढ़

       „Es ist völlig unerheblich, ob es einem gefällt oder nicht; es ist das größte 
       Unternehmen seiner Art in Indien, … denn es ist ein Schlag auf den Kopf, 
       es bringt einen zum Denken … und das, was Indien in so vielen Bereichen 
       braucht, ist ein Schlag auf den Kopf.“ Nehru über Chandigarh


Das Gerichtsgebäude
 
       Vor 64 Jahren beschloss die Regierung Indiens die Gründung einer neuen 
       Hauptstadt für den Gliedstaat Punjab: Chandigarh. Sie besitzt den Status 
       eines eigenen Unionsterritoriums und ist heute zugleich die Hauptstadt der 
       beiden indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana, an deren Grenze sie 
       liegt.

       Für die Errichtung einer neuen Hauptstadt wurden zunächst der 
       amerikanische Städteplaner Albert Mayer und sein Partner, der Architekt 
       Maciej Nowicki beauftragt. Nachdem Nowicki tödlich verunglückte, schied 
       auch sein Partner Mayer aus der Planung aus. Nachfolger für die Planung 
       wurde auf besonderen Wunsch Nehrus, des Ministerpräsidenten des 
       befreiten Indiens, der Schweizer Architekt Le Corbusier, sagt Wiki.


Die Offene Hand, Skulptur von Le Corbusier


      Ausgangspunkt für seine Arbeit war ein von der Regierung schon im Jahr 
      zuvor beim amerikanischen Architekten Albert Mayer in Auftrag gegebener 
      Masterplan. Innerhalb weniger Tage modifizierte Le Corbusier Mayers 
      Vorlage und fertigte einen neuen Plan an: Die Grundfläche wurde reduziert 
      und die fächerförmige Figur des Stadtgrundrisses zum Rechteck korrigiert. 
      Zudem verhalf er den Prinzipien der Congrès Internationaux d'Architecture 
      Moderne, insbesondere den 1933 in der Charta von Athen aufgestellten 
      Richtlinien zu ihrem Recht. Diese verlangten die Trennung der vier 
      Basisfunktionen der Stadt (Wohnen, Arbeiten, Erholung, Zirkulation), die 
      Aufteilung in autonome Sektoren sowie eine siebenstufige Hierarchie des 
      Strassensystems. Die Grundkonzeption bewältigte Le Corbusier sehr 
      effizient; die genauere Ausarbeitung und die Entwurfsarbeit für die 
      städtische Infrastruktur überliess er seinem Cousin Pierre Jeanneret sowie 
      seinen Mitarbeitern Jane Drew und Maxwell Fry, die das örtliche 
      Planungsteam leiteten. (Aus einem Artikel von nextroom.at
      Indische Architekten wie M.N. Sharma und Aditya Prakash waren ebenfalls 
      an der Planung beteiligt.

 Teilansicht des Parlamengebäudes

      Nicht alles wurde fertiggestellt und heute ist ein Großteil der Gebäude in
      beklagenswertem Zustand. Trotzdem gilt den Indern Chandigarh noch
      immer, als eine der schönsten Städte ihres Landes. City beautiful wird sie
      genannt.
     
      Was für eine erstaunliche Geschichte, und man bedenke, dass dies in 
      den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts stattgefunden hat. Ein 
      Schweizer Architekt mit für seine Zeit hochmodernen Ideen und fragwür-
      digen politischen Affiliationen entwirft eine neue Stadt in einem gerade
      sich von der Kolonialherrschaft befreit habendem Land. Eine Vision in 
      Beton und starken harten Linien im subtropischen Klima des Punjab
      zwischen Afghanistan und Himalaya.


      Seite mit Sehr vielen Photos:
      Hochinteressanter Artikel zum Thema:

      Das Mobiliar der öffentlichen Gebäude wurde nach langjährigem Gebrauch
      entsorgt und rottete dann, draussen abgestellt, vor sich hin.
      Einiges wurde gerettet, restauriert und wird jetzt für irre Summen an
      Sammler verauktioniert.  
      A Curious Path to Auction for India’s Modernist Furniture
 

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden


Ich liebe Herrn Heinrich von Kleist. Liebe ihn, weil er sagt, was ich nicht ausdrücken kann und weil er so sehr traurig war, aber nicht damit zufrieden, sondern immer trotzdem oder deswegen geschrieben hat, und weil er versucht hat vor seiner Traurigkeit wegzulaufen nach Frankreich oder in die Schweiz, bis er an dem berühmten Seeufer stand und nicht mehr weiterlaufen konnte, und weil er einen Brief voller Kosenamen verschickt hat und nie aufhörte, herrliche Worte zu notieren, und weil Frankfurt an der Oder noch immer so gräßlich öde und sandig ist, und er die Schwere des Schlusssteins in mein Hirn geprägt hat, und weil Küsse wirklich wie Bisse sein können, und weil Goethe, der Anpassler ihn ausgelacht hat, und obwohl auch "Der zerbrochene Krug" mir nicht glaubwürdig beweist, dass Deutsche Komödien schreiben können, und weil er witzig war, auch wenn man das den meisten Inszenierungen seiner Stücke nicht anmerkt, und weil er "Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war." gemeint hat und doch den Monolog des Sosias zum Beginn vom Amphitryon schreiben konnte. Unfassbar und so ganz nah. Ach. He, Holla!

Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen.

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

Heinrich von Kleist

Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, andere, ich will, daß du aus der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren, und so können, für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut nebeneinander bestehen. Der Franzose sagt, l'appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l'idee vient en parlant.
Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Akten, und erforsche, in einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu beurteilen sein möchte. Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären. Oder ich suche, wenn mir eine algebraische Aufgabe vorkommt, den ersten Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse ausdrückt, und aus welcher sich die Auflösung nachher durch Rechnung leicht ergibt. Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne, sagte; den sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den Kästner studiert. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen. Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes Gemüt wird durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen, nur noch mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein großer General, wenn die Umstände drängen, noch um einen Grad höher gespannt. In diesem Sinne begreife ich, von welchem Nutzen Moliere seine Magd sein konnte; denn wenn er derselben, wie er vorgibt, ein Urteil zutraute, das das seinige berichten konnte, so ist dies eine Bescheidenheit, an deren Dasein in seiner Brust ich nicht glaube. Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halb ausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganz andere Hälfte desselben.
Ich glaube, daß mancher großer Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen.
Mir fällt jener »Donnerkeil« des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23ten Juni, in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? »Ja«, antwortete Mirabeau, »wir haben des Königs Befehl vernommen« - ich bin gewiß, daß er, bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß: »ja, mein Herr«, wiederholte er, »wir haben ihn vernommen« - man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will. »Doch was berechtigt Sie« - fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf - »uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.« - Das war es, was er brauchte! »Die Nation gibt Befehle und empfängt keine« - um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. »Und damit ich mich ihnen ganz deutlich erkläre« - und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: »So sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.« - Worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte. - Wenn man an den Zeremonienmeister denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem völligen Geistesbankerott vorstellen; nach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem in einem Körper, der von einem elektrischen Zustand Null ist, wenn er in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird. Und wie in dem elektrisierten dadurch, nach einer Wechselwirkung, der in ihm inwohnende Elektrizitätsgrad wieder verstärkt wird, so ging unseres Redners Mut, bei der Vernichtung seines Gegners, zur verwegensten Begeisterung über. Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. Man liest, daß Mirabeau sobald der Zeremonienmeister sich entfernt hatte, aufstand, und vorschlug: 1) sich sogleich als Nationalversammlung, und 2) als unverletzlich, zu konstituieren. Denn dadurch, daß er sich, einer Kleistischen Flasche gleich, entladen hatte, war er nun wieder neutral geworden, und gab, von der Verwegenheit zurückgekehrt, plötzlich der Furcht vor dem Chatelet, und der Vorsicht, Raum.
Dies ist eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt, welche sich, wenn man sie verfolgen wollte, auch noch in den Nebenumständen bewähren würde. Doch ich verlasse mein Gleichnis, und kehre zur Sache zurück.
Auch Lafontaine gibt, in seiner Fabel: les animaux malades de la peste, wo der Fuchs dem Löwen eine Apologie zu halten gezwungen ist, ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu hernehmen soll, ein merkwürdiges Beispiel von einer allmählichen Verfertigung des Gedankens aus einem in der Not hingesetzten Anfang. Man kennt diese Fabel. Die Pest herrscht im Tierreich, der Löwe versammelt die Großen desselben, und eröffnet ihnen, daß dem Himmel, wenn er besänftigt werden solle, ein Opfer fallen müsse. Viel Sünder seien im Volke, der Tod des größesten müsse die übrigen vom Untergang retten. Sie möchten ihm daher ihre Vergehungen aufrichtig bekennen. Er, für sein Teil, gestehe, daß er, im Drange des Hungers, manchem Schafe den Garaus gemacht; auch dem Hunde, wenn er ihm zu nahe gekommen; ja, es sei ihm in leckerhaften Augenblicken zugestoßen, daß er den Schäfer gefressen. Wenn niemand sich größerer Schwachheiten sich schuldig gemacht habe, so sei er bereit zu sterben. »Sire«, sagt der Fuchs, der das Ungewitter von sich ableiten will, »Sie sind zu großmütig. Ihr edler Eifer führt Sie zu weit. Was ist es, ein Schaf erwürgen? Oder ein Hund, diese nichtswürdige Bestie? Und: quant au berger«, fährt er fort, denn dies ist der Hauptpunkt: »On peut dire«; obschon er noch nicht weiß, was? »qu'il méritoit tout mal«; auf gut Glück; und somit ist er verwickelt; »etant«; eine schlechte Phrase, die ihm aber Zeit verschafft: »de ces gens la«, nun erst findet er den Gedanken, der ihn aus der Not reißt: »qui sur les animaux se font un chimerique empire«. Und jetzt beweist er, daß der Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt), das zweckmäßigste Opfer sei, worauf alle über ihn herfallen, und ihn zerreißen.
Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.
Etwas ganz anderes ist es, wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen. Wenn daher eine Vorstellung verworren ausgedrückt wird, so folgt der Schluß noch gar nicht, daß sie auch verworren gedacht worden sei; vielmehr könnte es leicht sein, daß die verworrenst ausgedrückten gerade am deutlichsten gedacht werden. Man sieht oft in einer Gesellschaft, wo, durch ein lebhaftes Gespräch, eine kontinuierliche Befruchtung der Gemüter mit Ideen im Werk ist, Leute, die sich, weil sie sich der Sprache nicht mächtig fühlen, sonst in der Regel zurückgezogen halten, plötzlich, mit einer zuckenden Bewegung aufflammen, die Sprache an sich reißen und etwas Unverständliches zur Welt bringen. Ja, sie scheinen, wenn sie nun die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen haben, durch ein verlegnes Gebärdenspiel anzudeuten, daß sie selbst nicht mehr recht wissen, was sie haben sagen wollen. Es ist wahrscheinlich, daß diese Leute etwas recht Treffendes, und sehr deutlich, gedacht haben. Aber der plötzliche Geschäftswechsel, der Übergang ihres Geistes vom Denen zum Ausdrücken, schlug die ganze Erregung desselben, die zur Festaltung des Gedankens notwendig, wie zum Hervorbringen, erforderlich war, wieder nieder. In solchen Fällen ist es um so unerläßlicher, daß uns die Sprache mit Leichtigkeit zur Hand sei, um dasjenige, was wir gleichzeitig gedacht haben, und doch nicht gleichzeitig von uns geben können, wenigstens so schnell als möglich, aufeinander folgen zu lassen. Und überhaupt wird jeder, der, bei gleicher Deutlichkeit, geschwinder als sein Gegner spricht, einen Vorteil über ihn haben, weil er gleichsam mehr Truppen als er ins Feld führt.
Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts ist, auch selbst nur, um Vorstellungen, die wir schon gehabt haben, wieder zu erzeugen, sieht man oft, wenn offene, und unterrichtete Köpfe examiniert werden, und man ihnen, ohne vorhergegegangene Einleitung, Fragen vorlegt, wie diese: was ist der Staat? Oder: was ist das Eigentum? Oder dergleichen. Wenn diese jungen Leute in einer Gesellschaft befunden hätten, wo man sich vom Staat, oder vom Eigentum, schon eine Zeit lang unterhalten hätte, so würden sie vielleicht mit Leichtigkeit, durch Vergleichung, Absonderung und Zusammenfassung der Begriffe, die Definition gefunden haben. Hier aber, wo die Vorbereitung des Gemüts gänzlich fehlt, sieht man sie stocken, und nur ein unverständiger Examinator wird daraus schließen, daß sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß. Nur ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat sei, gestern auswendig gelernt, und morgen schon wieder vergessen haben, werden hier mit Antwort bei der Hand sein. Vielleicht gibt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als grade eine öffentliches Examen. Abgerechnet, daß es schon widerwärtig und das Zartgefühl verletzend ist, und daß es reizt, sich stetig zu zeigen, wenn solch ein gelehrter Roßkamm nach den Kenntnissen sieht, um uns, je nachdem es fünf oder sechs sind, zu kaufen oder wieder abtreten zu lassen: es ist so schwer, auf ein menschliches Gemüt zu spielen und ihm seinen eigentümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, daß selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebeammenkunst der Gedanken, wie Kant sie nennt, auf das meisterhafteste bewandert wäre, hier noch, wegen der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner Mißgriffe tun könnte. Was übrigens solchen jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch, in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist der Umstand, daß die Gemüter der Examinatoren, wenn die Prüfung öffentlich geschieht, selbst zu sehr befangen sind, um ein freies Urteil fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen, von jemanden, daß er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger, seine Seele: sondern ihr eigener Verstand muß hier eine gefährliche Musterung passieren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen können, ohne sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der, eben von der Universität kommende, Jüngling, gegeben zu haben, den sie examinierten.
 

Freitag, 4. Oktober 2013

Tag der Republik - Unsere Hymne


Wir, ich meine, mich und all die anderen Deutschen, haben, soweit ich weiss, die peinlichste Hymne von allen denkbaren. Deutschland, und noch einmal wiederholt, Deutschland über ALLES? Über was? Über China? Über die Türkei? Überdrüssig? Übermütig? Überhaupt?
Hanns Eisler, der Komponist der DDRischen Hymne hat es auch nicht besser hingekriegt, und Johannes R. Becher, verkrampft und verwirrt, lieferte den öden, pseudo-optimistischen Text dazu. Brecht hat ein anderes Angebot gemacht, die Anekdote behauptet, er hätte erstmal "Wir sind ein Scheißvolk" vorgeschlagen - dies wurde nicht angenommen, warum wohl?
Was ist das - ein Volk? Mehrere Millionen Menschen, die sich, in Folge von zufällig entstandenen Konstellationen infolge der Völkerwanderungen, eine geographisch definierte Gegend teilen, eine Sprache? Nation bleibt ein Mysterium für mich. Ich liebe die deutsche Sprache, ich liebe einige Gegenden, die innerhalb des als Deutschland definierten Gebietes liegen. Aber liebe ich Deutschland? Was ist das überhaupt?
Ich mag es, wenn es Buletten, Bach und Büchner vage umschreibt. Aber ich stehe ihm völlig fremd gegenüber, wenn damit ein Recht auf ein Gebiet, eine Qualität gegenüber anderen Völkern definiert wird. Ich bin alles mögliche. Aus Berlin, jüdisch geprägt, deutsch sprechend, weiblich, anglophil. Ich habe Wurzeln in vielen Kulturen, in Hollywood Filmen und in englischen Krimis und deutschen Gedichten. Ich liebe thüringische Leberwurst und französische Croissants und sweet & sour pork.
Ich soll stolz ein Deutscher zu sein? Warum? Was ist meine anteilige Leistung daran? Ich bin stolz ein Jude zu sein? Ebenso.
Ich bin stolz. Auf was? Auf mich.

Kinderhymne

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir's
Und das liebste mag's uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

Bertolt Brecht

Das Lied der Deutschen, auch Deutschlandlied oder seltener Hoffmann-Haydn’sches Lied genannt, wurde von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 auf der – seinerzeit britischen – Insel Helgoland gedichtet. Das Lied wurde am 5. Oktober 1841 auf dem Jungfernstieg in Hamburg erstmals öffentlich gesungen. Die Melodie stammt ursprünglich aus dem 1797 entstandenen Kaiserlied von Joseph Haydn, der offiziellen Volkshymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ für den damaligen römisch-deutschen Kaiser Franz II. aus dem Haus Österreich. Später verwendete Haydn diese Melodie im zweiten Satz des Kaiserquartetts. Hoffmann von Fallersleben stellte durch die Verwendung der bekannten Melodie für den Kaiser eine Verbindung zum Alten Reich her. Im Mittelpunkt seines Liedes stand jedoch nicht mehr ein Monarch, sondern die Nation selbst.

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Steinerne Vögel



NICK BRANDT - DURCH DAS VERWÜSTETE LAND


Das Wasser des Natronsees oder Lake Natron in Tansania ist stark alkalisch. 
Vögel werden durch die grell spiegelnde Oberfläche des Sees geblendet, 
stürzen hinein und ertrinken. Das Soda und das Salz im Wasser läßt die Körper versteinern. Getrocknet werden sie zu Statuen. Nick Brandt hat die steinernen Wesen aufgesammelt und in der ostafrikanischen Landschaft photographiert.


Taube


Flamingo


Singvogel


Schwalbe

On This Earth A Shadow Falls Across The Ravaged Land.


Alle Photos © Nick Brandt

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Purzelbaum, Kobolz und Rolle vorwärts


Rolle vorwärts, Purzelbaum und Kobolz, drei Wörter, die dasselbe meinen, nämlich eine Bewegung, bei der der Ausführende "verbunden mit einer Translation um eine momentane Drehachse rotiert", wie es Wiki beschreibt oder etwas persönlicher formuliert: eine Körperaktion bei der ein Mensch versucht vorwärts, wildwagemutig kopfüber, den Hintern frech in die Höhe reckend und möglichst beide Beine hinterschleudernd, sich nicht den Steiss zu verletzen und, idealenfalls, elegant wieder auf den Füssen zu landen. 
Kinder purzeln gern. Das Gewicht ihrer absolut gesehen kleinen, aber relativ zum Körpergewicht schweren Hinterteile kippt sie zur Seite und nur viele unermüdliche Wiederholungsversuche führen zum glücklichen Erleben der vollständigen einmal Ganz-herum-Rolle. 

Drehe ich mich oder dreht sich die Welt? 360 Grad Perspektivwechsel in einer fliessenden Bewegung.

"Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte." Georg Büchner "Lenz"

Kopfüber. Wir purzeln in die Welt und sie verlangt von uns, dass wir ihr aufrecht begegnen. Verflixte Schwerkraft. Fliegen ohne mechanische Hilfe ist leider ausgeschlossen. Purzeln, rollen, kobolzen ist vielleicht eine Art uns schwerelos zu fühlen. Ich empfehle: an unbeoachteter Stelle einmal einen leichten Abhang herunter zu purzeln. Wenn man das Gefühl von Peinlichkeit beiseite schiebt, dies gilt für die unter uns über Dreissig, dann können wir vielleicht eine Erinnerung an ungelenke Freudensprünge, übermütiges Herumrollen, ja an Leichtigkeit erhaschen.




Die Schwaben sagen:'s purzlet wie gauklet, im Sinne von: gehüpft wie gesprungen.


Der Adelung sagt: Der Burzelbaum, Purzelbaum, des -es, plur. die -bäume, im gemeinen Leben, eine Art des Fallens, da man sich auf den Kopf stellet, den Hintern in die Höhe hebet, und auf die andere Seite niederfallen lässet. Einen Burzelbaum machen oder schießen.
   Anmerkung: Baum drückt in dieser Zusammensetzung die senkrechte Erhebung des Hintern aus.!!!! 
In Schlesien heißt der Burzelbaum ein Burzelbock, in Franken ein Stürzbaum, im Österreichischen ein Kuchenschaß, in Westphalen und Hamburg Heusterpeuster, Kopfheuster, in der Mark Brandenburg und Pommern Kobold

Kobolz schießen: einen Purzelbaum schlagen; Kobolz leitet sich von französisch ›se culbuter‹ = sich stürzen, sich herabstürzen her. Nachdem die Herkunft des Wortes in Vergessenheit geraten war, wurde in Anlehnung an ›Bolzen‹ das Wort ›schießen‹ hinzugefügt, ähnlich wie man im Rheinland einen Fußball ziellos in die Gegend ›bolzt‹, d.h. schießt. Mit dem Wort Kobold hat unsere Redensart nichts zu tun.


Der Purzelbaum 


Ein Purzelbaum trat vor mich hin
und sagt: "Du nur siehst mich
und weißt, was für ein Baum ich bin:
Ich schieße nicht, man schießt mich.

Und trag ich Frucht? Ich glaube kaum;
auch bin ich nicht verwurzelt.
Ich bin nur noch ein Purzeltraum,
sobald ich hingepurzelt."

"Je nun", so sprach ich, "bester Schatz,
du bist doch klug und siehst uns; -
nun, auch für uns besteht der Satz:
wir schießen nicht, es schießt uns.

Auch Wurzeln treibt man nicht so bald,
und Früchte nun erst recht nicht.
Geh heim in deinen Purzelwald,
und lästre dein Geschlecht nicht."


Christian Morgenstern

Dienstag, 1. Oktober 2013

Parmigianino - ein Manierist



Girolamo Francesco Maria Mazzola
genannt Parmigianino
oder Der Kleine aus Parma 
1503 - 1540


Selbstporträt mit 21 in einem konvexen Spiegel 
circa 1524
24 cm Durchmesser

Vasari schrieb, dass der Maler dieses bizarre Werk folgendermaßen erschuf: "Parmigianino ... begann sich selbst zu malen, wie einem konvexen Rasierspiegel erschien. Er ließ eine Holzkugel von einem Drechsler anfertigen und halbierte ihn, und auf auf einer Hälfte begann er alles zu malen, was er im Spiegel sah. Weil der Spiegel alles vergrößerte, was nah, und verkleinerte, was entfernt war, malte er die Hand etwas groß."

Wie Parmigianino es machte, die rechte Hand
Größer als der Kopf, dem Betrachter entgegengestreckt
Und sich leicht wegbiegend, wie um zu schützen
Was es anpreist. ...

As Parmigianino did it, the right hand
Bigger than the head, thrust at the viewer
And swerving easily away, as though to protect
What it advertises.

Aus einem Gedicht des New Yorker Poeten John Ashbery
As Parmigianino did it, the right hand
Bigger than the head, thrust at the viewer
And swerving easily away, as though to protect
What it advertises. - See more at: http://www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/5926#sthash.7lqbGik9.dpuf


Antea 1531-34


Und hier noch einmal womöglich dieselbe Frau

Die Madonna mit dem langen Hals 1534-40