Montag, 31. Oktober 2011

Pan und der Ziegenbock

Pan, der Hirtengott, bärtig und gehörnt, mit menschlichem Oberkörper und dem Unterleib eines Ziegenbockes, der, als er Herden in wilder Flucht auseinanderjagte, das Wort Panik entstehen ließ und aber auch der Panflöte ihren Namen gab, und der Pansexualität. Er ist ein naher Verwandter des jüdischen Sündenbockes und mißbrauchtes Vorbild des allseits beliebten christlichen Teufels.
Pan copuliert mit einem Ziegenbock, gefunden in Herculaneum 1. Jahrhunder n. Chr. (Geheimes Museum, Neapel)


Haltung und Gesichtsausdruck des Ziegenbockes könnten in einem Bilderlexikon gut für den Begriff "gottergeben" stehen.


Pan: von griechisch πᾶν, „alles“, „ganz“, „gesamt“, „völlig“ oder paein (πάειν), "to pasture",zu weiden"
 

Sonntag, 30. Oktober 2011

Roger verpatzt es.




Triangel

Wenn Sie einmal in die Oper gehen,
Und sich das Orchester dort besehen,
Vielleicht sehen Sie im fernsten Eck, so zwischen Tür und Angel,
Einen Mann, der spielt ein Instrument, genannt Triangel.
Wenn Sie diesen Mann betrachten, denken Sie an mich,
Denn der Triangelspieler, der bin ich.

Ja, da sitz ich mitten im Orchester drin,
Und halte bereit mein Triangel,
Und endlich zeigt der Dirigent auf mich hin,
Und dann steh ich auf und mach - 

Ich komm erst auf Seite neunundachzig dran,
Ja an Zeit hab ich keinen Mangel,
Ich könnt ja was lesen, doch da schaut er mich an,
Und schon steh ich auf und mach - 

Die Opern kenn ich von hinten nach vorn,
Auch den Wozzek, auch den Rienzi,
Die Partituren kenn ich von Bratsche bis Horn
Und die ganzen schweren Kadenzi. 

Meistens werd ich schläfrig von all dem Getös,
Besonders bei Richard Strauß,
Doch schlafen geht nicht, der Dirigent wär ja bös,
Er braucht mich ja wegen dem -
Ach wär doch die Oper schon aus.

Es ist schwer zu glauben, doch einst war ich jung
Und studierte an der Akademie,
Ich spielte Klavier mit Elan und Schwung,
Meine Technik erregte Begeisterung,
Und man nannte mich ein Genie!
Ich spielte Carnaval und die Sylphiden,
Die Rhapsodien und die Pathétique,
Ich lernte Czernys und Chopins Etüden,
Und ich war jung und liebte die Musik.
Und eines Tags sah ich mit viel Vergnügen
neben den gesamten Werken Glucks
Im Musikgeschäft auch ein Triangel liegen.
Da lachte ich und kaufte es, als Jux.

Und da sitz ich mitten im Orchester drin
Im Schatten der großen Trommeln,
Gleich kommt mein Einsatz, ich schau gar nicht hin,
Ich steh nur auf und mach - 

Die Tschinellen machen einen Riesenkrach,
Ich wär lieber bei den Schrammeln,
Doch jetzt wird es leiser
Und ich mach noch einmal - 

Die Violinen weinen jetzt,
Die Cellos und Bässe ergrimmen,
Die Flöten jubeln, das Glockenspiel lacht -
Ein Triangel kann man nicht einmal stimmen. 

Man wird so nervös und der Sessel ist hart,
Und nie bekomm ich Applaus,
So sitz ich halt da und wart und wart
Bis ich aufstehen darf und mach -
Und dann ist die Oper aus. 

Georg Kreisler

e.e. cummings - alter klebt





  alter klebt
  an Ver
  Boten
  schilder)&
  jugend reisst sie
  runter(alter
  ruft Nicht)&be
  jugend lacht
  (treten
  alter
  schimpft Verbo
  ten Stop
  Dürft
  nicht Nicht
  &)jugend geht
  doch los
  und wir
  d alt
Aus irgendeinem Grund, schienen sich diese neuen Vögel nicht so sehr, für Williams Vogelfutter zu interessieren.
  old age sticks
  up Keep
  Off
  signs)&
  youth yanks them
  down(old
  age
  cries No
  Tres)&(pas)
  youth laughs
  (sing
  old age
  scolds Forbid
  den Stop
  Must
  n't Don't
  &)youth goes
  right on
  gr
  owing old

  e. e. cummings

"old age sticks" is reprinted from COMPLETE POEMS: 1904-1962 by E. E. Cummings. Edited by George J. Firmage, by permission of Liveright Publishing Corp.
Copyright © 1958, 1986, 1991 by the Trustees for the E. E. Cummings Trust. 


Samstag, 29. Oktober 2011

Quentin Matsys - Maler - circa 1466 bis 1530

Man weiß wenig über ihn, aber die Legende behauptet, dass Quinten Matsys oder Quinten Matsijs seinen Beruf, er war Schmied, gewechselt hat, weil das Mädchen, in das er sich verliebt hatte und die später seine Frau wurde, fand, es wäre romantischer, mit einem Maler verheiratet zu sein. 
Die Frau im Bild unten, die zarte Dame mit den hohen, kleinen Brüsten könnte jene Frau sein, denn sie taucht in unzähligen Bildern, als Judith, Bathseba, Flora und Susanna auf. Wunderbar, dass er sich gerade in diese Frau verliebt hat.

Judith mit dem Kopf des Holofernes




Bathsheba beobachtet von König David

Und dieses Bild, ist wohl sein berühmtestes, Vorlage für die Herzoginenbilder in "Alice im Wunderland" und möglicherweise, obwohl bezweifelt, ein Porträt der Margarete Maultasch, Gräfin von Tirol, über die Feuchtwanger einen seiner schönsten Romane geschrieben hat.

Eine alte Frau c.1513. © The National Gallery, London

 Der Goldwäger und seine Frau 1514 Louvre

Ecce Homo (Detail) 1526 Palazzo Ducale Venedig


Porträt einer Frau 1520 Metropolitan Museum of Art in New York

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Sibylle Bergemann - Photographin

Paris, 1982 © Sibylle Bergemann


Clärchens Ballhaus, Berlin, 2008  © Sibylle Bergemann 

Mauerpark, Prenzlauer Berg, Berlin 1996 © Sibylle Bergemann

Das Denkmal, Ost Berlin 1986 © Sibylle Bergemann

Es gibt einen sehr schönen Film über Sibylle, wiederum von itworksmedien. Die Photographin Sibylle Bergemann. 

Ich glaube, sie war die leiseste Person, die ich je kennengelernt habe. Nicht, dass sie nicht geredet hätte, das hat sie, besonders, wenn sie dich photographiert hat, aber halt ganz zart, gerade noch hörbar, und nicht aus einer Manier heraus, sondern weil es laut genug schien.

Alles Laute ist Lüge von Jutta Voigt 

(Auszug aus einem Artikel in der Berliner Zeitung vom 11.11.2006)

Jede Frau hat ein Geheimnis, in jedem Bergemann-Bild steckt eine Ungewissheit. Eine zweite Dimension, was Unerklärbares. Die Fotografin bevorzugt Tarnfarben. Pullover, Hose, Jacke, Ohrringe, Auto, alles olivgrün oder erdbraun - man muss untertauchen können. Unsichtbar sein, um besser sehen zu können. Mag die Wirklichkeit ihre Wunder noch so sehr verbergen, Sibylle Bergemann entdeckt sie, aber sie preist sie nicht an. Das Geheimnis als Zuflucht, so bleibt Hoffnung, die Poesie ist keine Verräterin. Die Fotografin hütet das Geheimnis, das der Dinge, das der Menschen und das eigene; es schützt vor Entblößung und bewahrt die Intuition vor Irrtümern. Manche ihrer Bilder sind bereits Ikonen. Die missmutigen Mädchen am Strandkorb, der wütende Hund von Kasan, die schwarz umtoste Seebrücke in Sellin. Sie hat die am Lastkran schwebenden Marx-Engels-Statuen über dem Berliner Zentrum fotografiert, halbiert und gefesselt, entmystifiziert schon bei ihrer Inauguration in der zerfallenden DDR der 80er. Die behinderten Schauspieler des Theaters Ramba Zamba - so hat sie noch keiner angeschaut. Die Nescafé-Bude in einem verlorenen Vorort von Dakar, Afrika. Das Bild ist gerade für dreitausend Euro im Auktionshaus Grisebach verkauft worden. Sibylle Bergemann hat sich einen der vorderen Plätze in der internationalen Fotografie-Geschichte gesichert - Triumph einer Autodidaktin. Die Fotografin ist von zierlicher Gestalt, ihre Haut von milchigem Weiß mit gelegentlichen Sommersprossen, das dunkelblonde Haar ist dünn. Ihr schmales Gesicht wird beherrscht von auffallend hellen Augen und einem elegischen Jeanne-Moreau-Mund. Sie ist schüchtern, still und bestimmt, ein eigensinniger Pakt von Empfindsamkeit und Energie wurde da geschlossen. Dass sie über einen robusten Humor verfügt und albern sein kann, wissen nur Eingeweihte. Ich habe sie nie lauthals lachen sehen, vermutlich empfindet sie das als Stilbruch. Lächeln, das schon, ein Auflachen im Verborgenen, ein kurzes Kichern über eine absurde Situation, lautes Lachen aber - nein. Möglicherweise hat sie die Abneigung gegen die Bitte-recht-freundlich-Fotografie verinnerlicht oder die gegen den angeordneten Optimismus der DDR-Presse, wo Lachen Einverständnis mit den Verhältnissen vortäuschen sollte. So wie heute die aufgerissenen Münder der Werbebranche die Angst vorm Konsumieren weglachen sollen. Es gibt kaum ein Bergemann-Foto, auf dem gelacht wird, alles Laute ist Lüge. Ich habe sie niemals eine intime Geschichte über sich erzählen hören, und wir kennen uns lange. Ich habe sie überhaupt selten als Erzählerin erlebt. Schreiben kann ich nicht, reden kann ich nicht, aber vielleicht sehen, hat sie mal gesagt. Sie sieht mit allen Sinnen, sie fotografiert mit allen Sinnen. Und weil sie der Intuition vertrauen möchte, beherrscht sie das Handwerk so perfekt, dass sie es vergessen kann. Angefangen hat es mit einer Doppelliebe. Sibylle Bergemann saß als Sekretärin im Büro vom "Magazin" und wusste: Sekretärin kann ich nicht bleiben, ich muss was Eigenes machen. Ihr erstes Foto entstand mit einer einäugigen 6x6-Spiegelreflex-Kamera, da war sie vierundzwanzig. Eines Tages betrat ein Mann in einem olivgrünen Parka die Redaktion, ein Erzähler von Format, einer mit Witz und dem unbedingten Willen, der vorherrschenden Schnappschuss-Knipserei das Bewusste, das Direkte entgegenzusetzen. Er war fünfzehn Jahre älter als sie, als Fotograf ein Geheimtipp, als Lehrer ein Unikat. Arno Fischer lehrte an der Kunsthochschule Weißensee. Der musste es sein, der oder keiner: Ich wollte Arno, und ich wollte fotografieren. Was die Bergemann will, kriegt sie. Sie wurde seine Schülerin, seine Geliebte, seine Konkurrentin. Liebe und Fotografie Seit an Seit, und das brennende Interesse für Fotografen wie Dorothea Lang, Robert Frank, Henri Cartier-Bresson und die anderen Großen. Er sammelte alte Kameras und Daguerreotypien, sie Modepuppenköpfe und antike Blechbüchsen. Beide sammelten sie Hunde aus Seife und solche aus Fleisch und Blut. Und Papageien, die die amerikanische Nationalhymne pfeifen konnten. Vor allem aber verband sie eins: die Obsession, die DDR-Fotografie rauszuholen aus dem Tal des Kunstgewerbes und der dekorativen Oberflächlichkeit. Ihre Modefotos, die in der "Sibylle" veröffentlicht wurden, waren keine Püppchenbilder, sondern Porträts selbstbewusster Frauen in realer Umgebung, der Glamour bestand in einem Signal, das verstanden wurde: Individualität. Die Berlin-Bilder atmen Echtheit. Weitab vom Offiziösen, am Rand, nicht in der Mitte, entdeckten die Fotografen die Lebenszeichen. Sibylle Bergemann hatte schnell gelernt. Ebenso schnell fotografierte sie anders und anderes als ihr Lehrer. Sie sah die Schönheit, und sie sah den Zweifel, sie suchte den Traum hinter der Realität, Wirklichkeit ohne Traum wäre Weltende. Die Fotografin trug die Kamera immer bei sich, es konnte ihr was begegnen, das fotografiert werden musste, gefallene Engel aus Stein zum Beispiel, die sie eines Morgens beim Brötchenholen am Boden liegen sah. Die weitläufige, mit Phantasie vollgestopfte Wohnung von Fischer/Bergemann am Schiffbauerdamm wurde zum magischen Ort, zum aufbruchtrunkenen Salon einer mit Westbesuch garnierten Ostberliner Boheme, für die die Fotografie das Medium war, in dem sich Hoffnung und Elend der Gesellschaft spiegelten. Die Fotografie stand für das Ganze. Nächtelang wurden bei Nordhäuser Doppelkorn und mit Käse überbackenen Hackepeter-Brötchen Fotos angesehen, rumgereicht und bewertet. Es ging um die Vision von den Bildern des Landes, in dem wir lebten. Es ging um alles. Immer dabei war Rosa, die geliebte französische Bulldogge. Rabenschwarz räkelte sie sich auf dem weißen Sofa Ramosa. Sie ließ sich von einem Dackel verführen, brachte vier Welpen zur Welt und starb früh. Sibylle Bergemann taufte die Kleinen nach dem Ort, wo sie geworfen worden waren: Treppe, Parketti, Betti und Kiste. Wir hatten einen gemeinsamen Start. Ich war Redakteurin beim "Sonntag" und konnte dort ihre ersten Fotos drucken. Die allerersten waren Bilder von Fenstern, hinter denen sich sehr verschiedenes Leben vermuten ließ, einzigartiges, unverwechselbares; es waren die Details, die das Wesentliche ausdrückten. Die Fotos lagen bei mir in der Schublade, nicht in der Bildredaktion, ohne Ankaufhonorar. Geld war nicht wichtig, wichtig war, eine Sicht durchzusetzen, eine Ästhetik. Wir machten zusammen Reportagen über Näherinnen in einem volkseigenen Textilbetrieb, über eine Dorfhochzeit auf flachem Land, über chilenische Emigranten, die mit uns Lieder über die Revolution singen wollten. Einmal fuhren wir nach Grevesmühlen zu einem alten Mann, der Depeschenreiter bei der Roten Armee gewesen war. Aus Gründen der Vertrauensbildung übernachteten wir auf dem Wohnzimmersofa, beide. Am Abend vorher waren wir der Einladung des Depeschenreiters zum Abendbrot gefolgt. Es gab Brühwürste, die in einer grauen Terrine voller Fettaugen schwammen. Wir mussten essen, wir mussten, sonst wäre das Vertrauen in Gefahr gewesen. Ich konnte nicht, Sibylle Bergemann schluckte tapfer die fetten Würste. Es hatte sich gelohnt, am nächsten Morgen entstand das Bild: der Depeschenreiter mit allen seinen Orden in seinem herbstkahlen Kleingarten, unheldisch, berührend. Wir stiegen in Bergemanns Wartburg-Kombi. Vorn rot, hinten grün, die Türklinken fehlten, die Scheibenwischer lahmten, die Rücksitze waren mit Bergen von Fotokisten, Hundefutter und Kram belegt. Der Depeschenreiter ging interessiert um das Fahrzeug herum, fühlte sich wohl an alte Zeiten erinnert und fragte grinsend: Habt ihr da Handgranaten drinne? Ob sie sich nach der Wende in ihrer Haltung zur Fotografie verändert habe? Überhaupt nicht, sagt Sibylle Bergemann, sie habe die Mode in Afrika fotografiert wie damals in Berlin, sie habe die Stadt einbezogen, das Leben, den Traum. Der belletristische Blick ist geblieben, die Suche nach dem Poetischen am Rand, nicht in der Mitte. Eines ist anders geworden. Sie hat von Schwarzweiß zu Farbe gewechselt. Das wurde gefordert von den Magazinen, für die sie nun arbeitet. Farbe ist unrealistisch, grell und gewöhnlich, Farbe ist Operette - davon war die Fotografin ein halbes Leben lang überzeugt. Sie reagierte auf ihre Weise, sie machte die Farbe zur Komplizin ihrer Sicht. Trieb ihr das Grelle, Laute, Strahlende aus, machte sie weich, fließend, "grau". Auf den Afrika-Bildern scheint ein Schleier aus Staub die Szenerien zu verhüllen und gleichzeitig zu entdecken. Nichts Buntes und doch ein Farbenrausch. Seit einiger Zeit fliegt sie hauptsächlich für GEO durch die Welt. Indien Thailand, Afrika, Arabien, Portugal. Die Redakteurin Johanna Wieland hat ihre Zusammenarbeit mit Sibylle Bergemann im Senegal so beschrieben: "Sibylle verabschiedete sich morgens mit dem Satz: Ich geh dann mal, und verschwand, keiner wusste wohin; ich vermute, nicht mal sie selbst. Dakar ist keine ungefährliche Stadt. Koyo, unsere Dolmetscherin, sorgte sich: Madame, wo bist du gewesen?, schnarrte sie, wenn Sibylle abends wieder auftauchte, dreckig, verschwitzt. Ich derweil hatte das Nachfragen aufgegeben. Diese Fotografin war nicht gewillt, das, was sie sah, in Worte zu fassen. Vielleicht, weil sie Angst hat, die Bilder, die sie erahnt, aber noch nicht hat, zu vertreiben, wenn sie sie mit Worten festsetzt. Meine Versuche, mit Sibylle ins Gespräch über ihre Arbeit zu kommen, endeten meist wie folgt: Was war denn am Strand, frage ich. Ein Kiosk, sagt sie. Stand Nescafé dran. Interessant, irgendwie. Sibylle Bergemann, wie gesagt, macht Bilder statt Worte. Neulich erzählte sie doch was, mit so einem Ton in der Stimme, der Verletzlichkeit hinter Witz verbirgt: Da treffe ich einen Kollegen vom Spiegel, und der fragt mich: Fotografierst du noch? Der hätte auch fragen können: Atmest du noch?

Anatomisches Theater

Bernhard Meyer
29. November 1713:
Erste Sektion einer Leiche in Berlin


Erst vor wenigen Monaten inthronisiert, verfügte der 25jährige König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740; König seit 1713) per Cabinets-Ordre mit Datum vom 26. November 1713 die Eröffnung eines Königlichen Theatrum anatomicum. Bereits drei Tage später drängelten sich an die 100 professionelle Heilkundler unterschiedlicher Couleur vom Arzt bis zum Wundarzt III. Klasse und Feldscher sowie eine handvoll interessierte Laien, um einen günstigen Platz für die erste Sektion einer menschlichen Leiche in der Residenz- und Hauptstadt des Königreiches Preußen zu ergattern. Eingeladen hatte zu dieser von der Öffentlichkeit gleichermaßen als Spektakel und Gotteslästerung empfundenen wissenschaftlich- medizinischen Lehr und Demonstrationsveranstaltung der namhafte Anatom Christian Maximilian Spener (1678–1714). ... Die Einladung für eine seiner Sektionen lautete: »Die Erkänntniß seiner selbst nach der Natur recommendiret Allen und Jeden Und ladet auf den 5. Febr. dieses 1714ten Jahres alle Liebhaber der Anatomie, insbesondere die Chirurgos und Wund-Aerzte Auf das Königliche Theatrum Anatomicum zu denen Neuen Anantomischen Demonstrationen vornehmlich und den Musceln/Blut-Gefässen und Nerven hiermit ein ... «
     Neben Räumlichkeiten und Finanzen klärte die königliche Entscheidung vor allem die Bereitstellung von Leichen. Da die gottesfürchtigen Untertanen, ganz so wie es ihnen der Klerus vorgab, an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten, wollte jedermann seinen Körper unversehrt für die himmlische Auferstehung erhalten. Anatomische Eingriffe jedweder Art galten als unchristliche Akte. So blieb dem König nur die Möglichkeit, die von staatswegen vom Henker zu Tode Gebrachten der Anatomie zu übereignen. Da aber auch sie ihre Seele für die Wiederauferstehung erhalten wollten, kam es nicht selten vor, daß ihr letzter Wunsch darin bestand, nicht auf den Sektionstisch zu gelangen. Trotzdem bekam Spener das für eine anatomische Präparierübung Unerläßliche. ...
Der Veranstaltungsort, amphitheatralisch gestaltet, mit sechs Sitzreihen für knapp 100 Personen, war im Nordwestpavillon des Königlichen Marstalls (heute das Areal von Staats- und Universitätsbibliothek) in der Dorotheen-, Ecke Charlottenstraße untergebracht. 1691 von Arnold Nering (1659–1695) erbaut, wurde das zweigeschossige Gebäude bereits für die Akademie der Künste, die Societät und ab 1705 mit dem nachträglich errichteten 26 Meter hohen Turm als Observatorium genutzt. Über dem Eingang zum Theatrum prangte ein kunstvoll geformtes Relief mit dem Text: »Friedrich Wilhelm, König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg, hat dieses anatomische Theater im Jahre 1713 gegründet ... und zur fortdauernden Ausübung der Kunst mit einem Überfluß an Leichnamen versehen, zum Heil der Armee und des Volkes, zum Nutzen der Bürger und Fremden.« ...
Spener selbst konnte nur den Grundstein legen, denn schon fünf Monate nach der Eröffnung starb der 36jährige am 5. Mai 1714. Es gilt als ziemlich sicher, daß er sich bei einer der Sektionen infizierte. In der »Berliner geschriebenen Zeitung« vom 12. Mai hieß es: »Der unlängst verstorbene Hof- und Garnisons-Medicus Spener hat bey seiner Krankheit grausamlich geraset und nur von den Körpern gesprochen, so er secieret, und gleichsam mit denen immer gefochten.«


Theatrum Anatomicum Caspar Bauhin 1605

Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch! ein Wonhauß grimmer Schmertzen?
Ein Baal des falschen Glücks / ein Irrliecht dieser Zeit /
Ein Schauplatz aller Angst / unnd Widerwertigkeit /
Ein bald verschmelzter Schnee / und abgebrante Kertzen /

Diß Leben fleucht darvon wie ein Geschwätz und Schertzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes kleid /
Und in das Todten Buch der grossen Sterbligkeit
Längst eingeschrieben sind; find uns auß Sinn' und Hertzen:

Gleich wie ein eitel Traum leicht auß der acht hinfält /
Und wie ein Strom verfleust / den keine Macht auffhelt;
So muß auch unser Nahm / Lob / Ehr und Ruhm verschwinden.

Was itzund Athem holt; fält unversehns dahin;
Was nach uns kompt / wird auch der Todt ins Grab hinzihn /
So werden wir verjagt gleich wie ein Rauch von Winden.

Andreas Gryphius 1616 - 1664

Anonymus "Theatrum Anatomicum Leidense" frühes 17. Jahrhundert

Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmerzen /
   Ein Ball des falschen Glücks / ein Irrlicht dieser Zeit /
   Ein Schauplatz herber Angst / besetzt mit scharfem Leid /
Ein bald verschmelzter Schnee / und abgebrannte Kerzen /

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
   Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid /
   Und in das Toten-Buch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind / sind uns aus Sinn und Herzen.

   Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt /
   Und wie ein Strom verscheust / den keine Macht aufhält:
So muß auch unser Nam' / Lob / Ehr' und Ruhm verschwinden /

   Was itzund Atem holt / muß mit der Luft entfliehn
   Was nach uns kommen wird / wird uns ins Grab nachziehn /
Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starken Winden.

 Theatrum Anatomicum Caspar Bauhin 1605

Dienstag, 25. Oktober 2011

Der große Crash - Margin Call

Ein Film über das interne Geschehen in einer Investment Bank im Jahr 2008, vielleicht ist es Lehmann-Brothers, vielleicht eine andere. Ein langsamer Film, ein Film mit sehr extremen Nahaufnahmen, ein guter böser Film. Die Besetzungsliste klingt geradezu unglaubwürdig: Kevin Spacey, Jeremy Irons, Demi Moore, Simon Baker, Zachary Quinto, Stan Tucci, Paul Bettany....und einige davon habe ich schon lange nicht mehr so gut gesehen.

Ein nach 19 Jahren Betriebszugehörigkeit Gekündigter aus der Abteilung Risiko-Einschätzung, der, um die innere Sicherheit der Bank zu gewährleisten, unter Aufsicht eines Wachmannes aus seinem Büro geleitet wird, steckt einem Kollegen zum Abschied einen USB-Stick mit den Daten seiner nun abgebrochenen letzten Arbeit zu. Der schaut sich die Berechnungen an und schlägt Alarm.

Was dann folgt, ist weniger eine Untersuchung der finanziellen Vorgänge, als die der Reaktionen, der Umgangsformen, der Denkweisen der Banker. Und die sind nicht mehr sexy oder schick oder geil, wie noch in "Wall Street", sie sind glatt, haben Angst und harte Ränder. Nur wenn dann Kevin Spaceys kunstgebräuntes, leicht ältlich verfettetes Gesicht in fast pornographischer Weise minutenlang in super-extra Nahaufnahme auf der Leinwand atmet, sieht man Risse.

Eine feudale Hierachie, in der jeder Chef einen Chef hat, den er fürchtet, jeder weniger hat, als er haben möchte und mehr, als dass er etwas zu verlieren bereit wäre, wird in gedehnten, überpräzisen Bildern seziert. Häßliche Räume im Licht hunderter zahlenflackender Computer, Männer (und eine Frau) mit Gesichtern, die es fast vergessen haben, Gefühle zu zeigen, die Augen der einzige Ort an dem sich Hass, Demütigung, Gier noch blicken lassen. Überanspannung als Normalzustand.
Gewissen eine Irritation. Eine autistische Welt, die sich ihrer Gier völlig bewußt ist, ohne sie in irgendeinen Zusammenhang mit der "anderen" Welt zu bringen.

Die Firma rettet sich, indem sie, die sie gefährdenden Papiere, schnell und rabiat veräußert und damit eine Lawine lostritt. Wir nennen diese Lawine den großen Bank-Crash von 2008.
Die Banken wurden gerettet, neue Regulative wurden nicht eingeführt. Auf ein Neues!

Der Wall Street Bulle:

Seit Dezember 1989 ist er das Wahrzeichen der Wall Street. Eines Morgens stand er plötzlich vor dem Eingang der New York Stock Exchange (NYSE), Rätsel und Sensation zugleich. Die Polizei schaffte ihn fort, brachte ihn aber nach Protesten der New Yorker wieder zurück und platzierte ihn wenige Tage später ein paar Straßen weiter südlich ans Bowling Green, wo Manhattan und der Broadway beginnen. Dort trotzt er bis heute dem Wetter wie dem Terror, seine Schnauze blank gescheuert von tätschelnden Touristen.

Der "Stürmende Bulle" (Charging Bull) - jene weltberühmte, fünf Meter lange Bronzeskulptur, die den Optimismus der Wall Street symbolisieren soll - war eigentlich ein Gag. Arturo Di Modica, ein in New York lebender Bildhauer aus Sizilien, hatte sie nach dem Börsencrash von 1987 begonnen, um damit "junge Leute zu ermutigen, sich wieder aufzurappeln und die amerikanische Wirtschaft auf den rechten Weg zu bringen".

Zwei Jahre und über 350.000 Dollar kostete ihn der Spaß. Dann verfrachtete er den fast drei Tonnen schweren Metallbullen über Nacht mit einem Gabelstapler von seinem Atelier in Lower Manhattan direkt vor die Börse, klammheimlich und ohne Genehmigung.

Tausende Touristen lassen sich täglich mit dem überlebensgroßen Viech fotografieren. Sie steigen ihm auf den Buckel und rubbeln ihm die Nüstern, die Hörner und andere Teile der Anatomie. Was die meisten nicht wissen: Die Bronze ist nur eine "vorübergehende Leihgabe" des schrullig-bärtigen Di Modicas an die Parkverwaltung der Stadt, die ihm im Gegenzug die sonst übliche Aufstellgebühr für Künstler erlassen hat.

(Quelle "SPIEGEL ONLINE" 25.09.2006)






 


Margin Call

Ein großer Vorteil beim Handel von Terminkontrakten liegt darin, dass man mit Kapital agieren kann, das man genaugenommen überhaupt nicht zur Verfügung hat. Nur ein kleiner Teil des eingesetzten Kapitals muss tatsächlich auf dem Konto des Brokers (»Margin Account«) hinterlegt sein. Entwickelt sich das Geschäft jedoch gegen den Trader, kann es zum gefürchteten »Margin-Call«, dem Anruf des Brokers zur Erhöhung der Margin, kommen: man muss echtes Geldauf das Konto nachschiessen um zu verhindern, dass die offenen Positionen zwangsaufgelöst werden.

Als »Margin Call« (oder auch »Variation Margin Call« bzw. »Performance Bond Call«) wird die Nachschusspflicht bezeichnet, die bei Verlust der festgelegten Mindestdeckungshöhe des »Margin Accounts« angefordert wird.

Diese Pflicht zum Nachschuss dient dem Broker als Sicherheit, wenn die vorher geleisteten Einschüsse aufgebraucht sind, also z.B. bei einem entstandenden (Buch-) Verlust zu Lasten des Anlegers. Zwar ist ein bestimmer Spielraum beim »Margin Account« vorhanden, allerdings darf der Wert nicht unter die vorgegebene und festgelegte »Maintenance Margin« fallen.

Falls der Aufforderung zum Nachschuss nicht unverzüglich nachgekommen wird, ist der Broker berechtigt, die Deckung des Kontos auch gegen die Interessen des Traders durch die Schließung der Position herbeizuführen.

Wie man sieht ist sicherzustellen, sofern man »auf Margin« Handel treiben will, dass im Fall eines »Margin Calls« noch genügend Reserven vorhanden sind, auf die in kürzester Zeit zurückgegriffen werden können.

Börsenlexikon

Eve Merriam

 
Wie man ein Gedicht Isst

Sei nicht höflich.
Lang hin,
mit den Fingern. Beiß rein und lecke den Saft
wenn er dir runterläuft am Kinn.
Es ist jetzt bereit und reif, wenn du es bist.
Du brauchst kein Messer, keine Gabel, keinen Löffel
keinen Teller, keine Serviette, keine Tischdecke.
 
Denn da ist kein Kern
kein Stiel
kein Stein
kein Samen
keine Rinde
keine Haut
zum wegwerfen.


 
How to Eat a Poem

Don't be polite.
Bite in.
Pick it up with your fingers and lick the juice that
may run down your chin.
It is ready and ripe now, whenever you are.
You do not need a knife or fork or spoon
or plate or napkin or tablecloth.
For there is no core
or stem
or rind
or pit
or seed
or skin
to throw away.

Eve Merriam

Neulich deutschten auf Deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend


Das Wort

Lebendgem Worte bin ich gut:
Das springt heran so wohlgemut,
Das grüßt mit artigem Genick,
Ist lieblich selbst im Ungeschick,
Hat Blut in sich, kann herzhaft schnauben,
Kriecht dann zum Ohre selbst dem Tauben,
Und ringelt sich und flattert jetzt,
Und was es tut - das Wort ergetzt.

Doch bleibt das Wort ein zartes Wesen,
Bald krank und aber bald genesen.
Willst ihm sein kleines Leben lassen,
Mußt du es leicht und zierlich fassen,
Nicht plump betasten und bedrücken,
Es stirbt oft schon an bösen Blicken -
Und liegt dann da, so ungestalt,
So seelenlos, so arm und kalt,
Sein kleiner Leichnam arg verwandelt,
Von Tod und Sterben mißgehandelt.

Ein totes Wort - ein häßlich Ding,
Ein klapperdürres Kling-Kling-Kling.
Pfui allen häßlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!
 
Friedrich Nietzsche: Gedichte. Reclams UB 7117. S. 43

Peter Bruegel der Ältere Der Turm zu Babel
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
 
Rainer Maria Rilke Berlin-Wilmersdorf, 21. 11.1897
Turm zu Babel M. C. Escher Holzschnitt 1928

Grammatische Deutschheit

Neulich deutschten auf Deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der Deutscheste sey.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich;
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.
Jetzt wettdeuschten sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Comparativ, deutschesten Superlativ.
"Ich bin deutscher als deutsch«. "Ich deutscherer".
"Deutschester bin ich."
"Ich bin der Deutschereste, oder der Deutschestere."
Drauf durch Comparativ und Superlativ fortdeutschend,
Deutschten sie auf bis zum - Deutschesteresteresten;
Bis sie vor comparativisch- und superlativischer Deutschung
Den Positiv von Deutsch hatten vergessen zuletzt.
 
Friedrich Rückert (1788 - 1866): Poetische Werke. 1882


Linguistik

Du mußt mit dem Obstbaum reden.

Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütenworte,
rosa und weiße Worte,
die der Wind
lautlos
davonträgt.

Vertraue dich dem Obstbaum an
wenn dir ein Unrecht geschieht.

Lerne zu schweigen
in der rosa
und weißen Sprache.

Hilde Domin

Der Werwolf

Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: "Bitte, beuge mich!"

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

"Der Werwolf", sprach der gute Mann,
"des Weswolfs, Genitiv sodann,
dem Wemwolf, Dativ, wie mans nennt,
den Wenwolf, - damit hats ein End."

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
"Indessen", bat er, "füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!"

Der Dortschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäbs in großer Schar,
doch *Wer* gäbs nur im Singular.

Der Wolf erhob sich tränenblind -
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.

Christian Morgenstern

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die nicht aus ihren wörtern können

die vielen wörter
die nicht aus ihren sätzen können

die vielen sätze
die nicht aus ihren texten können

die vielen texte
die nicht aus ihren büchern können

die vielen bücher
mit dem vielen staub darauf

die gute putzfrau
mit dem staubwedel

Ernst Jandl

Paul Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen
 
Denken und Danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs. Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von: „gedenken", „eingedenk sein", „Andenken", „Andacht". Erlauben Sie mir, Ihnen von hier aus zu danken.
Die Landschaft, aus der ich - auf welchen Umwegen! aber gibt es das denn: Umwege? -, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. [...] es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten. [...]
Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.
Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah, aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.
In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.
Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war der Versuch, Richtung zu gewinnen. Und wenn ich es nach seinem Sinn befrage, so glaube ich, mir sagen zu müssen, daß in dieser Frage auch die Frage nach dem Uhrzeigersinn mitspricht.
Denn das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen - durch sie hindurch, nicht über sie hinweg.
Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiß nicht immer hoffnungsstarken - Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.
Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht. Und ich glaube auch, daß Gedankengänge wie diese nicht nur meine eigenen Bemühungen begleiten, sondern auch diejenigen anderer Lyriker der jüngeren Generation. Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswunde und Wirklichkeit suchend.

Celan, Paul: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1983, S. 185 f.