Sonntag, 17. Juli 2011

F. D. Roosevelt - Die Zweite Bill of Rights

Am 11. Januar 1941 hielt Franklin Delano Roosevelt, der 32. Präsident der USA, eine Rede zur Lage der Nation (State of the Union Adress). 
Er sagte darin, dass die politischen Rechte, die durch die Verfassung und die Bill of Rights garantiert würden, sich als unzureichend erwiesen hätten, die Gleichberechtigung im Streben nach Glück (pursuit of happiness) abzusichern. Daher, erklärte er, wäre eine zweite, ökonomische Bill of Rights notwendig, mit der eine Basis von Sicherheit und Wohlstand für alle, unabhängig von Herkunft, Glauben oder Rasse, geschaffen werden könnte.
Die Bill of Rights sind die ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten. Sie gewähren den Einwohnern bestimmte unveräußerliche Grundrechte.

Die Zweite Bill of Rights - Die Second Bill of Rights 

"Zur Sicherung des Wohlstands und des sozialen Friedens schlage ich weitere Zusätze zur Verfassung vor – eine zweite Bill of Rights, die allen Bürgerinnen und Bürgern der USA unabhängig von Herkunft, Glaube und Rasse eine neue Basis der Sicherheit und des Wohlstands garantiert: 
Das Recht auf eine nützliche und einträgliche Arbeit. 
Das Recht auf ausreichende Bezahlung. 
Das Recht jedes Farmers, seine Produkte zu einem Preis herzustellen und zu verkaufen, der ihm und seiner Familie einen anständigen Lebensunterhalt garantiert. 
Das Recht jedes Geschäftsmanns, seiner Tätigkeit frei von unfairen Bedingungen oder dem Druck in- und ausländischer Monopole nachzugehen. 
Das Recht jeder Familie auf ausreichenden Wohnraum. 
Das Recht auf adäquate medizinische Betreuung. 
Das Recht auf Alterssicherung, Kranken- und Unfallversicherung und Arbeitslosengeld.
Das Recht auf eine gute Erziehung."
 





Weil, solange es keine Sicherheit hier zu Hause gibt, kann es keinen dauernden Frieden in der Welt geben."
"For unless there is security here at home there cannot be lasting peace in the world."
Roosevelt starb im April 1945 ohne dass die Zweite Bill of Rights in Kraft gesetzt worden wären.




Michael Moore hat bei seinen Vorbereitungen zum Film "Kapitalismus - eine Liebesgschichte", den verloren geglaubten Film-Mitschnitt dieser Rede in einem Archiv in Süd-Carolina gefunden.

Star Wars - Die ersten drei Filme

Dies ist nur für Fans und handelt ausschließlich von den ersten drei Filmen der Star Wars Serie, Episode IV, V und VI, die anderen, später gedrehten, lehne ich ab! Alle Photos sind "behind the camera" Aufnahmen. Der Krieg der Sterne - eine Weltraum Oper:
Erinnert ihr euch an Chalmun's Cantina auch Mos Eisley, Cantina genannt auf dem Planeten Tatooine, eine versiffte, verrauchte Keipe für übles intergalaktisches fahrendes Volk? Eine Band spielt, es wird gesoffen und gedealt, hin und wieder kommt es zu Gewaltaussbrüchen. Was mich damals daran geradezu umgehauen hat, war die scheinbare Normalität der Situation, die Illusion von wirklicher "Wirklichkeit". Kein fremder Ort mit glitzernder, gleißender, hochtechnisierter Ausstattung, keine futuristischen Computeranlagen mit Lämpchen und undefinierten Schaltkreisen. Kein Raumanzug weit und breit. (Erinnert sich noch jemand an das Dampfbügeleisen, eingelassen in das Kontrollzentrum des Raumschiffes "Orion"?)  Die Aliens sehen genauso normal oder merkwürdig aus, wie die Menschen und sie sind in der Überzahl.
Schon als Kind hatte ich alle Science Fiction Bücher verschlungen, deren ich habhaft werden konnte. Jules Verne, Lem, Capek, Bradbury, Strugazki und dann, als ich gut genug Englisch konnte, die Billig-Taschenbücher meiner Mutter aus Amerika: Isaac Asimov und A.E. van Vogt und Arthur C. Clarke und Frank Herbert und Heinlein und und und. Mein Kopf war geübt im Entwerfen unbekannter Welten und Wesen, Weltraumkriege interessierten mich schon damals nicht, aber die Ausmaße der Möglichkeiten, die Hoffnung, die in manchen dieser Entwürfe von Zukunft lag, faszinierte mich. Schlußendlich waren es natürlich die gleichen Grundmuster wie in Geschichten anderer Genres, aber es kam ein Freiraum hinzu, eine Erlaubnis zu spinnen und zu phantasieren, ohne, jedenfalls bei den guten Autoren, den Kontakt zur Realität völlig zu verlieren.
Man kann die die Konstruktion der "Star Wars" Geschichte gut mit den Mustern der mythischen Heldengeschichten vergleichen, Aeneas, Herakles, Gilgamesch - Lukas hatte Joseph Campell gründlich gelesen. (Kann manchmal recht nützlich sein "die Reise des Helden" als dramaturgischen Helfer für klassische Dramen zu verwenden.)
Hier in der Cantina, hatte George Lukas, für mich in Bilder gefasst, was ich phantastischen Realismus nennen möchte. Alice im Wunderland, Herr der Ringe, selbst Pinocchio fallen für mich in diese Kategorie.
Viele Wesen sieht man nur im Anschnitt oder von hinten, einmal staksen zwei dünne Vogelbeine durch den Bildvordergrund, vieles bleibt im Geahnten und der Ton der Szene ist wiedererkennbar für jeden, der je in einer runtergekommenen Bar in einer Hafenstadt gewesen ist.
Im Englischen gibt es den schönen Begriff "a sense of wonder", Staunen wäre vielleicht eine Übersetzung - man begegnet Bekanntem in unbekannter Umgebung und begreift es dadurch besser - im Theater nennen wir das wohl  Verfremdung.

http://cantinacustoms.tripod.com/id26.htm

1977 - A new hope / Eine neue Hoffnung
1980 - The Empire strikes back / Das Imperium schlägt zurück
1983 - Return of the Jedi / Die Rückkehr der Jedi-Ritter

Date Masamun, japanischer Fürst und Schwertkämpfer 1567-1636, Sein Helm ist wohl die Vorlage für den von Darth Vader

Freitag, 15. Juli 2011

Francesco Petrarca - Martin Opitz - Sonett XXI


SONETT XXI

Ist Liebe lauter nichts / wie daß sie mich entzündet?
Ist sie dann gleichwol was / wem ist ihr Thun bewust?
Ist sie auch gut vnd recht / wie bringt sie böse Lust?
Ist sie nicht gut / wie daß man Frewd' auß jhr empfindet?
    Lieb' ich ohn allen Zwang / wie kan ich schmertzen tragen?
Muß ich es thun / was hilfft's daß ich solch Trawren führ'?
Heb' ich es vngern an / wer dann befihlt es mir?
Thue ich es aber gern'/ vmb was hab' ich zu klagen?
    Ich wancke wie das Graß so von den kühlen Winden
Vmb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her:
Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer
    Von Wellen vmbgejagt nicht kan zu Rande finden.
Ich weiß nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weiß:
Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß. 

Francisci Petrarchae; Übersetzung Martin Opitz


Erschienen im Buch "Gedichte"
 ISBN: 3-15-000361-X 
Herausgeber: Philipp Reclam jun. 

Francesco Petrarch 1304 – 1374






















Donnerstag, 14. Juli 2011

Artemisia und Orazio Gentileschi - Danaë

Akrisios, der König von Argos, hatte eine Tochter, aber keinen männlichen Erben. Als er ein Orakel befragte, ob dass so bleiben würde, bekam er die Antwort: „Du wirst keine Söhne haben und dein Enkel wird dich töten.“
Was tun? Er sperrt Danaë in ein Verlies ganz aus Bronze und läßt sie, sicher ist sicher, auch noch von wilden Hunden bewachen. 
Zeus läßt sich von solchem Kinderkram nicht abhalten, er verwandelt sich in goldenen Regen und schauert auf Danaë nieder. Sie wird schwanger und gebiert Perseus.
Akrisios setzt Mutter und Kind in eine hölzerne Kiste und setzt sie auf dem Meer aus. So etwas kam scheinbar häufiger vor, man denke an Ödipus oder Moses oder Romulus und Remus. Die antike Vorform der Babyklappe.
Beide werden aber natürlich gerettet und letztendlich kommt es wie es kommen muß:
Ein Diskus, von Perseus im Wettkampf geschleudert, wird von den Göttern so umgelenkt, dass Großvater Akrisios tödlich getroffen zusammenbricht.
Orazio Gentileschi; Danae
Zwei Variationen zu einem Thema gemalt von Vater und Tochter. Beim Vater wird auf weissen Laken dankbar empfangen, bei der Tochter auf rotem Samt intensiv genossen. Und die kluge Dienstmagd spielt Sternentaler.
"Da fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Thaler, und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, hatte es doch eins an, aber vom allerfeinsten Linnen, da sammelte es sich die Thaler hinein und ward reich fur sein Lebtag."

Artemisia Gentileschi; Danae

 Danae - Aus einem Trauergesang. 


Als um den kunstgefügten Kasten nun
Der Wind erbraust' und die empörte Welle,
Da sank sie hin in Angst, betränt die Wangen,
Und schlang um Perseus' Nacken ihren Arm
Und sprach: O Kind, wie groß ist meine Qual!
Du aber atmest sanft im Schlaf und ruhst
Mit stiller Säuglingsbrust im freudelosen
Erzfesten nachterleuchteten Gehäus
Dahingestreckt in tiefe Dämmernis,
Und lässest ruhig über deinem dichten
Gelockten Haar die Flut vorüberwandeln
Und das Geheul des Sturmes,
In deinem Purpurkleid, ein lächelnd Antlitz.
Ach, ahntest du die Schrecken um dich her,
Gewiß, du lauschtest mir mit bangem Ohr.
Doch schlaf, o Kind, und schlafen soll die See
Und schlafen all das unermeßne Leid!
Du aber wandle deinen harten Sinn,
O Zeus! – Und ist ein Frevel dies Gebet,
Vergib mir, Vater, um des Kindes willen!

Simonides von Keos
Artemisia Gentileschi; Cleopatra
Hochsommer
 
Von des Sonnengotts Geschossen
Liegen Wald und Flur versengt,
Drüber, wie aus Stahl gegossen,
Wolkenlose Bläue hängt.

In der glutgeborstnen Erde
Stirbt das Saatkorn, durstig ächzt
Am versiegten Bach die Herde,
Und der Hirsch im Forste lechzt.

Kein Gesang mehr in den Zweigen!
Keine Lilie mehr am Rain! –
O wann wirst du niedersteigen,
Donnerer, wir harren dein.

Komm, o komm in Wetterschlägen!
Deine Braut vergeht vor Weh –
Komm herab im goldnen Regen
Zur verschmachtenden Danae!

Emanuel Geibel (1815-1884)

Mittwoch, 13. Juli 2011

Albanien und die 700 000 Bunker

Ein Ausflug nach Albanien: Knallhartes Kontrast-programm, hier (Korfu) ein Land, dessen Wirtschaft rabiat auseinanderfällt, dort (Sarande) ein Land im unkontrollierten und unkontrollierbaren Aufbauwahn. Mein Familienalbaner meint 70% der Häuser in Sarande sind in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren gebaut worden. Viele davon wurden begonnen und warten jetzt darauf, dass der Besitzer wieder Geld hat, um weiter zu bauen.
Andere wurden ohne Genehmigung gebaut und wenn das bemerkt wird, kommt das Amt und sägt einen oder zwei der Träger durch. Das Haus knickt ein und bleibt dann einfach schief und unbewohnbar in der Landschaft stehen.
Eine halbe Stunde entfernt, Butrini oder Bothrotum, eine Miniaturübersicht der Geschichte des Mittelmeerraumes, angeblich gegründet von Helenus, dem Schwiegersohn des Priamus, und seiner Frau Andromache auf der Flucht aus dem zerstörten Troja.

Dann griechisches Asklepios-Heiligtum, römische Siedlung, Ziel von Vandalen-angriffen, Christianisierung mitsamt heilig-gesprochenem Märtytrer. (Er wurde als Gladiator wilden Tieren vorgesetzt.) Später kam Byzanz und die Venezianer folgten und ... 
Man hat ganz sinnlich das Bild von Völkern, Stämmen, Heeren, die über dieses Meer fuhren, fahren mit- und gegeneinander kämpfen, Bäder bauen und Theater, Religionen wechseln, Mosaike legen, lieben, hassen, träumen, aber das Meer bleibt und die Landschaft: wild, karg, heiß, herrlich. In dieser Landschaft heute massenweise Müll, Plastetüten, Dosen, Verpackungen. Der Kapitalismus ist eingeritten und nach Jahren der brutalsten Isolation, wird das Neue gierig gegriffen, nur weiß man noch gar nicht damit
umzugehen. Erst nur als kleine Irritation, doch später immer auffallender, halbrunde Beton-Pilze in der Landschaft, scheinbar zufällig und vereinzelt gesetzt, sehen sie aus wie UFOs aus billigen Filmen der 50er Jahre. Es sind Bunker. Zwischen 1950 und 1985 ließ Enver Hodscha 700 000 dieser Dinger bauen, bei einer Bevölkerung von 3 Millionen. Der Ingeneur des Prototypen musste sich in ihm einem Panzerangriff aussetzen, damit dem hohen Führer ihre Stabilität beweisend. Er hat den Test überlebt, leider?


Hodscha hat auch darauf bestanden, dass Strassen nur kurvig gebaut werden, so dass keine feindlichen Flugzeuge darauf landen können. Als, nach der albanischen Wende, der  Kulturminister Kinder und Künstler dazu aufforderte, die Pilze in bunte Magic Mushrooms zu verwandeln, schritt das Militär ein und verhinderte das Vorhaben.
Natürlich ist dies nur ein kleiner Eindruck, aber so ungefähr stelle ich mir den Wilden Osten vor. Die sich auflösende DDR bekam nach der Wende wohl und übel die Hilfe des westlichen Bruders, hier aber herrscht
Anarchie in Gleichzeitigkeit mit verkarsteten alten Machtkonstellationen, überlebt habenden
Clanstrukturen und den Gelüsten der
internationalen Wirtschaftsgiganten.

Dienstag, 12. Juli 2011

Theater hat auch Schweiß


Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. 1. Mos. 3, 19 

Wenn ich spiele, schwitze ich. Immer. Selbst bei Lesungen.
Es will mir nicht gelingen mit luftiger Frisur über den Abend zu kommen, bzw., wenn es denn eine Perücke ist, sammelt sich literweise Schweiß darunter, löst den Kleber oder schießt als Sturzbach hervor, wenn die "Mütze" abgenommen wird. Maskenbildnerinnen verzweifeln bei dem Versuch, künstliche Schönheit oder andere artifizielle Effekte dauerhaft auf mein Gesicht zu spachteln. Pant rhei - Alles fließt, im direktesten Sinne des Wortes.
Manchmal, da man die praktisch-gräßlichen Joggerstirnbänder beim Spielen nur selten tragen kann, läuft das salzige Zeug in die Augen und ich kann nur sagen - halbblind geht auch. Ein Kollege transpirierte sogar derart, dass eine Zuschauerin, die zum wiederholten Mal in einer Vorstellung saß, sich mit einer altmodischen Regenpellerine gewappnet hatte, um den regengussartigen Angriffen seiner Intensität, nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.

Und tief innen, da wo der gesunde Menschenverstand schweigt, mißtraue ich den Nichtschwitzern, denen, die mit kühler Stirn und trockenem Kostüm die andere Seite des Theaterabends erreichen. Vielleicht ist es nur Neid?
Aber es heißt doch Lampenfieber! Ohne es, ohne das Flackern im Bauch, die Lust an der Panik, die Imagination der Niederlage, mag ich nicht auftreten. Und Fieber läßt schwitzen, Fieber muß rausgeschwitzt werden. Das schließt einen kühlen Kopf nicht aus. Ein heißes Herz und ein kühler Kopf, vielleicht ist es das.
Ich liebe die erschöpft-glücklichen Gesichter von Spielern am Ende eines gelungenen Abends, ganz offen, verletzlich und frei. Ein kurzer Moment nur, aber kostbar.
Nebenbei: im Stück gestorben, tot auf der Bühne liegend, beginnt ein einzelner Schweißtropfen seinen Schlängelweg über Stirn, Nase, Oberlippe bis zum Kinn und man darf sich, natürlich nicht bewegen, man ist ja tot. Oh, selige Folter.

Michael Stipe, Los Angeles, 1994 © Michael Tighe

Pablo Neruda - geboren am 12. Juli 1904 - vor 107 Jahren


"Der Mensch möchte Fisch sein und Vogel, 
die Schlange hätte gerne Schwingen, 
der Hund ist ein fehlgeleiteter Löwe, 
der Ingenieur wäre lieber Dichter, 
die Fliege übt den Flug der Schwalbe, 
der Dichter eifert nach der Fliege, 
nur die Katze will nichts als Katze sein."

Pablo Neruda 1971

Montag, 11. Juli 2011

Theater hat auch ein Freilicht

Wandertheater am Flussufer Johann Christian Vollert 1708-1769
Meyers Lexikon schreibt: "Freilichtbühne, Freilichttheater, Theater unter freiem Himmel, das in Anknüpfung an das antike Theater oder das höfische Naturtheater des 17. und 18. Jahrhunderts einem gegebenen Gelände angepasst ist, wie in Epidauros, Syrakus, Verona u. a., oder das als Hintergrund historische Bauwerke, Kirchen und Burgruinen o.ä. hat."

Wenn das Theater das Theater verlässt, verändert sich alles: Sauerstoff anstatt Theaterluft,
nicht dimmbares Tageslicht, echte Dunkelheiten und unzuverlässige Lichtwechsel durch Wolken und das zeitlich unperfekte Untergehen der Sonne. Vögel singen ungebeten, Insekten machen sowieso was sie wollen, unregulierbare Nebengeräusche aller Art und überhaupt und völlig unbeherrschbar: DAS WETTER.
Inspizienten von Freilichtaufführungen entwickeln sich zu Meteorologie-Spezialisten, alle unken, hoffen, starren in den Himmel und auch vor magischen Ritualen wird nicht zurückgeschreckt.
"Singing in the rain" Donald O'Connor, Debbie Reynolds, Gene Kelly
Wenn vor der Pause abgebrochen wird, muss das Eintrittsgeld zurückgegeben werden und so sitzt man als Zuschauer nur notdürftig geschützt durch die mitgebrachten Decken, ohne Sicht, weil der Vordermann seinen aus dem Hotel gestohlenen Schirm mit Werbeslogan aufgespannt hat, ohne Ton, weil das Prasseln von Milliarden Regentropfen jede menschliche Stimme übertönt oder die winzigen Mikrophone, die wie zarte Warzen, die Gesichter der Spieler verunstalten, außer Betrieb setzt, und starrt gebannt, wie eine ehemals in unschuldiges Weiss gekleidete Julia im Schlamm der sich auflösenden Bühne, um ihre Liebe kämpft, Romeo im Duell zweimal auf den Arsch fällt und dann Tybalt nur unter größten Mühen doch noch töten kann - er hätte ihn ertränken sollen. Aber irgendwie haben alle ihren Spass, die auf den Tribünen, Bänken, Podesten, Rasenflächen und die auf den Brettern, festgestampften Erdböden oder sonstwelchen Spielflächenuntergründen.
Es ist live. Es fehlt die manchen einschüchternde Seriösität des Theaters. Nicht, dass hier nicht auch ernsthaft gearbeitet und gespielt wird, aber es schwingt doch eine Erinnerung an Jahrmarkt, an reisende Truppen, an Jahrmarkts-Gaukler mit, bei den Schauenden und den Spielenden.

Und immerhin sind ja auch oft viele der Zuschauer in Bussen herangefahren worden, drei Stunden Busfahrt, Kaffee und Kuchen, Theater und dan wieder heimwärts im Bus. Ein Ausflug all inclusive, ein Reisebüroabenteuer.
Ober-/Mittelrhein. Maler des 17. Jhd.
Fahrendes Volk
Und die Spieler? Treffen sich zu vier oder sechs Wochen Proben und die anschließenden Vorstellungen in kleinen und kleinsten Städten, ganztägig aufeinander geschubst, in meist gräslichen Unterkünften hausend, mit keiner Gesellschaft, als dieser temporären Pseudofamilie. Es wird gearbeitet und gegrillt, sich kurz verliebt und viel getrunken und wieder gearbeitet. Und trotz der manchmal harten Bedingungen ist da irgendwie auch ein Gefühl wie Ferienlager oder, im schlimmsten Fall, Trainingscamp.

Bei der Stadttheater-Sommerbespielung fehlt das oft, hier sind alle von einer langen Spielzeit erschöpft und müssen jetzt noch Freilicht schrubben, oft Kinderstücke morgens um 9 vor hunderten (im Idealfall) urlaubenden, ausgeschlafenen Kindern. Aber doch, auch hier...

Und vergessen wir nicht den Zauber des Ortes, ob an der See, oder vor Bergen, in Kirchenruinen oder uralten Amphitheatern und die Sterne und der Mond, wenn dann die Dunkelheit kommt und wie wunderbar Shilouetten vor Nachthimmel wirken und wenn es dann noch Feuer oder sogar ein Feuerwerk gibt!

Die Gaukler

Am Strande des Gelobten Lands
Im glühen Stich des Sonnenbrands
Kämpft Ludowig der Fromme;
Er trägt in sich des Todes Keim,
Ihm ahnt es, dass er nimmer heim
Ins schöne Frankreich komme.

Scheu lauscht in Zeltes Dämmerschein

Ein junger Edelknecht herein
Und hinter ihm die andern:
"Herr König, es sind Gaukler da,
Drei Brüder aus Armenia,
Die nach dem Grabe wandern.

Es heisst, sie spielen wunderschön!

Erlaubt ein frisches Horngetön
Uns allen anzuhören!"
Der König seufzt: "Betrug der Welt!
Bringt mir die Gaukler in das Zelt,
Dass sie euch nicht betören!"

Jetzt heben an den
Mund die drei
Das Horn und spielen frank und frei,
Als ging es aus zum Jagen.
Dann wie ein Quell im Walde quillt,
So rieselt sanft und wächst und schwillt
Ein Jubeln und ein Klagen.

Gemach vertönt der Hörner Schall,

Laut ruft Renaud von Reineval:
"Du Herzenstrost der Minne!
Lucinden, die sich um mich kränkt,
In Treuen ihres Pilgers denkt,
Sah ich auf stiller Zinne!"

"Ich schaute", fällt Jung Walter ein,

"In meinem Teich den Widerschein
Von Eichen kühl und düster,
Ich sah mein Boot, der Ruder bar,
Das halb ans Land gezogen war,
Umneigt von Schilfgeflüster!"

Ein jeder hat im Horneslaut

Sein Herz belauscht, sein Lieb geschaut,
Sein Minnen und sein Sehnen.
- "Herr König, sagt, was sinnet Ihr?
Was sehnet Ihr? Was minnet Ihr?
Was rinnen Euch die Tränen?"

Herr Ludwig
flüstert: "Selger Traum!
Mich hoben durch den Himmelsraum
Angelische Gestalten.
`Getreuer Knecht willkomm!’ erscholl
Ein Ruf - ich konnte wonnevoll
Die Tränen nicht verhalten."

Conrad Ferdinand Meyer

Jacques Callot: Burlesque violinist from Varie Figure Gobbi, 1616

Sonntag, 10. Juli 2011

Die Nachtigall

Die Nachtigall

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.

Sie war doch sonst ein wildes Kind;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.

Theodor Storm

Pompeii - Wandgemälde - Haus der Goldenen Liebesgötter - Ausschnitt - Nachtigall und Rosen
  Hans Christian Andersen

Die Nachtigall

In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird. Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde, so mißlich daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, die erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in des Kaisers Garten fein ausgedacht, und er erstreckte sich so weit, daß der Gärtner selbst das Ende nicht kannte; ging man immer weiter, so kam man in den herrlichsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald ging gerade hinunter bis zum Meere, das blau und tief war. Große Schiffe konnten unter den Zweigen hinsegeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang, daß selbst der arme Fischer, der soviel anderes zu tun hatte, stillhielt und horchte, wenn er nachts ausgefahren war, um das Fischnetz aufzuziehen. »Ach Gott, wie ist das schön!« sagte er, aber dann mußte er auf sein Netz achtgeben und vergaß den Vogel; doch wenn dieser in der nächsten Nacht wieder sang und der Fischer dorthin kam, sagte er wieder: »Ach Gott, wie ist das doch schön!«

Von allen Ländern kamen Reisende nach der Stadt des Kaisers und bewunderten sie, das Schloß und den Garten; doch wenn sie die Nachtigall zu hören bekamen, sagten sie alle: »Das ist doch das Beste!«

Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloß und den Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, sie wurde am höchsten gestellt, und die, welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten Gedichte über die Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.

Joan Miró Das Nachtigallen Lied um Mitternacht und der morgendliche Regen

Die Bücher durchliefen die Welt, und einige kamen dann auch einmal zum Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhl, las und las, jeden Augenblick nickte er mit dem Kopfe, denn er freute sich über die prächtigen Beschreibungen der Stadt, des Schlosses und des Gartens. »Aber die Nachtigall ist doch das Allerbeste!« stand da geschrieben.

»Was ist das?« fragte der Kaiser. »Die Nachtigall kenne ich ja gar nicht! Ist ein solcher Vogel hier in meinem Kaiserreiche und sogar in meinem Garten? Das habe ich nie gehört; so etwas soll man erst aus Büchern erfahren?«

Da rief er seinen Haushofmeister. Der war so vornehm, daß, wenn jemand, der geringer war als er, mit ihm zu sprechen oder ihn um etwas zu fragen wagte, er weiter nichts erwiderte als: »P!« Und das hat nichts zu bedeuten.

»Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, der Nachtigall genannt wird!« sagte der Kaiser. »Man spricht, dies sei das Allerbeste in meinem großen Reiche; weshalb hat man mir nie etwas davon gesagt?«

»Ich habe ihn früher nie nennen hören«, sagte der Haushofmeister. »Er ist nie bei Hofe vorgestellt worden!«

»Ich will, daß er heute abend herkomme und vor mir singe!« sagte der Kaiser. »Die ganze Welt weiß, was ich habe, und ich weiß es nicht!«

»Ich habe ihn früher nie nennen hören!« sagte der Haushofmeister. »Ich werde ihn suchen, ich werde ihn finden!«

Aber wo war er zu finden? Der Haushofmeister lief alle Treppen auf und nieder, durch Säle und Gänge, keiner von allen denen, auf die er traf, hatte von der Nachtigall sprechen hören. Und der Haushofmeister lief wieder zum Kaiser und sagte, daß es sicher eine Fabel von denen sei, die da Bücher schreiben. »Dero Kaiserliche Majestät können gar nicht glauben, was da alles geschrieben wird; das sind Erdichtungen und etwas, was man die schwarze Kunst nennt!«

»Aber das Buch, in dem ich dieses gelesen habe», sagte der Kaiser, »ist mir von dem großmächtigen Kaiser von Japan gesandt, also kann es keine Unwahrheit sein. Ich will die Nachtigall hören; sie muß heute abend hier sein! Sie hat meine höchste Gnade! Und kommt sie nicht, so soll dem ganzen Hof auf den Leib getrampelt werden, wenn er Abendbrot gegessen hat!«

»Tsing-pe!« sagte der Haushofmeister und lief wieder alle Treppen auf und nieder, durch alle Säle und Gänge; und der halbe Hof lief mit, denn sie wollten nicht gern auf den Leib getrampelt werden. Da gab es ein Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, die von aller Welt gekannt war, nur von niemand bei Hofe. 
Nachtigall und Chinesischer Lackbaum
Endlich trafen sie ein kleines, armes Mädchen in der Küche. Sie sagte: »O Gott, die Nachtigall, die kenne ich gut, ja, wie kann die singen! Jeden Abend habe ich die Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter einige Überbleibsel vom Tische mit nach Hause zu bringen. Sie wohnt unten am Strande, wenn ich dann zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, höre ich Nachtigall singen. Es kommt mir dabei das Wasser in die Augen, und es ist gerade, als ob meine Mutter mich küßte!«

»Kleine Köchin«, sagte der Haushofmeister, »ich werde dir eine feste Anstellung in der Küche und die Erlaubnis, den Kaiser speisen zu sehen, verschaffen, wenn du uns zur Nachtigall führen kannst; denn sie ist zu heute abend angesagt.«

So zogen sie allesamt hinaus in den Wald, wo die Nachtigall zu singen pflegte; der halbe Hof war mit. Als sie im besten Zuge waren, fing eine Kuh zu brüllen an.

»Oh!« sagten die Hofjunker, »nun haben wir sie; das ist doch eine merkwürdige Kraft in einem so kleinen Tiere! Die habe ich sicher schon früher gehört!«

»Nein, das sind Kühe, die brüllen!« sagte die kleine Köchin. »Wir sind noch weit von dem Orte entfernt!«

Nun quakten die Frösche im Sumpfe.

»Herrlich!« sagte der chinesische Schloßpropst. »Nun höre ich sie, es klingt gerade wie kleine Tempelglocken.«

»Nein, das sind Frösche!« sagte die kleine Köchin. »Aber nun, denke ich werden wir sie bald hören!«

Da begann die Nachtigall zu singen.

»Das ist sie«, sagte das kleine Mädchen. »Hört, hört! Und da sitzt sie!« Sie zeigte nach einem kleinen, grauen Vogel oben in den Zweigen.

»Ist es möglich?« sagte der Haushofmeister. »So hätte ich sie mir nimmer gedacht; wie einfach sie aussieht! Sie hat sicher ihre Farbe darüber verloren, daß sie so viele vornehme Menschen um sich erblickt!«

»Kleine Nachtigall«, rief die kleine Köchin ganz laut, »unser gnädigste Kaiser will, daß Sie vor ihm singen möchten!«

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte die Nachtigall und sang dann, daß es eine Lust war.

»Es ist gerade wie Glasglocken!« sagte der Haushofmeister. »Und seht die kleine Kehle, wie sie arbeitet! Es ist merkwürdig, daß wir sie früher nie gesehen haben; sie wird großes Aufsehen bei Hofe machen!«

»Soll ich noch einmal vor dem Kaiser singen?« fragte die Nachtigall, die glaubte, der Kaiser sei auch da.

»Meine vortreffliche, kleine Nachtigall«, sagte der Haushofmeister, »ich habe die große Freude, Sie zu einem Hoffeste heute abend einzuladen, wo Sie Dero hohe Kaiserliche Gnaden mit Ihrem prächtigen Gesange bezaubern werden!«

»Der nimmt sich am besten im Grünen aus!« sagte die Nachtigall, aber sie kam doch gern mit, als sie hörte, daß der Kaiser es wünschte.
Phillip Otto Runge Die Lehrstunde der Nachtigall 1804/05
Auf dem Schlosse war alles aufgeputzt. Wände und Fußboden, die von Porzellan waren, glänzten im Strahle vieler tausend goldener Lampen, und die prächtigsten Blumen, die recht klingeln konnten, waren in den Gängen aufgestellt. Da war ein Laufen und ein Zugwind, aber alle Glocken klingelten so, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte.

Mitten in dem großen Saal, wo der Kaiser saß, war ein goldener Stab hingestellt, auf dem sollte die Nachtigall sitzen. Der ganze Hof war da, und die kleine Köchin hatte die Erlaubnis erhalten, hinter der Tür zu stehen, da sie nun den Titel einer wirklichen Hofköchin bekommen hatte. Alle waren in ihrem größten Staate, und alle sahen nach dem kleinen, grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte.

Die Nachtigall sang so herrlich, daß dem Kaiser die Tränen in die Augen traten, die Tränen liefen ihm über die Wangen hernieder, und da sang die Nachtigall noch schöner; das ging recht zu Herzen. Der Kaiser war sehr erfreut und sagte, daß die Nachtigall einen goldenen Pantoffel um den Hals tragen solle. Aber die Nachtigall dankte, sie habe schon Belohnung genug erhalten.

»Ich habe Tränen in des Kaisers Augen gesehen, das ist mir der reichste Schatz! Gott weiß es, ich bin genug belohnt!« Und darauf sang sie wieder mit ihrer süßen, herrlichen Stimme.

»Das ist die liebenswürdigste Stimme, die wir kennen!« sagten die Damen ringsherum, und dann nahmen sie Wasser in den Mund, um zu klucken, wenn jemand mit ihnen spräche; sie glaubten, dann auch Nachtigallen zu sein. Ja, die Diener und Kammermädchen ließen melden, daß auch sie zufrieden seien, und das will viel sagen, denn sie sind am schwierigsten zu befriedigen. Ja, die Nachtigall machte wahrlich Glück.

Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der Freiheit, zweimal des Tages und einmal des Nachts herauszuspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, die ihr ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten, woran sie sie festhielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei solchem Ausflug.

Die ganze Stadt sprach von dem merkwürdigen Vogel, und begegneten sich zwei, dann seufzten sie und verstanden einander: Ja, elf Hökerkinder wurden nach ihr benannt, aber nicht eins von ihnen hatte einen Ton in der Kehle.

Persische Darstellung einer Nachtigall
Eines Tages erhielt der Kaiser eine Kiste, auf der geschrieben stand: »Die Nachtigall.«

»Da haben wir nun ein neues Buch über unseren berühmten Vogel!« sagte der Kaiser; aber es war kein Buch, es war ein Kunststück, das in einer Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den künstlichen Vogel aufzog, konnte er eins der Stücke, die der wirkliche sang, singen, und dann bewegte sich der Schweif auf und nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines Band, und darauf stand geschrieben: »Des Kaisers von Japan Nachtigall ist arm gegen die des Kaisers von China.«

»Das ist herrlich!« sagten alle, und der Mann, der den künstlichen Vogel gebracht hatte, erhielt sogleich den Titel: Kaiserlicher Oberhofnachtigallbringer.

»Nun müssen sie zusammen singen! Was wird das für ein Genuß werden!«

Sie mußten zusammen singen, aber es wollte nicht recht gehen, denn die wirkliche Nachtigall sang auf ihre Weise, und der Kunstvogel ging auf Walzen. »Der hat keine Schuld«, sagte der Spielmeister; »der ist besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!« Nun sollte der Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso viel Glück wie der wirkliche, und dann war er viel niedlicher anzusehen; er glänzte wie Armbänder und Brustnadeln.

Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorn gehört, aber der Kaiser meinte, daß nun auch die lebendige Nachtigall etwas singen solle. Aber wo war die? Niemand hatte bemerkt, daß sie aus dem offenen Fenster fort zu ihren grünen Wäldern geflogen war.

»Aber was ist denn das?« fragte der Kaiser; und alle Hofleute schalten und meinten, daß die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. »Den besten Vogel haben wir doch!« sagten sie, und so mußte der Kunstvogel wieder singen, und das war das vierunddreißigste Mal, daß sie dasselbe Stück zu hören bekamen, aber sie konnten es noch nicht ganz auswendig, denn es war sehr schwer. Der Spielmeister lobte den Vogel außerordentlich, ja, er versicherte, daß er besser als die wirkliche Nachtigall sei, nicht nur was die Kleider und die vielen herrlichen Diamanten betreffe, sondern auch innerlich.

Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen! Bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt; man kann es erklären, man kann ihn aufmachen und das menschliche Denken zeigen, wie die Walzen liegen, wie sie gehen und wie das eine aus dem andern folgt!«

»Das sind ganz unsere Gedanken!« sagten sie alle, und der Spielmeister erhielt die Erlaubnis, am nächsten Sonntag den Vogel dem Volke vorzuzeigen. Es sollte ihn auch singen hören, befahl der Kaiser, und es hörte ihn, und es wurde so vergnügt, als ob es sich im Tee berauscht hätte, denn das ist ganz chinesisch; und da sagten alle: »Oh!« und hielten den Zeigefinger in die Höhe und nickten dazu. Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, sagten: »Es klingt hübsch, die Melodien gleichen sich auch, aber es fehlt etwas, wir wissen nicht was!«

Die wirkliche Nachtigall ward aus dem Lande und Reiche verwiesen. 
Die Nachtigall Hans Christian Andersen illustriert von Jiri Behounek 1971

Der Kunstvogel hatte seinen Platz auf einem seidenen Kissen dicht bei des Kaisers Bett; alle Geschenke, die er erhalten, Gold und Edelsteine, lagen rings um ihn her, und im Titel war er zu einem 'Hochkaiserlichen Nachttischsänger' gestiegen, im Range Numero eins zur linken Seite, denn der Kaiser rechnete die Seite für die vornehmste, auf der das Herz saß, und das Herz sitzt auch bei einem Kaiser links. Und der Spielmeister schrieb ein Werk von fünfundzwanzig Bänden über den Kunstvogel; das war so gelehrt und lang, voll von den allerschwersten chinesischen Wörtern, daß alle Leute sagten, sie haben es gelesen und verstanden, denn sonst wären sie ja dumm gewesen und auf den Leib getrampelt worden.

So ging es ein ganzes Jahr; der Kaiser, der Hof und alle die übrigen Chinesen konnten jeden kleinen Kluck in des Kunstvogels Gesang auswendig, aber gerade deshalb gefiel er ihnen jetzt am allerbesten; sie konnten selbst mitsingen, und das taten sie. Die Straßenbuben sangen »Ziziiz! Kluckkluckkluck!« und der Kaiser sang es. Ja, das war gewiß prächtig!

Aber eines Abends, als der Kunstvogel am besten sang und der Kaiser im Bette lag und darauf hörte, sagte es »Schwupp« inwendig im Vogel; da sprang etwas. »Schnurrrr!« Alle Räder liefen herum, und dann stand die Musik still. 
This animatronic bird was created for Shelly Duvall's Fairy Tale theatre
Der Kaiser sprang gleich aus dem Bette und ließ seinen Leibarzt rufen. Aber was konnte der helfen? Dann ließen sie den Uhrmacher holen, und nach vielem Sprechen und Nachsehen brachte er den Vogel etwas in Ordnung, aber er sagte, daß er sehr geschont werden müsse, denn die Zapfen seien abgenutzt, und es sei unmöglich, neue so einzusetzen, daß die Musik sicher gehe. Das war nun eine große Trauer! Nur einmal des Jahres durfte man den Kunstvogel singen lassen, und das war fast schon zuviel, aber dann hielt der Spielmeister eine kleine Rede mit schweren Worten und sagte, daß es ebensogut wie früher sei, und dann war es ebensogut wie früher.

Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirkliche, große Trauer. Die Chinesen hielten im Grunde allesamt große Stücke auf ihren Kaiser, und jetzt war er krank und konnte nicht länger leben. Schon war ein neuer Kaiser gewählt, und das Volk stand draußen auf der Straße und fragte den Haushofmeister, wie es seinem alten Kaiser gehe.

»P!« sagte er und schüttelte mit dem Kopfe.

Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bett. Der ganze Hof glaubte ihn tot, und ein jeder lief, den neuen Kaiser zu begrüßen, die Kammerdiener liefen hinaus, um darüber zu sprechen, und die Kammermädchen hatten große Kaffeegesellschaft. Ringsumher in allen Sälen und Gängen war Tuch gelegt, damit man niemand gehen höre, und deshalb war es sehr still. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und bleich lag er in dem prächtigen Bette mit den langen Samtvorhängen und den schweren Goldquasten, hoch oben stand ein Fenster auf, und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.

Der arme Kaiser konnte kaum atmen, es war gerade, als ob etwas auf seiner Brust säße. Er schlug die Augen auf, und da sah er, daß es der Tod war. Er hatte sich eine goldene Krone aufgesetzt und hielt in der einen Hand des Kaisers goldenen Säbel, in der andern seine prächtige Fahne. Ringsumher aus den Falten der großen Samtbettvorhänge sahen allerlei wunderliche Köpfe hervor, einige ganz häßlich, andere lieblich und mild; das waren des Kaisers gute und böse Taten, die ihn anblickten, jetzt, da der Tod ihm auf dem Herzen saß.

»Entsinnst du dich dessen?« Und dann erzählten sie ihm so viel, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.

»Das habe ich nie gewußt!« sagte der Kaiser. »Musik, Musik, die große chinesische Trommel«, rief er, »damit ich nicht alles zu hören brauche, was sie sagen!«

Aber sie fuhren fort, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was gesagt wurde. »Musik, Musik!« schrie der Kaiser. »Du kleiner herrlicher Goldvogel, singe doch, singe! Ich habe dir Gold und Kostbarkeiten gegeben, ich habe dir selbst meinen goldenen Pantoffel um den Hals gehängt, singe doch, singe!«

Aber der Vogel stand still, es war niemand da, um ihn aufzuziehen, sonst sang er nicht, und der Tod fuhr fort, den Kaiser mit seinen großen, leeren Augenhöhlen anzustarren, und es war still, erschrecklich still. 
Hans Andersen's Fairy Tales. Milo Winter, illustrator. Chicago: Rand McNally & Company, c1916
Da klang auf einmal vom Fenster her der herrlichste Gesang. Es war die kleine, lebendige Nachtigall, die auf einem Zweige draußen saß. Sie hatte von der Not ihres Kaisers gehört und war deshalb gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen; und so wie sie sang, wurden die Gespenster bleicher und bleicher, das Blut kam immer rascher und rascher in des Kaisers schwachen Gliedern in Bewegung, und selbst der Tod horchte und sagte: »Fahre fort, kleine Nachtigall! Fahre fort!«

»Ja, willst du mir den prächtigen, goldenen Säbel geben? Willst du mir die reiche Fahne geben? Willst du mir des Kaisers Krone geben?«

Der Tod gab jedes Kleinod für einen Gesang, und die Nachtigall fuhr fort zu singen. Sie sang von dem stillen Gottesacker, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Flieder duftet und wo das frische Gras von den Tränen der Überlebenden befeuchtet wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel aus dem Fenster.

»Dank, Dank!« sagte der Kaiser, »du himmlischer, kleiner Vogel, ich kenne dich wohl! Dich habe ich aus meinem Lande und Reich gejagt, und doch hast du die bösen Geister von meinem Bette weggesungen, den Tod von meinem Herzen weggeschafft! Wie kann ich dir lohnen?«

»Du hast mich belohnt!« sagte die Nachtigall. »Ich habe deinen Augen Tränen entlockt, als ich das erstemal sang, das vergesse ich nie; das sind die Juwelen, die ein Sängerherz erfreuen. Aber schlafe nun und werde stark, ich werde dir vorsingen!«

Sie sang, und der Kaiser fiel in süßen Schlummer; mild und wohltuend war der Schlaf!

Die Sonne schien durch das Fenster herein, als er gestärkt und gesund erwachte. Keiner von seinen Dienern war noch zurückgekehrt; denn sie glaubten, er sei tot; aber die Nachtigall saß noch und sang.

»Immer mußt du bei mir bleiben!« sagte der Kaiser. »Du sollst nur singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke.«

»Tue das nicht«, sagte die Nachtigall, »der hat ja das Gute getan, solange er konnte, behalte ihn wie bisher. Ich kann nicht nisten und wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, damit du froh werden kannst und gedankenvoll zugleich. Ich werde von den Glücklichen singen und von denen, die da leiden; ich werde vom Bösen und Guten singen, was rings um dich her dir verborgen bleibt. Der kleine Singvogel fliegt weit herum zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach, zu jedem, der weit von dir und deinem Hofe entfernt ist. Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Ich komme und singe dir vor! Aber eins mußt du mir versprechen!«

»Alles!« sagte der Kaiser und stand da in seiner kaiserlichen Tracht, die er angelegt hatte, und drückte den Säbel, der schwer von Gold war, an sein Herz. »Um eins bitte ich dich; erzähle niemand, daß du einen kleinen Vogel hast, der dir alles sagt, dann wird es noch besser gehen!«

So flog die Nachtigall fort.

Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: »Guten Morgen!«
Die Nachtigall und der Habicht nach Aesop
Aus meinen Tränen sprießen
Viel blühende Blumen hervor,
Und meine Seufzer werden
Ein Nachtigallenchor.
Und wenn du mich liebhast, Kindchen,
Schenk ich dir die Blumen all,
Und vor deinem Fenster soll klingen
Das Lied der Nachtigall.

Heinrich Heine

Luscinia megarhynchos - Nachtigall
 Nachtigal ich hör dich singen

Nachtigal ich hör dich singen,
Das Herz möcht mir im Leib zerspringen,
Komme doch und sag mir bald,
Wie ich mich verhalten soll.
2. Nachtigal ich seh dich laufen,
An dem Bächlein thust du saufen,
Du tunkst dein klein Schnäblein ein,
Meinst es wär der beste Wein.
3. Nachtigal wo ist gut wohnen,
Auf den Linden, in den Kronen,
Bei der schön Frau Nachtigal,
Grüß mein Schätzchen tausendmal.
Nachtigall, ich hör' dich singen,
Das Herz im Leib tut mir zerspringen.
Komm nur her und sag mir wohl,
Wie ich mich verhalten soll, ja soll,
Wie ich mich verhalten soll. :| 2. Tausendmal in einer Stund'
Sing'n die Vöglein alt und jung,
Setz mich hin und höre zu,
Fallen drei Ros' auf meinen Schuh.
Fallen drei Ros' auf meinen Schuh. 
3. Nachtigall, die sollst du bringen
Meinem Liebsten und tu singen,
Singen, singen, Nachtigall,
Grüß meinen Schatz veiltausendmal, ja mal,
Grüß meinen Schatz veiltausendmal. 
4. Aber Kerl, du willst mich fangen?
Ei, das war ja mein Verlangen.
Aber jetzt ist alles aus,
Ich such mir ein andren aus, raus- ja raus,
Ich such mir ein andren aus. 
5. Nachtigall, hier ist gut wohnen
Bei den Sängern vor den Toren,
Bei der schönen Frau Nachtigall,
Grüß mein Schatz vieltausendmal, ja mal,
Grüß mein Schatz vieltausendmal! 
6. Nachtigall, ich hör dich laufen,
Von dem Bächlein tust du saufen,
Tauchst hinein dein Schnäbelein,
Glaubst, es wär der beste Wein, ja Wein,
Glaubst es wär der best Wein. 

Aus des "Knaben Wunderhorn"

Diese saloppe Berliner Redensart geht wohl auf dieses Lied zurück und bekam seine jetzige Form durch eine Zusammenziehung der Anfangszeilen der ersten und der zweiten Strophe.