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Sonntag, 13. März 2022

DER HORATIER - HEINER MÜLLER - 1968


Heiner Müller
DER HORATIER (1968)

Zwischen der Stadt Rom und der Stadt Alba

War ein Streit um Herrschaft. 

Gegen die Streitenden

Standen in Waffen die Etrusker, mächtig.

Ihren Streit auszumachen vor dem erwarteten Angriff

Stellten sich gegeneinander in Schlachtordnung

Die gemeinsam Bedrohten. Die Heerführer

Traten jeder vor sein Heer und sagten

Einer dem andern: Weil die Schlacht schwächt

Sieger und Besiegte, laßt uns das Los werfen

Damit ein Mann kämpfe für unsere Stadt

Gegen einen Mann, kämpfend für eure Stadt

Aufsparend die andern für den gemeinsamen Feind

Und die Heere schlugen die Schwerter gegen die Schilde 

Zum Zeichen der Zustimmung und die Lose wurden geworfen. 

Die Lose bestimmten zu kämpfen

Für Rom einen Horatier, für Alba einen Kuriatier.

Der Kuriatier war verlobt der Schwester des Horatiers

Und der Horatier und der Kuriatier

Wurden gefragt jeder von seinem Heer:

Er ist/Du bist verlobt deiner/seiner Schwester. 

Soll das Los Geworfen werden noch einmal?

Und der Horatier und der Kuriatier sagten: Nein

Und sie kämpften zwischen den Schlachtreihen

Und der Horatier verwundete den Kuriatier

Und der Kuriatier sagte mit schwindender Stimme:

Schone den Besiegten. Ich bin

Deiner Schwester verlobt.

Und der Horatier schrie:

Meine Braut heißt Rom

Und der Horatier stieß dem Kuriatier

Sein Schwert in den Hals, daß das Blut auf die Erde fiel.

Als nach Rom heimkehrte der Horatier

Auf den Schilden der unverwundeten Mannschaft

Über die Schulter geworfen das Schlachtkleid

Des Kuriatiers, den er getötet hatte

Am Gürtel das Beuteschwert, in Händen das blutige eigne 

Kam ihm entgegen am östlichen Stadttor

Mit schnellem Schritt seine Schwester und hinter ihr

Sein alter Vater, langsam

Und der Sieger sprang von den Schilden, im Jubel des Volks 

Entgegenzunehmen die Umarmung der Schwester.

Aber die Schwester erkannte das blutige Schlachtkleid

Werk ihrer Hände, und schrie und löste ihr Haar auf.

Und der Horatier schalt die trauernde Schwester:

Was schreist du und lösest dein Haar auf.

Rom hat gesiegt. Vor dir steht der Sieger.

Und die Schwester küßte das blutige Schlachtkleid und schrie: Rom.

Gib mir wieder, was in diesem Kleid war.

Und der Horatier, im Arm noch den Schwertschwung

Mit dem er getötet hatte den Kuriatier

Um den seine Schwester weinte jetzt

Stieß das Schwert, auf dem das Blut des Beweinten

Noch nicht getrocknet war

In die Brust der Weinenden

Daß das Blut auf die Erde fiel. Er sagte:

Geh zu ihm, den du mehr liebst als Rom.

Das jeder Römerin

Die den Feind betrauert.

Und er zeigte das zweimal blutige Schwert allen Römern

Und der Jubel verstummte. Nur aus den hinteren Reihen

Der zuschauenden Menge hörte man noch

Heil rufen. Dort war noch nicht bemerkt worden

Das Schreckliche. 

Als im Schweigen des Volks der Vater 

Angekommen war bei seinen Kindern

Hatte er nur noch ein Kind. Er sagte:

Du hast deine Schwester getötet.

Und der Horatier verbarg das zweimal blutige Schwert nicht

Und der Vater des Horatiers

Sah das zweimal blutige Schwert an und sagte:

Du hast gesiegt. Rom Herrscht über Alba.

Er beweinte die Tochter, verdeckten Gesichts

Breitete auf ihre Wunde das Schlachtkleid

Werk ihrer Hände, blutig vom gleichen Schwert

Und umarmte den Sieger.

Zu den Horatiern jetzt

Traten die Liktoren, trennten mit Rutenbündel und Beil

Die Umarmung, nahmen das Beuteschwert

Vom Gürtel dem Sieger und dem Mörder aus der Hand das zweifach Blutige eigne.

Und von den Römern einer rief:

Er hat gesiegt. Rom Herrscht über Alba.

Und von den Römern ein andrer entgegnete:

Er hat seine Schwester getötet.

Und die Römer riefen gegeneinander:

Ehrt den Sieger.

Richtet den Mörder.

Und Römer nahmen das Schwert gegen Römer im Streit

Ob als Sieger geehrt werden sollte

Oder gerichtet werden als Mörder der Horatier.

Die Liktoren

Trennten die Streitenden mit Rutenbündel und Beil

Und beriefen das Volk in die Versammlung

Und das Volk bestimmte aus seiner Mitte zwei

Recht zu sprechen über den Horatier

Und gab dem einen in die Hand

Den Lorbeer für den Sieger

Und dem andern das Richtbeil, dem Mörder bestimmt

Und der Horatier stand

Zwischen Lorbeer und Beil.

Aber sein Vater stellte sich zu ihm

Der erste im Verlust, und sagte:

Schändliches Schauspiel, das der Albaner selbst

Nicht ansäh ohne Scham.

Gegen die Stadt stehn die Etrusker

Und Rom zerbricht sein bestes Schwert.

Um eine sorgt ihr.

Sorgt um Rom.

Und von den Römern einer entgegnete ihm

Rom hat viele Schwerter.

Kein Römer

Ist weniger als Rom oder Rom ist nicht.

Und von den Römern ein anderer sagte

Und zeigte mit Fingern die Richtung des Feinds: 

Zweifach mächtig

Ist der Etrusker, wenn entzweit ist Rom

Durch verschiedne Meinung

In unzeitigem Gericht.

Und der erste begründete so seine Meinung:

Ungesprochenes Gespräch

Beschwert den Schwertarm.

Verhehlter Zwiespalt

Macht die Schlachtreihe schütter.

Und die Liktoren trennten zum zweiten Mal

Die Umarmung der Horatier, und die Römer bewaffneten sich

Jeder mit seinem Schwert.

Der den Lorbeer hielt und der das Beil hielt

Jeder mit seinem Schwert, so daß die Linke jetzt

Den Lorbeer oder das Beil hielt und das Schwert

Die Rechte. Die Liktoren selbst

Legten aus der Hand einen Blick lang

Die Insignien ihres Amts und steckten

In den Gürtel jeder sein Schwert und nahmen

In die Hand wieder Rutenbündel und Beil

Und der Horatier bückte sich

Nach seinem Schwert, dem blutigen, das im Staub lag. 

Aber die Liktoren Verwehrten es ihm mit Rutenbündel und Beil.

Und der Vater des Horatiers nahm sein Schwert auch und ging 

Aufzuheben mit der Linken das blutige

Des Siegers, der ein Mörder war

Und die Liktoren verwehrten es ihm auch

Und die Wachen wurden verstärkt an den vier Toren

Und das Gericht wurde fortgesetzt

In Erwartung des Feinds.

Und der Lorbeerträger sagte:

Sein Verdienst löscht seine Schuld

Und der Beilträger sagte:

Seine Schuld löscht sein Verdienst

Und der Lorbeerträger fragte:

Soll der Sieger gerichtet werden? 

Und der Beilträger fragte:

Soll der Mörder geehrt werden?

Und der Lorbeerträger sagte:

Wenn der Mörder gerichtet wird

Wird der Sieger gerichtet

Und der Beilträger sagte:

Wenn der Sieger geehrt wird

Wird der Mörder geehrt.

Und das Volk blickte auf den unteilbaren einen

Täter der verschiedenen Taten und schwieg.

Und der Lorbeerträger und der Beilträger fragten:

Wenn das eine nicht getan werden kann

Ohne das andere, das es ungetan macht

Weil der Sieger/Mörder und der Mörder/Sieger sind ein Mann, unteilbar 

Sollen wir also von beidem keines tun

So daß da ein Sieg/Mord ist, aber kein Sieger/Mörder

Sondern der Sieger/Mörder heißt Niemand?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme

(Aber der Vater des Horatiers schwieg): 

Da ist der Sieger. Sein Name: Horatius. 

Da ist der Mörder. Sein Name: Horatius. 

Viele Männer sind in einem Mann.

Einer hat gesiegt für Rom im Schwertkampf.

Ein andrer hat seine Schwester getötet

Ohne Notwendigkeit. Jedem das Seine.

Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil. 

Und der Horatier wurde gekrönt mit dem Lorbeer 

Und der Lorbeerträger hielt sein Schwert hoch 

Mit gestrecktem Arm und ehrte den Sieger

Und die Liktoren legten aus der Hand

Rutenbündel und Beil und hoben das Schwert auf

Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut

Das im Staub lag und reichten es dem Sieger

Und der Horatier mit gekrönter Schläfe

Hielt sein Schwert hoch so daß für alle sichtbar war

Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut

Und der Beilträger legte das Beil aus der Hand, und die Römer alle 

Hielten jeder sein Schwert hoch drei Herzschläge lang

Mit gestrecktem Arm und ehrten den Sieger.

Und die Liktoren steckten ihre Schwerter

In den Gürtel wieder, nahmen das Schwert

Des Siegers aus der Hand dem Mörder und warfen es

In den vorigen Staub, und der Beilträger riß

Dem Mörder von der Schläfe den Lorbeer

Mit dem der Sieger gekrönt worden war und gab ihn

Wieder in die Hand dem Lorbeerträger und warf dem Horatier 

Über den Kopf das Tuch in der Farbe der Nacht

In die zu gehen er verurteilt war

Weil er einen Menschen getötet hatte

Ohne Notwendigkeit, und die Römer alle

Steckten jeder sein Schwert in die Scheide

So daß die Schneiden alle bedeckt waren

Damit nicht teilhatten die Waffen

Mit denen der Sieger geehrt worden war

An der Richtung des Mörders. Aber die Wachen

An den vier Toren in Erwartung des Feinds

Bedeckten ihre Schwerter nicht

Und die Schneiden der Beile blieben unbedeckt

Und das Schwert des Siegers, das im Staub lag, blutig.

Und der Vater des Horatiers sagte:

Dieser ist mein letztes. Tötet mich für ihn.

Und das Volk antwortete mit einer Stimme:

Kein Mann ist ein andrer Mann

Und der Horatier wurde gerichtet mit dem Beil

Daß das Blut auf die Erde fiel

Und der Lorbeerträger, in der Hand

Wieder den Lorbeer des Siegers, zerrauft jetzt

Weil von der Schläfe gerissen dem Mörder

Fragte das Volk:

Was soll geschehn mit dem Leichnam des Siegers?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme:

Der Leichnam des Siegers soll aufgebahrt werden

Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert.

Und sie fügten zusammen ungefähr

Das natürlich nicht mehr Vereinbare

Den Kopf des Mörders und den Leib des Mörders 

Getrennt voneinander mit dem Richtbeil

Blutig aus eigenem beide, zum Leichnam des Siegers

Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert 

Nicht achtend sein Blut, das über die Schilde floß

Nicht achtend sein Blut auf den Händen, und drückten ihm 

Auf die Schläfe den zerrauften Lorbeer

Und steckten in die Hand mit den gekrümmten Fingern 

Vom letzten Krampf sein staubig blutiges Schwert ihm 

Und kreuzten über ihm die nackten Schwerter

Andeutend, daß nichts versehren solle den Leichnam 

Des Horatiers, der gesiegt hatte für Rom

Nicht Regen noch Zeit, nicht Schnee noch Vergessen 

Und betrauerten ihn mit verdecktem Gesicht.

Aber die Wachen an den vier Toren

In Erwartung des Feinds

Verdeckten ihre Gesichter nicht.

Und der Beilträger, in Händen wieder das Richtbeil

Auf dem das Blut des Siegers noch nicht getrocknet war 

Fragte das Volk:

Was soll geschehn mit dem Leichnam des Mörders? 

Und das Volk antwortete mit einer Stimme

(Aber der letzte Horatier schwieg) :

Der Leichnam des Mörders

Soll vor die Hunde geworfen werden 

Damit sie ihn zerreißen

Also daß nichts bleibt von ihm

Der einen Menschen getötet hat 

Ohne Notwendigkeit.

Und der letzte Horatier, im Gesicht

Zweifach die Tränenspur, sagte:

Der Sieger ist tot, der nicht zu vergessende

Solange Rom über Alba herrschen wird.

Vergeßt den Mörder, wie ich ihn vergessen habe

Der erste im Verlust.

Und von den Römern einer antwortete ihm:

Länger als Rom über Alba herrschen wird

Wird nicht zu vergessen sein Rom und das Beispiel

Das es gegeben hat oder nicht gegeben

Abwägend mit der Waage des Händlers gegen einander

Oder reinlich scheidend Schuld und Verdienst

Des unteilbaren Täters verschiedener Taten

Fürchtend die unreine Wahrheit oder nicht fürchtend

Und das halbe Beispiel ist kein Beispiel

Was nicht getan wird ganz bis zum wirklichen Ende

Kehrt ins Nichts am Zügel der Zeit im Krebsgang.

Und der Lorbeer wurde dem Sieger abgenommen

Und von den Römern einer verneigte sich

Vor dem Leichnam und sagte:

Gestatte, daß wir aus der Hand brechen, Sieger

Dir nicht mehr Empfindendem

Das Schwert, das gebraucht wird.

Und von den Römern ein andrer spie auf den Leichnam und sagte: 

Mörder, gib das Schwert heraus.

Und das Schwert wurde ihm aus der Hand gebrochen

Nämlich seine Hand mit der Totenstarre

Hatte sich geschlossen um den Schwertknauf

So daß die Finger gebrochen werden mußten 

Dem Horatier, damit er das Schwert herausgab 

Mit dem er getötet hatte für Rom und einmal 

Nicht für Rom, das blutige einmal zu viel

Damit gebraucht werden konnte von andern besser 

Was gut gebraucht hatte er und einmal nicht gut.

Und der Leichnam des Mörders, entzweit vom Richtbeil

Wurde vor die Hunde geworfen, damit sie

Ganz ihn zerrissen, so daß nichts bleibe von ihm

Der einen Menschen getötet hatte 

Ohne Notwendigkeit, oder so viel wie nichts.

Und von den Römern einer fragte die andern: 

Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt? 

Und das Volk antwortete mit einer Stimme: 

Er soll genannt werden der Sieger über Alba

Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester

Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.

Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht 

Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund

Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht 

Der soll auch mit den Hunden wohnen.

Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit

Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit

Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders 

Oder für verschiedne Ohren anders

Dem soll die Zunge ausgerissen werden.

Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn

Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann

Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte

Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar

Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.

Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.

So stellten sie auf, nicht fürchtend die unreine Wahrheit

In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel

Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest

Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel

Und gingen jeder an seine Arbeit wieder, im Griff

Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert.





Sonntag, 6. Februar 2022

Dieter Mann ist gestorben

Dieter Mann. 

Wir haben uns über die vielen Jahre immer gesiezt und doch mit dem Vornamen angesprochen. Eine unfassbar altmodische Form von gegenseitigem Respekt.

Ich war 21, Elevin und in den Proben zu Alexander Langs "Sommernachtstraum" gab es der Witzeleien über meine Jugend die Menge. Eines Tages, wieder mal eine lustige Bemerkung, diesmal von Dieter Mann, über meine jugendliche Erscheinung, genauer meine Brüste. Und ich hatte genug, biss zurück, "Ist Ihnen das nicht irgendwann langweilig?" Pause. Mir schoß durchs Hirn, jetzt hast Du's dir mit einem älteren Kollegen versaut. Nach langer Pause murmelte D.M. "Ich werde sehr bald 40." Seitdem hatte ich ihn gern.

Mit Christine Schorn in "Unterwegs"

Er hat mir, nun schon als Intendant, vorgeschlagen, das Deutsche Theater zu verlassen, sah keine Zukunft für mich. Er hat zwei Jahre später, ich hatte seinen Rat nicht befolgt, seinen Vorschlag zurückgenommen und mich in die DT-Familie aufgenommen. Er war, mir gegenüber, in ganz erstaunlicher Weise ehrlich und klar. Damit konnte ich gut umgehen.

Er hat mir, zusammen mit Ulrike Krumbiegel, als blutige Regie-Anfängerin zu meiner ersten Regie in den Kammerspielen des Deutschen Theaters verholfen und hat sich meinen noch sehr unlockeren Einfällen großmütig und offen ausgesetzt.

Er hat, als wir, 1988/89, "Die Diktatur des Gewissens", von Schatrow, ein wirklich schlechtes Stück, aber auch ein wirklich notwendiger Text zur Zeit, gefühlte 1000 Mal in einem Jahr spielten, den alten Mann aus der Ukraine, um uns aufzuheitern, ein jedesmal anders alt angelegt, mal war er 80, dann 120, gelegentlich noch viel älter.

Er war ein Arbeiterkind, Student der Arbeiter- und Bauern Fakultät, seine Bildung, und sie war beeindruckend, war das Ergebnis von harter Arbeit und Hoffnung. Wenn der verfluchte unsozialistische Sozialismus eine gute Seite hatte, dann, dass Kinder, die nie hätten studieren können, es konnten.

Er war Mitglied der SED und Intendant, sicher ein zweischneidiges Ding, eine solche Position in einem solchen Land. Er hat im aufgeregten und aufregenden Jahr 1989 einige gute Entscheidungen getroffen und versucht, Notwendiges zu ermöglichen.

ZWEI KRAWATTEN  Aufzeichnung der Inszenierung des Deutschen Theaters. Was für ein Spaß war das und dann hat Dieter auch noch gesteppt.

Er gab elegante Handküsse.

Er konnte ganz wunderbar Gedichte sprechen und Verse, präzise, unangestrengt, ganz gerade gedacht, nicht betont oder getönt. 

Photo Ralf Hirschberger / dpa

Ich hatte ihn sehr gern und es gibt mittlerweile verflixt viele Kränze, die von der Nachwelt, für von mir verehrte Mimen, nicht geflochten werden.

Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze,
Drum muss er geizen mit der Gegenwart,
Den Augenblick, der sein ist, ganz erfüllen,
Muss seiner Mitwelt mächtig sich versichern,
Und im Gefühl der Würdigsten und Besten
Ein lebend Denkmal sich erbaun – So nimmt er
Sich seines Namens Ewigkeit voraus,
Denn wer den Besten seiner Zeit genug
Getan, der hat gelebt für alle Zeiten.



Sonntag, 21. November 2021

GUDRUN RITTER - GÖTZ-GEORGE-PREIS

 

Ich liebe Gudrun Ritter. 

Sie ist eine zarte, kleine Frau mit wissenden Augen und einem gefährlich sinnlichen Mund, ihre Stimme kann rau und schrill und flirrend und trocken und gurrend und hart und zärtlich und und und ... Sie ist immer, immer direkt im Ton, nie tönend, nie salbadernd, nie vage, sondern genau ins Ziel.

Eine gefährliche Elfe, eine klarsehende Träumerin, eine Unschuld mit Wissen und Sexappeal, ein Mysterium, selbst wenn sie scheinbar einfach wirkt. 

Und wie macht sie das, dass es jedesmal wirkt, als sei es frisch, gerade passiert, neu gedacht? 

Torquato Tasso, Zwei Krawatten, Miss Sara Sampson, Stella, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, Sugardollies, die Aufzählung könnte Seiten füllen. 

Ich gucke ihr so gern zu, so gern. 

Und ihr unerreichtes "Was?" in Proben, superlaut und gänzlich plötzlich, wenn sie die Souffleuse nicht verstand. Das nahm der Probe die Heiligkeit und gab ihr Leben.

In einer Produktion, in der der Regisseur gelegentlich zu terroristischen Methoden gegen einzelne Spieler, öfter gegen mich, griff, rettete mich ihr gut gesetztes Rülpsen, nach hinten, unhörbar fürs Publikum, aber mir die Angst nehmend, in einer anderen, nicht ganz gelungenen Inszenierung hat sie mich an einer schwer erträglichen Stelle lustvoll, heftig in die Wade gekniffen. Dafür bin ich ihr ewig dankbar.

Heute wurde sie mit dem Götz-George-Preis der gleichnamigen Stiftung in einer liebevoll vorbereiteten und durchdachten Veranstaltung, ausgezeichnet. Der Abend war 2G plus und trotzdem habe ich Angsthase meist mit Maske dagesessen, so viele Leute.

Und plötzlich saß da eine kleine Runde von DT Veteranen, Tine Schorn, Bernd Stempel, Dagmar Manzel - uff, so viele Erinnerungen. Ich hab an diesem Haus 15 Jahre verbracht, gute Jahre, mit harschen Phasen. Es waren meine prägende Jahre und ich habe dort Menschen getroffen, die mir die wirklich wichtigen Dinge für mein Theaterleben beigebracht haben, obwohl sie sich nie als "Lehrer" verstanden habe. Und dafür liebe ich sie. Manche, wie Tine und Gudrun sind putzmunter und aktiv, andere sind krank oder von uns fortgegangen, alle waren Spielmäuse.

Besser als Gudrun es heute Abend gesagt hat, kann ich es nicht formulieren: "Wenn ich könnte, ich würde nochmal von vorn anfangen."

Sonntag, 29. August 2021

EIN THEATERABEND

Ein Theaterabend.

Er ist lang. Ich darf nicht in Gemütlichkeit verfallen.

Die Ästhetik ist karg & makellos, der für das Licht notwendige Theaternebel pufft allerdings immer noch deutlich sichtbar von dem Ort, an dem die ihn produzierende Maschine steht, bevor er sich elegant verteilt. Das Licht ist präzise, die Übergänge weich, unmerklich, das zusätzliche Neon des Bühnenbildes sichert ab, dass es nicht schön aussehen darf und ist immer leicht zu grell.

Die Musik erklingt ohne Unterlaß und begleitet oder führt die emotionalen Bögen der Inszenierung, Bassteppiche, wechselnde Rhythmen, langsam anwachsende Intensität auf ein Crescendo hin, langer Nachklang. Emotionale, dramaturgische Wendungen, Spannungsmomente, auch das, was man gemeinhin Ausbrüche nennt, selbst die wortlosen Phasen sind durchkomponiert. Ich werde akustisch beim Ohr genommen und geleitet. Dabei ist es wichtig, dass die Lautstärke über weite Strecken leicht über dem mir angenehmen Level liegt. Das trifft auch für die Mikroports der Schauspieler zu.

Die Schauspieler. Tolle Leute dabei.

Sprechduktus, Bewegungstempo, Blickrichtung sind mit leichten Abweichungen, für alle Darsteller gleichermaßen festgelegt. Ein Wort, zwei Worte, drei sind die Ausnahme, Pause, ein Wort, zwei Worte, die Ausnahme. Die körperliche und geatmete Anspannung ist konstant hoch, Momente der Entspannung, Unterspannung, Abwesenheit werden vermieden. Stille und Stillstehen kommen nicht vor. Brüche sind unerwünscht. 

Kann mich ein Schauspieler aus sich heraus ohne akustische Beihilfe beim Kragen nehmen und hinreißen?

Hier sind Strenge gegen die Spieler und Strenge gegenüber dem Publikum angestrebt.

Nicht mein Interesse, mein Vergnügen, mein Zorn sollen angesprochen werden, ich werde zum Teil einer Gemeinde bestimmt, zum Teilnehmer eines Gottesdienstes, eines vermuteten antiken Rituals.

Vielleicht ist es Teil meines Erbes als Bewohner der DDR, dass ich konstanter Erregung gegenüber, sei es Begeisterung oder, wie an diesem Theaterabend, Ergriffenheit, eine mißtrauische, widerborstige Ablehnung zeige.

Der Wettkampf des Intensiven mit dem Noch-Intensiveren ermöglicht keinen Gewinner.

Ungebrochenes Leiden, unbefragte, weil nur ertragene Tragödien, ohne den notwendigen Zweifel, der lebensrettenden Irritation: warum ist es geschehen und wie hätte es vermieden werden können, entlassen mich ärgerlich, hilflos und erschöpft.





Sonntag, 13. Juni 2021

Machtmißbrauch, Sexismus, Rassismus = Theater?

Die, meist schmuddeligen Bretter, die mir, irrerweise, immer noch die Welt bedeuten, haben einen ganz eigenen Geruch. Schweiß, geflossen aus Angst und Leidenschaft, Schminke, fettig und süßlich, Staub, immer Staub, erhitzter Staub unter Scheinwerfern, kalter Staub wiederverwenderter Kulissen, die Ausdünstungen von Menschen, spielender Menschen, Menschen im Lampenfieber, helfender Menschen, schauender Menschen. Und die Ausdünstungen aller vergangenen Vorstellungen, der gelungenen und der vergeigten, vermischen sich in diesem stinkenden, duftenenden Mischmasch. Menschen, die diesen Geruch lieben, sind nicht besonders, aber eigenartig. Sie stürzen sich in einen Beruf, der weder sozial, noch finanziell vielversprechende Angebote macht, die Arbeitszeiten sind Scheiße, Anerkennung ungewiss, aber sie, wir wollen, wir müssen diesem Duft nachjagen. Junkies, hooked on theatre.

Seit September 2020 habe ich den nicht mehr gerochen. Ein Junkie auf Entzug.

Machtmißbrauch, Sexismus, Rassismus = Theater?

In letzter Zeit lese, höre ich, wenn über diesen für mich magisch parfümierten Raum gesprochen wird, mindestens einen der drei anderen Begriffe auch. 

Es fing ganz wunderbar an, endlich wird das archaische Machtsystem des deutschen Stadttheaters in Frage gestellt. Endlich. Das Ensemblenetzwerk gründet sich, der GDBA wacht auf. Ein Aufbruch in wütender Liebe zum Theater.

Die Organisationsform des deutschen Stadttheaters wurzelt im Feudalismus und bewirbt sich gleichzeitig um Aufnahme ins Weltkulturerbe. 

Bei Wiki finde ich, dass "ursprünglich am feudalen Hof ein Intendant der Verwalter des (z. B. königlichen oder fürstlichen) Fundus oder der Kleiderkammer war, im Absolutismus bezeichnete man hiermit den Steuereintreiber." Die nahezu ungebremste Machtfülle des Intendanten begünstigt seinen Mißbrauch dieser Macht. 

Die Gagen für die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler sind geradezu lächerlich niedrig und ungerecht verteilt zwischen den Geschlechtern, wie allerorten, zu Ungunsten der Frauen. Regieassistenti*innen werden noch schlechter bezahlt und heftiger ausgebeutet. Die Arbeitszeiten aller Leute mit NV Solo-Verträgen sind empörend schlecht geregelt. 

Regisseur*innen verwechseln ihre vereinende, zielgebende Aufgabe mit intellektueller Überlegenheit und herablassender Berechtigung, weil sie es können und verletzen das zerbrechliche, kostbare Verhältnis von Schauspieler*innen und Regisseur*innen immer wieder durch Rücksichtslosigkeit, Ungeduld und mangelndes Talent.

Also gilt es, neu nachdenken, andere, zeitgemäßere Organisations- und Schutzformen zu entwickeln.

Aber allmählich beginnt sich der Ton der Diskussion zu verändern. In diesem schrecklichen Jahr, in dem die Theater nicht spielen konnten, verwandeln sich diese Orte vor meinen lesenden Augen in schlammige, tiefschwarze Abgründe, in denen notgeile weiße Männer hilflose Mitarbeiter*innen  verfolgen, systemischer Rassismus ungehindert Amok läuft, von Angst geschüttelte Schauspieler*innen unter menschenunwürdigem Druck arbeiten. Eine "toxische", systemisch rassistische, ergo kunstfeindliche Umgebung in der ich seit vielen, vielen Jahren meine produktive Zeit verbringe.

Die katholische Kirche wirkt im Vergleich wie ein kinderbespaßendes Bällebad. 

Was habe ich nicht mitbekommen? Während ich inszeniert habe an kleinen, mittleren und großen Theatern und mit freien Gruppen?

Alle Welt und ihr Onkel entschuldigt sich schnellstens und glaubwürdig. Abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass man sich selbst ent-schulden kann, bezweifle ich auch, dass auf diese Art neues Verständnis entsteht. Öffentliche Kritik und Selbstkritik kenne ich gut aus meiner DDR-Schulzeit und habe es schon damals nicht gemocht, ein übles Ritual basierend auf moralischer Erpressung.

Mir scheint es fast so als würde hier keine neuen Kommunikationsformen gesucht, sondern Urteile gefällt, Strafen erlassen, Machtbereiche abgesteckt. Die weg, wir rein, und dann wird alls anders, besser. Eine monumentale, verzweifelte Selbstzerfleischung einer sowieso gefährdeten Kunstform, geführt in digitalen Foren mit Wortgewalt und gnadenloser, verallgemeinernder Wut

Der Stücke-Kanon muß weg ist noch einer der harmlosesten Verbesserungsvorschläge. Kleist weg. Schiller weg. Shakespeare weg. Weil ihre Figuren nicht unserer positiven Erwartung an den modernen Menschen entsprechen. What the fuck? Die meisten Menschen entsprechen nicht unseren Erwartungen. Das ist die Freude unseres Berufes, zu versuchen Konstellationen und Biographien zu verstehen, die uns vollkommen fremd scheinen und sich letztendlich als bekannt entblößen.

"Wenn wir unsere Vergangenheit nicht kennen (verstehen), werden wir keine (bessere) Zukunft haben." Was in klarem Deutsch heißt, wir machen den selben Scheiß wieder und wieder.

Irgendwann geht mir in diesen Auseinandersetzungen die Kunst verloren. 

Ich bin ziemlich alt, weiß, jüdisch, weiblich und noch viele andere Dinge. Das heißt was? Ich sollte besser gar keine Meinung haben? Meine Meinung ist sowieso systemisch rassistisch? Mich mochten Leute nicht, weil mein Nachname sie ärgerte, oder weil ich eine laute Frau war, oder weil ich aus dem Osten war. So what the fuck?

Wie werden wir probieren, wenn wir nicht mehr angstfrei, grenzenlos spinnen können? 

Sind alle Ankläger Opfer, die in gerechter Wut aufbegehren? Welche Eigeninteressen spielen eine Rolle? Könnten wir uns darauf einigen, nicht grundsätzlich selbstgerecht zu sein?

Ich habe in meiner Zeit als Theaterarbeiter nicht den Eindruck gehabt, es ginge hier grundsätzlich anders zu, als in der übrigen Welt. Soziale Abhängigkeit und Unsicherheit führt zu Ungerechtigkeit und sind ein gewöhnlicher und immanenter Teil des kapitalistischen Systems, in dem wir alle leben. 

Sind wir sauer auf uns selbst, weil wir besser verdienen, wenn wir uns nicht ganz treu bleiben? Verkaufen wir unsere Besonderheit für Anwesenheit in der Presse? Sind wir neidisch? Haben wir unrealistische Ansprüche? Ist Opfer sein ein Alleinstellungsmerkmal?

Wollen wir Gerechtigkeit? Für jeden? Gibt es die? Wo? Wie?


Beide Bilder sind Ausschnitte eines Frescos an der Decke des Domes in Florenz.

Freitag, 5. März 2021

HEINZ KLEVENOW

Heinz Klevenow ist gestorben. Zu früh.

Er war, was ich den guten Lehm nennen möchte, der unser wackeliges Theatergebäude zusammenhält. Hart arbeitend, enthusiastisch, herzlich, interessiert, wach, kollegial. Ein wunderbar heutiger Clown.
Er war nicht Schauspieler von Beruf, er WAR Schauspieler, mit jeder Faser, mit dem Herzen und dem Hirn.
Er ist Jahrzehnte lang mit seiner Familie durch die ostdeutsche Republik gewandert und hat an vielen Orten für gutes Theater gesorgt. Nach dem Fall der Mauer hat er dann das Senftenberger Theater in die neuen, verwirrenden Zeiten gelenkt.
Und er spielte gern, so gern, so ganz und gar. Und wie er sich geärgert hat, wenn er mal nicht auf den Text kam!
Ich vermisse ihn. 
Billy, seine Frau und Mitkämpferin, umarme ich aus der Ferne und sende ihr Küsse und Liebe und wünsche mir, dass sie TROTZALLEDEM die Kraft findet, weiter zu spielen.
 

Freitag, 30. Oktober 2020

Volker Pfüller - Ein guter Mann

 

IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN!

Ich war also gewarnt, aber lag trotzdem falsch. 

1978, Alexander Lang inszeniert "Miss Sara Sampson" von Gotthold Ephraim Lessing, das zentrale Trio: Gudrun Ritter, Katja Paryla und Christian Grashoff. Ich, zwanzigjährig, spiele meine erste wirkliche Rolle, die Tochter der Marwood, Arabella, sitze in Volkers Bühne, in dem von ihm entworfenen Kostüm und bin gänzlich ahnungslos, überwältigt in Liebe - zum Theater. 

1981, wieder Alex, wieder Volker, diesmal Büchners "Dantons Tod", im schönsten Kostüm meines Lebens, in einem roten Raum schwebe ich im weißen Empirekleid, ein totgeweihter Engel, weiß geschminkt umschattet von Rot, Ahnung der drohenden, kommenden Brände. Volker hat es mir so sehr leichter gemacht.

Volker, ein gutaussehender Riese von einem Kerl, stabil und warm, idealer Kontrapunkt zu Alexanders schlacksiger Intensität. Immer unangestrengt elegant gekleidet, was schon an sich eine Sensation war in unserer höchst unkleidsamen DDR. 

Er war unser Ruhepunkt.

"Ich habe Theater eigentlich gemacht, weil ich gerne Theater gemacht habe." V.P.

1986, Stella, immer weint eine von uns Frauen, Volker beruhigt, Alex verrät uns nicht, dass wir das Satyrspiel zu Medea sind, das Lachen des Premierenpublikums ist ein Schock. Aber unsere Kostüme, Kleider überlegt mit Gaze, den Schatten der Vergänglichkeit, unsere Gesichter ins Extrem geschminkt, tragen uns durch die Verwirrung.

1995, die Dreigroschenoper, Volker muß betonieren, Alex, irritiert von der Unterhaltsamkeit des Materials, kämpft dagegen an. 120 Vorstellungen machten Mühe.

Ich beginne, mich als Regisseur auszuprobieren. In den Kammerspielen des DT, mein erster Shakespeare, die Zähmung der Widerspenstigen: Volker entwirft die Kostüme. Was waren die bunt und wild und eigenartig. Inge Keller, als Matrone trug einen Hut mit Ente, den habe ich besonders geliebt. Die klassische Gassenbühne, ihre Zentralperspektive ins Extrem getrieben,  erdachte Phillip Stölzl, einer seiner Studenten.

Er hat Türen geöffnet für Begabungen, ihnen Möglichkeiten eröffnet, uneigensüchtig.

Zu Premieren verschenkte er seine Kostümentwürfe, zauberhafte Vorahnungen unserer Rollen.

Für ein Lina Werthmüller Musical in Bremen baute er mir einen italienischen Eissalon in hellblau, rosa und creme, die Schwangerschaft der zentralen Figur verbildlicht durch ihren wachsenden Bauch mittels einer im Sofa versteckten Gasflasche.

Mein Vater in seiner letzten Rolle am Theater 89, Ein Kind unserer Zeit von Horvath, Volkers Plakat trifft es auf den Punkt, ein Mann verstirbt ohne Widerwehr auf eine Bank im Schnee.

Die Kinder-Tier-Gedichte meines Vater illustriert von Volker - er wußte wie Kinder schauen, ohne sie zu verharmlosen.

Dann haben wir uns eine Weile nicht gesehen, wie das so passiert am Theater.

Jahre später in einer kleinen Galerie in der Chausseestrasse, ich tippe ihm auf die Schulter, er dreht sich zu mir um, sieht mich an und sagt: Ich freue mich, dich zu sehen. Ein Glücksmoment. Ich erwerbe einen wunderbaren Holzschnitt von Beckett, so filigran, dynamisch. Er begleitet mich, neben meinem Schreibtisch, täglich.

So tut es auch sein Mann in Rot und eben seine Neujahrskarten.

Wenn die die sterben, die nicht sterben sollten, ist es besonders schlimm. Und viele Arschlöcher leben so sehr lang. 

Ein Künstler und ein Gentleman, wie oft gibt es das? Zu selten.


IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN! 

Corona 2020 und dann ist auch noch Volker ist gestorben, kurz nach einer letzten Premiere mit Sascha Stillmark in Rudolstadt - er hatte ein gutes Leben, glaube ich.

Donnerstag, 8. Oktober 2020

DAS C-WORT XXVII - Ich bin überfordert, wer nicht.

Ganz Berlin ist ein Corona-Hotspot, die BVG streikt, die Liebigstrasse soll geräumt werden (Link zum Manifest der Besetzer weiter unten.), der infizierte panische Noch-Präsident inszeniert sich als wiederauferstandener Messias, in Peru liegen Kranke in Turnhallen, Brasilien brennt, Berg Karabach auch, Belarus und Syrien und Moira und und und...

Ich war im Theater.

Im Deutschen, bei Polleschs "Melissa kriegt alles". Es beginnt mit der Videoeinspielung eines sich füllenden Zuschauerraums und den Reaktionen des Publikums auf das Bühnengeschehen aus dem ursprünglichen "The Producers"-Film von Mel Brooks. 

Wenn ihr diesen Film irgendwo sehen könnt, tut es, Gene Wilder und Zero Mostel, besser geht es nicht. Zero Mostel ist ein jüdischer Komiker alter Schule und Gene Wilder hieß eigentlich Joel Silberman, zusammen schenken sie uns die ganz große Kunst des aus Verzweiflung geborenem absurden Theaters. Die Neuverfilmung ist leider flach. (Mehr Informationen zu Zero Mostel weiter unten.)

"Melissa kriegt alles". Die obligate, regelmäßig dazugehörende, übliche, unvermeidliche Brechtgardine, Kathrin Angerer spricht den ersten Satz: Ein Brief! Melissa kriegt alles? Damit ist Melissa abgearbeitet. 

Worum geht es? Um den Draufblick, den Fremdblick auf sich selbst, auf die Bühne und uns selbst, um episches Theater und die Dialektik, um Brechts "Die Mutter" und die zum modischen Zitat verkommene russische Revolution, um Mütter als Kämpfer und Mütter als männliches Wärmebild, um die Intendantin Helene Weigel, wie immer unterschätzt, um einen Bankraub ohne Bank, eine Pizzeria ohne Pizza, um die tödlichen Kämpfe des Circus Maximus und unser ungefährlicheres Guckkastentheater, dass uns aber auch vom endlosen Zwang des im Kreisen stattfindenden sich ewig wiederholenden Tötens befreit hat, um Trance als Reaktion auf unvereinbare Wahrheiten, Fake News, um die Macht des Autoren über die Spielweise, den "Ton" des Spielers, wobei ich vermute, dass sich Pollesch hier der implizierten Ironie bewusst ist. Wie immer bei Pollesch renne ich seinen Gedankensprüngen hinterher, obwohl ich diesesmal einige Wiederholungen gut hätte missen können. 

Aber dann für Momente ein wunderschöner Gedanke beim Sinnieren über neues und altes Theater: der Faustkeil, uralt und uns doch noch immer von nöten. Nicht immer "ist alles Neue, besser als alles Alte", das Neue bedarf des Alten.

Ich wünschte Frau Angerers Stimme würde mit ihr altern, denn dem letzten Text über die Verzweiflung darüber, das man seinen Kuchen nicht haben und essen kann, dass immer ein Entweder / Oder gefordert wird, wo man doch beides ersehnt, hätte einer erwachsenen Stimme bedurft. 

Komisch, dass selbst Pollesch manchmal bei Frauenfiguren ins Klischee verffällt. Allerdings fehlte heute die zweite weibliche Darstellerin, Katrin Wichmann, vielleicht wäre sie ein der Kontrapunkt gewesen. 

Der Applaus war schön. Alle waren so froh mal wieder im Theater zu sein. Die auf der Bühne und wir unten.

http://liebig34.blogsport.de/ 

Zero Mostel - Wiki schreibt: Während der McCarthy-Ära wurde er 1955 vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe vorgeladen. Mostel weigerte sich vor dem Ausschuss sowohl sich selbst zu belasten wie auch andere zu denunzieren und berief sich dabei auf den 5. Zusatzartikel der Bill of Rights. Er wurde daraufhin auf die Schwarze Liste gesetzt und auch mit einem Berufsverbot belegt. Siehe auch "Der Strohmann" von Woody Allen

 

Sonntag, 13. September 2020

Kulturwochenende in Berlin am Ende des Sommers

1
Joachim Meyerhoff liest aus seinem Buch "Hamster im hinteren Stromgebiet".

"ZEIT IST HIRN"

Wir sind sehr viele an diesem Spätsommernachmittag im Freilichtkino Friedrichshain bei einer Veranstaltung von Radio 1. Ganz ungewohnt, solche Menschenmassen. Maske tragen bis zum nummerierten Platz, der Abstand wird eingehalten, die Stimmung ist lässig. Es ist angenehm warm, aber während der anderthalbstündigen Lesung fallen Blätter auf mich. Noch ist Sommer. 

Meyerhoff hat mit knapp über 50 einen Schlaganfall erlitten. Schlagartig hat ihn etwas angefallen. Die Bühne ist sehr weit weg, ein winziger Mann sitzt an einem Tisch und liest seinen Text in ein Mikrophon. Er hält mein Interesse, ich kichere, lache sogar. Das könnte auch mir passieren, jetzt oder morgen. Schwingt da Angst in meinem Lachen? Er ist ein ok Schreiber, aber ein großartig genauer Erinnerer. 

Was seine Kinder, die er ganz offensichtlich sehr liebt, über seine Beschreibungen denken, würde mich interessieren. Jedenfalls bin ich irgendwie froh, dass mein Vater seine Eindrücke meiner Teenagerzeit nicht veröffentlicht hat.

2
RomCom nennen es die Amis, Romantische Komödie, Kiss Me Kosher von Shirel Peleg. Die Produktion entstand an 27 Drehtagen in vier Sprachen – hauptsächlich in Englisch sowie teilweise in Deutsch, Hebräisch und Arabisch - in und um Tel Aviv und Jerusalem.

Die Synchronisation ist die böseste Krux des Films. Eigentlich reden die Figuren in Englisch, Hebräisch und Deutsch und Arabisch miteinander, eigentlich haben sie heftige Akzente, verstehen sich nicht oder nur halb, die deutsche Synchronisation läßt nichts davon erahnen. Die Großmutter zum Beispiel, Deutsch geboren, mit vier Jahren von ihren Eltern versteckt, die im KZ umkamen, und von einer Deutschen gerettet, nach dem Krieg vermutlich nach Israel geflohen und sie raucht Kette - ihre deutsche Stimme spricht ohne Spuren von Jiddisch, ohne Gefühle für die Sprache mit der sie aufwuchs und die sie hassen lernte, ohne die Folgen, die Kettenrauchen auf die Stimmbänder hat. Als wenn man einen Film über den Turmbau zu Babylon in einer allen verständlichen Sprache drehen würde. Faul und unachtsam. Schade.

Dass der Film trotzdem halbwegs funktioniert ist ein Wunder. Moran Rosenblatt & Luise Wolfram spielen das zentrale Liebespaar. Luise Wolfram sieht aus wie die Wiederkunft aller herrlichen Renaissanceportraits, ihre Schönheit unirdisch, ihr Spiel ganz geerdet. Moran Rosenblatt verschenkt ihren Charme freigiebig. 

 

 

Schön, dass das Nicht-Problem der Geschichte die lesbische Liebe ist. Es gibt genug andere Konflikte, den Holocaust, den arabisch-israelischen Dauerkrieg, Palästina, unterschiedliche Erwartungen an eine Beziehung und ehemalige Liebhaberinnen. Ein Film, der der deutschen Falle fast entgeht, er wird fast nie bedeutungsschwanger, immer kurz vorher wird geschnitten oder ein Witz gemacht.

3
Galerie-Wochende in Berlins Mitte - Andreas Greiner - Olafur Eliasson - Andreas Gursky - Robert Capa 1945.

Bei Capa habe ich geheult. 1945, das erste Rosh-ha-Shana nach der Verwüstung in einer kleinen Berliner Synagoge, die noch steht, die Betenden sind amerikanische Soldaten und Überlebende. So viel Trauer in den Augen und Körpern. 

Greiner sollte man sich unbedingt ansehen. Hatte den Namen noch nicht gehört. Er photographiert Bäume, den Wald. Den sterbenden Wald. Ohne Sentimentalität. Seine Bilder sind so bearbeitet und verpixelt, dass sie wie 3D Ölgemälde aussehen. Eine künstliche Intelligenz hat aus 10 000 seiner Harz-Bilder ein Video erschaffen, der Soundtrack ist Mendelsohn-Bartoldys Chorwerk "Abschied vom Walde" in extremer Verlangsamung. Kiefern. Grüne Kiefern. Tote Kiefern. 

Eliiasson - ich habe schon bessere Arbeiten von ihm gesehen, aber immer wieder beeindruckt mich die Verbindung von Technik, Licht und körperlicher Erfahrung, die er ermöglicht.

Gursky - ein Bauhausgebäude in weiß und rot, vier Kanzler von hinten und eine Madonna mit Kind.

Freitag, 14. Februar 2020

Im Rausch

Der Nibelungen Wut - Furor Teutonicus

Etwas Neues. Bisher eine Menge Strichfassungen, einige Adaptionen, ein Stück nach Bibeltexten und nun unser erstes ganz und gar eigenes. 
Was für ein Abenteuer.
Ohne Grit wäre das alles gar nicht möglich.
Und - die Edda, das Nibelungenlied, ein Meter Sekundärliteratur, alle Filme, die ich je gesehen, Bücher, die ich gelesen, Musik, die ich gehört habe, der gesamte Wildwuchs im Hirn, Gespräche, Nachrichten, Zufälligkeiten - alles fließt ein, fliegt raus, wird integriert.
Ich danke meinem Vater, der mir während gemeinsamer Frühstücke und Abendessen mit Duden und Meyers Lexikon, die Liebe zur deutschen Sprache eingefüttert hat. Meiner Mutter weil sie mich alles durcheinander lesen ließ, und meine faule Neigung zum Kitsch gebändigt hat. Meinen Freunden, weil sie mich herausgeforden, weiter zu denken, als ich es allein könnte oder vielleicht wollte. 

Was für ein wahnwitziges Abenteuer.
Langsam beginnen die Figuren ihre persönliche Sprache zu sprechen, widersprüchliche Meinungen zu haben, ihre eigenen Witze zu machen.

Die Nibelungen - Kriemhild, Brunhild und Hagen sitzen, verbannt in die untere Hölle, bei Hel, der Jenseitsgöttin und giften sich seit hunderten von Jahren an. Treue, Verrat, Rache, Mord, Hort, Blut, Gut, Gold - ein endloser mißtönender Gesang - eine deutsche Horrorstory - ein Mord hinterrücks wird zur Dolchstoßlegende und ein blutiges Massenschlachten zum Symbol der Nibelungentreue. Im Zentrum, wenn auch nicht anwesend, der Held - SIEGFRIED. 
Das soll ein Held sein?
Aber auch das Jenseits braucht Digitalisierung der Archivbestände, eine junge Frau wird angeheuert. Sie sieht Möglichkeiten der Vermarktung und mit dem Hort als Anschubfinanzierung wäre Einiges möglich. Wird Hagen ihr die Lage des Verstecks verraten?


Politische Bewegungen verschiedenster Art haben sich diese Geschichte unter den Nagel gerissen, für ihre Zwecke gebraucht, mißbraucht. Die Blut & Boden Rethorik der Neuen Rechten und die unserer "gemäßigten" Faschisten mit ihrer Beschwörung der tausendjährigen europäischen Kulturgeschichte bedienen sich hier, wie bei der heißen Schlacht am kalten Buffet.
Mein momentaner Browserverlauf ist ein Mix aus deutscher Geschichte, Mittelalter, Mythologie und jeder Menge rechter Propagandaseiten. 

Samstag, 25. Januar 2020

4.48 Psychose

At 4:48, my happy hour
When clarity visits
Warm darkness
Which soaks my eyes


Ulrich Rasche, 4.48 Psychose, Deutsches Theater.
Drei Stunden ohne Pause. 
Ich bin weg.
Mein rechtes Ohr tut mir weh von der Musik. 
Mein Herz tut mir auch weh.

Was für ein wunderbarer Text.
Ich mag nicht über den Abend sprechen.


Ich hatte Glück, sie 1997 ganz kurz, anläßlich einer Lesung ihres Stückes "Phädra" in der Baracke des Deutschen Theaters, kennenzulernen. Eine zarte Version von Lady Diana, die unbedingt mit dem Rauchen aufhören wollte und mit leiser Stimme das feinste britische Englisch sprach. 
Beim Lesen von "Blasted", an der Stelle als als der Soldat das Zimmer betritt,  hatte ich damals vor Schreck das Buch fallen gelassen. Krieg bei mir, bei uns, hier, jetzt.
Und ich erinnere mich, wie ein Freund "Cleansed" ("Gesäubert"), das gerade herausgekommen war, mitbrachte, wie wir es gemeinsam lasen und bis fünf Uhr früh heiß und beseelt darüber stritten.
Wie sehr bedauerlich für mich, dass ich sicher bin, ihren Texten nicht gerecht werden zu können. Mir fehlen die Bilder, derer sie bedürfen.
 
Was für ein wunderbarer Text.
Ich mag nicht über den Abend sprechen.

Wiki sagt: Der Ausdruck Demut kommt von althochdeutsch diomuoti 'dienstwillig', also eigentlich 'Gesinnung eines Dienenden'. 

Ein ganz und gar konservativer Gedanke: wäre gelegentlich in unserem Beruf, dem des Theater'machers', nicht etwas wie Demut angebracht gegenüber den Ideen, Gedanken, Absichten des Autoren? Ich meine nicht Unterwürfigkeit, aber Anerkennung von großem Talent und Interesse an dessen Absichten? Manche Regisseure, wie z.B. Castorf oder Milo Rau, schreiben ihre eigenen Stücke, da erübrigt sich diese Frage, aber für uns andere ist sie doch möglicherweise interessant. Wie verfahren wir mit Texten anderer? Eigenwillig und liebevoll oder...?
Und noch ein erschreckend altmodischer Gedanke: Ist der Zuschauer unser Freund? Mögen wir ihn? Verachten wir ihn? Wollen wir ihn verführen oder terrorisieren? Ihn interessieren oder belehren?
Als Jan Fabre 24 Stunden "Mount Olympus" präsentierte, erlaubte er mir großzügig ein- und auszusteigen. 
(Immer noch mein größtes Theatererlebnis der letzten Jahre.)
Heute abend: Drei Stunden ohne Pause. 
Ich bin vorher weg.
Mein rechtes Ohr tut mir weh von der Musik. 
Mein Herz tut mir auch weh.

Was für ein wunderbarer Text.
Ich mag nicht über den Abend sprechen.   
Tindersticks 4.48 Psychosis
https://www.youtube.com/watch?v=EenINe14Cp4

But you have friends
What do you offer your friends
To make them so supportive?
What do you offer?

100, 91, 84, 81, 72, 69, 58
44, 37, 38, 42, 21, 28, 12, 7

And hatch opens, stark light
The television talks full of eyes
The spirits of sight
And now I am so afraid

I'm seeing things, I'm hearing things
I don't know who I am
Tongue out, thought stalled
The piecemeal crumple of my mind

Where do I start? Where do I stop?
How do I start? How do I stop?
How do I stop? How do I stop?

At 4:48 when sanity visits
For one hour and twelve minutes
I am in my right mind
When it has passed I shall be gone again

Remember the light
And believe the light
Nothing matters more

Hatch opens, stark light
A table, two chairs and no window
Here am I and there is my body
Dancing on glass

In accident time
Where there are no accidents
You have no choice
The choice comes after

Cut out my tongue
Tear out my hair
Cut off my limbs
But leave my love

I would rather have lost my legs
Pulled out my teeth
Gouged down my eyes
Than lost my love

At 4:48 I shall sleep
What do you offer?

Hatch opens, stark light
And nothing, nothing
See nothing

Still black water as deep as forever
As cold as the sky, as still as my heart
When your voice is gone
I shall freeze in hell

At 4:48, my happy hour
When clarity visits
Warm darkness
Which soaks my eyes

Freitag, 3. Januar 2020

GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG - Co-Regie Jürgen Kruse

Zwei Stunden und eine halbe war viel Dunkel und trotzdem unentwegt was zu gucken. Ich habe nicht geschlafen, wurde nicht müde und bin doch irgendwie enttäuscht.

Widersprüchliches wirbelt in meinem Kopf.

Einerseits die hohe Sprachkunst einiger Schauspieler, andererseits ihr Abkippen in Maniriertheit.
Meine Lust an ihrer Handwerklichkeit und Distanz durch ihr stets sichtbare, hörbare Handwerk.
Gegen den Sinn-Betonen bringt Klarheit und kann mich extrem nerven.
Horvath klingt, vibriert und Horvath wird zerhäckselt und zersägt.
Horvaths herrliche Kunstsprache wird nochmals verkunstet. 
Kruse traut ihm nicht, obwohl er ihn liebt. 
Ein wenig Demut wäre angebracht gewesen.

Herzzerreißende Bilder zerfasern plötzlich, manchmal kommt das Spiel fast gänzlich zum Stillstand, was von wachmachender Wirkung sein kann, weil ich dann begreife, wie dünn der Theaterboden ist, aber nach einer Weile ist es einfach langweilig.

Das Bühnenbild ist ein Imaginarium, gefüllt mit Engeln, Litfaßsäulen, Tineff und Möbeln, ein Augenlabyrinth. Aber es wird mir kein Moment gegönnt, sie wirklich anzuschauen. Ist das gut? Weil das Mysterium bewahrt wird? Oder ist es nur Geheimniskrämerei und ungenaue Beleuchtung?

Die Kostüme sind wunderschön. Zu schön, bedenkend, dass hier Armut verhandelt wird? 

Linda Pöppel, die Hauptfigur reißt sich das Herz aus dem schmalen Leib und bringt mich doch nicht dazu, um sie zu weinen, weil sie so viel besser kann.

Manuel Harder, wie immer bühnenfüllend, aber ohne echtes Risiko, flüchtet ins Abseits und in eine Lautstärke knapp über der Hörbarkeit. Leerlaufende grandiose Nervosität.

Das Stück, wer Lukas Kristl ist, der Mitautor, den das Programmheft benennt, weiß ich nicht, das Stück von Ödön von Horvath, von dem Mann, der in Paris während eines Sturms von einem Baum erschlagen wurde, ist ganz und gar wahrhaftig und traurig und wunderbar.

Ich liebe diesen Dichter.
"Zur Schönen Aussicht", "Casimir und Caroline", "Don Juan kommt aus dem Krieg", "Geschichten aus dem Wienerwald", " Ein Kind unserer Zeit".

"Zur Schönen Aussicht" - vor Jahren in Bremen ohne Vorwissen gesehen und ich war tief bestürzt.
"Casimir und Caroline" von Marthaler inszeniert in Hamburg, mein Herz hat gebebt.
"Don Juan kommt aus dem Krieg" mit Michael Gruber am DT gearbeitet, eine absurde Probenzeit, aber ein feiner Abend.
"Geschichten aus dem Wienerwald" von Maximilian Schell im Kino gesehen, ich hatte üble Zahnschmerzen und habe sie vergessen.
"Ein Kind unserer Zeit" am Theater 89, die letzte Rolle meines Vaters und das erste Mal, dass ich in einer seiner Vorstellungen geweint habe. 
Ein alter Mann, ohne die Fähigkeit zur Gestik, um sein Leben betrogen, stirbt im Schnee auf einer Parkbank. 


Am Ende von "Glaube, Liebe, Hoffnung" stirbt eine junge Frau an Hunger und keiner nimmt davon Notiz.

Das Plakat zur Inszenierung des Theaters 89 von Volker Pfüller

Samstag, 21. Dezember 2019

ABSCHIEDSDINNER, eine französische Komödie für drei Schauspieler*innen

Plötzlich ist man um die Vierzig. 

Das Leben ist gut, aber nicht wirklich gut.
Die Ehe läuft, die Kinder wachsen, der Job zahlt.
Er zahlt sogar sehr gut, zu gut.

Aber es gab einmal wildere Träume und höhere Ziele.
Es gab Kühnheit und Übermut.

Jetzt herrscht unbestimmte Unzufriedenheit.
Der Ausweg?


DAS ABSCHIEDSDINNER.
 

Was ist das?
Freunde, die ausgedient haben, werden elegant abgestoßen.
Damit das Leben wieder aufregender, stromlinienförmiger, spannender wird, 

werden nervende Freunde eingeladen, umsorgt, verwöhnt, umschmeichelt und anschließend kalt aussortiert.
Gewachsene, gelebte, nachhaltige menschliche Beziehungen werden als Belastung, als Hindernis, als Spaßbremse empfunden und verurteilt.  

"Das Prinzip des Abschiedsdinners ist, dass du als einziger weißt, dass es ein Abschiedsdinner ist." 

Wie hält man solche Brutalität im Rahmen der behaupteten Komödie?
Ein Mann hackt sich ein Bein ab, damit er schneller laufen kann.
Dem anderen Mann wird das Herz gebrochen und er besteht auf Wiedergutmachung.
Eine Frau hofft, dass ihr Mann ihr nicht gänzlich verloren gegangen ist.

Es ist alles so sehr traurig und so sehr lächerlich.
Die Gelbwesten kommen nicht vor.
In "Den Tagen der Commune", meiner letzten Arbeit, 
fraß die Revolution ihre Kinder, 
hier wird die versprochene Suppe nie gegessen.
Die Seelen-Kannibalen fressen einander, um zu überleben. 
"Meine" Spieler sind großartige Nahkämpfer. Sie lassen nicht locker. 
Ich auch nicht.

Einander erkennen
Nähe aushalten, heißt ertragen, dass einer weiß, wie du wirklich bist. 
Adam und Eva erkennen ihre Nacktheit.
Woraufhin sie sich Kleidung aus Feigenblättern anfertigen.

Ein tolles Stück.
Ein schweres Stück.
So, wie es sein muß. 


Samstag, 14. Dezember 2019

Warum ich Proben liebe.


Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
b.b.
Der Rest des Liedes würde nicht passen, also habe ich es mir hier passgerecht beschnitten. 
Du liest ein Stück, einmal, zweimal, mehrmals, du informierst Dich, Du denkst nach, hörst die entsprechende Musik, googlest herum, liest, fragst rum, grübelst, phantasierst. 
Du "machst einen Plan". 
Du berätst Dich mit Bühnen- und Kostümbilner*innen, mit Dramaturg*innen, eine Bauprobe folgt, unzählige Kostümskizzen und Links zu interessanten Essays erreichen Dich. 
Der Plan wird klarer. Auf geht's.
Dann trifft Dein Plan auf drei gestresste Schauspieler in zusammengestoppelten Probenkostümen auf einer halbzugemüllten Probebühne. 
Es sind drei, zwei Männer, eine Frau. Ganz verschieden und eine perfekte Mischung. Eigen, eigenartig, fleissig, wagemutig, albern und wild entschlossen, dem Stück auf den Grund zu kommen.
Ups.
Nebenbei spielen sie noch ungefähr zweihunderdreiundsiebzig laufende Vorstellungen. Es ist Dezember und somit der Monat des Weihnachtsmärchens, der extra-angesetzten Kindervorstellungen als Vervollständigung des normalen Theaterwahnsinns.
In diesem Fall stellt sich auch noch, überraschenderweise, heraus, dass der Übersetzer selbstständig großzügig gestrichen, einige Regieanweisungen erfunden und auch noch anderes Eigenes eingefügt hatte. Wir hatten eine Fassung, nicht das Stück. 
Ups.
Mein Plan ist im Eimer. Großartig. Die Proben  können beginnen.
The proof of the pudding is in the eating. Der Pudding erweist seine Qualität beim Essen.

Ich befinde mich nun in einem Liebesverhältnis mit drei Schauspielern, die ich vor drei Wochen noch gar nicht kannte. Einem platonischen. Und einem mit der Souffleuse, die ein seltener Schatz ist.
Was will ich lieber, einen Plan oder das Risiko der Liebe?

Donnerstag, 21. November 2019

DRACHENHERZ IN DER NEUKOELLNER OPER

Gut gemachtes Musical ist toll. 
Und Peter Lund mit seinen Kollaborateuren ist ziemlich einzig und allein auf weiter Flur im Kampf für einen intelligenten, modernen, sozial interessierten Umgang mit diesem Genre. Er macht deutschsprachiges gesungenes und getanztes Theater.
Seit uns 33 so viele begabte Librettisten und Komponisten gen USA verlassen mussten, hat es die "leichte" Muse, die Unterhaltungskunst auf deutschen Bühnen schwer. Wir sehen die Kopien von großen Shows aus anderen Ländern und hin und wieder einen Versuch, selber sowas zu stemmen, aber irgendwie hängt da immer so ein Duft von Harmlosigkeit und Verachtung in der Luft.
Lund bleibt ein kostbares Unikum.
Diesesmal hat er sich zusätzlich zu Wolfgang Böhmer, dem Komponisten, noch Neva Howard als Choreographin und Mathias Noack als Schauspielregisseur dazugeholt. Und, verflixt, die 9 Spieler spielen gut, frech und wild und emotional wagemutig. Klar, dass sie auch singen und tanzen können.
Ulrike Reinhard hat eine karge, nützliche Bühne und coole Kostüme erfunden.
Sehr lose auf der Siegfriedgeschichte des Nibelungenliedes basierend, wird eine rührende und böse Alltagskonfrontation zwischen Jugendlichen in einer Hagenstadt genannten deutschen Klitsche erzählt. Das örtliche Werk ist geschlossen, jetzt steht auf dem Gelände ein Flüchtlingsheim.
Eine Clique von 4 Jungs - Hagen, Gunni, Baktus und Tropi (Trotz Pille), ein tunesisch-deutscher Mitschüler, der Anschluß sucht, zwei Mädchen Brüni und Jenny, Krimi hätte wohl zu blöd geklungen, zwei Neuankömmlinge, Fred (Siegfried), Sohn des Heimleiters und Voda, ein Asylbewerber aus Kamerun mit tiefer Liebe zum deutschen Liedgut.
Die Texte sind knapp und arbeiten schlau mit Klischees und deren Unterlaufung, die Tänze arbeiten klug mit kurzen Zitaten und der enormen Energie der jungen Truppe, die Lieder geben allen Figuren Raum für Vertiefung und Überraschung .
Das Ende ist nicht happy.
Besonders wenn ihr Verwandte zwischen 14 und 20 habt solltet ihr unbedingt hingehen. Die Lieblingsnicht und ihre Freundin waren hellauf begeistert, was bei zwei so coolen Schnecken, nicht so oft vorkommt.

©Nasser Hashemi

Sonntag, 10. November 2019

Pollesch und Hinrichs im Friedrichstadtpalast

WARUM MACHEN LEUTE SELFIES? WEIL SONST KEINER DA IST.

Der Friedrichstadtpalst und Der Neue Friedrichstadt Palast
Clown Ferdinand hat damals im Friedrichstadtpalast im Weihnachtsspektakel gespielt, damals als ich noch Kind war und das Gebäude noch Am Zirkus stand. Wir wohnten in der Reinhardtstrasse. Vorn war die "Große Melodie", in meiner Teenagerzeit jeden Montag Jazz und Rum-Cola. Hinten, am Bühneneingang, gegenüber vom BE, rauchten die Tänzer und Tänzerinnen, die letzteren hatten Beine bis zum Hals und waren unvorstellbar schön.
Als Risse im Gemäuer, typisch für unser sumpfiges Berlin, den Bau befielen, wurde flux ein neues Haus gebaut, direkt an der Friedrichstrasse, genannt "der Kulturpalast von Damaskus", wegen seiner bunten, orientalischen Dekoration. Wir waren mittlerweile umgezogen in die Friedrichstrasse 133, genau gegenüber des neuen Gebäudes. Bombastisch, häßlich, aber er funktionierte - es strömte. "Der Kessel Buntes" wurde dort aufgezeichnet, ich saß im halbrunden Saal, 2500 Menschen schunkelten und ich wurde seekrank.

Die heutigen technischen Möglichkeiten der weltweit größten Bühne sind beneidenswert und  irrwitzig, Wasserbecken, Eisfläche, Flugwerk, Lasershow und und und und. Der Laden läuft und hat sich trotzdem auf dieses Wagnis eingelassen und scheint erstaunt aber froh, ob des Riesenerfolges.

Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt
Um 19.30 Uhr heute Abend betritt diese Bühne vor proppevollem Zuschauersaal ein blonder Mann mit Pumphose, prächtiger Weste und mächtigem Kopfputz. Er beginnt zu sprechen, entledigt sich seiner pompösen Kostümierung, den Rest des 80 Minuten Abends wird er, sehr lang, sehr schmächtig und geradezu absichtsvoll geschlechtslos, in einem goldenen,  glitzernden Ganzkörperkondom verbringen, mit einigen roten Zutaten. Ihn unterstützen dabei Tänzer des Balletts des Friedrichstadtpalastes. Im Spiegel schrieb Wolfgang Hobel sehr schön: " Zwei sich gewöhnlich ignorierende Theaterwelten werden kurzgeschlossen." Und es entsteht Sehnsucht, beidseitig.

Das Schönste
Am Schönste ist es, wenn F.H. mittanzt, immerzu sprechend, tanzt er im Zitat, Perfektion unterlaufend ohne Eitelkeit, denn für mehr als die Andeutung hat er nicht das Talent, aber auch keine Zeit, weil er Fragen hat, die dringend nach Antworten suchen. Deshalb muß er immerfort reden, laufen, mitrennen. 

"Sollten wir Hoffnung haben? Warum wollen wir Hoffnung haben?" 

Die Tänzer
27 Tänzer eines der berühmtesten Varietes der Welt, sie sind in ihrem Genre, die Besten der Besten. Und sie lassen sich, wie ich gehört habe, freiwillig, auf dieses Experiment ein. Nahezu nackt, ungeschützt, stellen sie sich zur Verfügung. Mal chorisch sprechend, mal zuhörend, manchmal tanzend, anders als sonst, in Gruppe aber karger.

Fabian Hinrichs
Manchmal schweigt er auch und eine Showtreppe verändert ihre Wirkung, wenn ein einzelner Mann sie langsam hoch und runter läuft. Dann laufen die Tänzer auf und ab und ihr Gang ist der des trainierten Tänzers, seiner ist ein humpelnder Gang.
Hat der eine Kondition, meist ohne Mikrophon und heute auch noch mit geschientem Bein füllt er den Raum mit seinem Interesse. Wenn das Wort "cool" eine Personifizierung hätte, wäre es F.B., cool, intelligent, albern und sehr, sehr traurig. 

René Pollesch
Überraschend und berührend, das in dieser grandiosen Kulisse mit technischen Tricks vieler Art, Pollesch uns seinen vielleicht persönlichsten Text anbietet. Wo die Fiktion beginnt und die Realität beginnt, bleibt ungewiss und ist auch egal. Vereinzelungszusammenhang, Verwertungslogik. Verwertbarkeit. Einsamkeit in den Variationen, die der Kapitalismus bietet.
"Ich brauche dich mehr, als --- ein Buch."

Das Ende
Vor einem Sternenhimmel dreht sich schwebend der goldene Fabian Hinrichs um seine eigene Achse. Hoffnung ist Show, nötig und bedarf der technischen Unterstützung.