Sonntag, 10. November 2019

Pollesch und Hinrichs im Friedrichstadtpalast

WARUM MACHEN LEUTE SELFIES? WEIL SONST KEINER DA IST.

Der Friedrichstadtpalst und Der Neue Friedrichstadt Palast
Clown Ferdinand hat damals im Friedrichstadtpalast im Weihnachtsspektakel gespielt, damals als ich noch Kind war und das Gebäude noch Am Zirkus stand. Wir wohnten in der Reinhardtstrasse. Vorn war die "Große Melodie", in meiner Teenagerzeit jeden Montag Jazz und Rum-Cola. Hinten, am Bühneneingang, gegenüber vom BE, rauchten die Tänzer und Tänzerinnen, die letzteren hatten Beine bis zum Hals und waren unvorstellbar schön.
Als Risse im Gemäuer, typisch für unser sumpfiges Berlin, den Bau befielen, wurde flux ein neues Haus gebaut, direkt an der Friedrichstrasse, genannt "der Kulturpalast von Damaskus", wegen seiner bunten, orientalischen Dekoration. Wir waren mittlerweile umgezogen in die Friedrichstrasse 133, genau gegenüber des neuen Gebäudes. Bombastisch, häßlich, aber er funktionierte - es strömte. "Der Kessel Buntes" wurde dort aufgezeichnet, ich saß im halbrunden Saal, 2500 Menschen schunkelten und ich wurde seekrank.

Die heutigen technischen Möglichkeiten der weltweit größten Bühne sind beneidenswert und  irrwitzig, Wasserbecken, Eisfläche, Flugwerk, Lasershow und und und und. Der Laden läuft und hat sich trotzdem auf dieses Wagnis eingelassen und scheint erstaunt aber froh, ob des Riesenerfolges.

Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt
Um 19.30 Uhr heute Abend betritt diese Bühne vor proppevollem Zuschauersaal ein blonder Mann mit Pumphose, prächtiger Weste und mächtigem Kopfputz. Er beginnt zu sprechen, entledigt sich seiner pompösen Kostümierung, den Rest des 80 Minuten Abends wird er, sehr lang, sehr schmächtig und geradezu absichtsvoll geschlechtslos, in einem goldenen,  glitzernden Ganzkörperkondom verbringen, mit einigen roten Zutaten. Ihn unterstützen dabei Tänzer des Balletts des Friedrichstadtpalastes. Im Spiegel schrieb Wolfgang Hobel sehr schön: " Zwei sich gewöhnlich ignorierende Theaterwelten werden kurzgeschlossen." Und es entsteht Sehnsucht, beidseitig.

Das Schönste
Am Schönste ist es, wenn F.H. mittanzt, immerzu sprechend, tanzt er im Zitat, Perfektion unterlaufend ohne Eitelkeit, denn für mehr als die Andeutung hat er nicht das Talent, aber auch keine Zeit, weil er Fragen hat, die dringend nach Antworten suchen. Deshalb muß er immerfort reden, laufen, mitrennen. 

"Sollten wir Hoffnung haben? Warum wollen wir Hoffnung haben?" 

Die Tänzer
27 Tänzer eines der berühmtesten Varietes der Welt, sie sind in ihrem Genre, die Besten der Besten. Und sie lassen sich, wie ich gehört habe, freiwillig, auf dieses Experiment ein. Nahezu nackt, ungeschützt, stellen sie sich zur Verfügung. Mal chorisch sprechend, mal zuhörend, manchmal tanzend, anders als sonst, in Gruppe aber karger.

Fabian Hinrichs
Manchmal schweigt er auch und eine Showtreppe verändert ihre Wirkung, wenn ein einzelner Mann sie langsam hoch und runter läuft. Dann laufen die Tänzer auf und ab und ihr Gang ist der des trainierten Tänzers, seiner ist ein humpelnder Gang.
Hat der eine Kondition, meist ohne Mikrophon und heute auch noch mit geschientem Bein füllt er den Raum mit seinem Interesse. Wenn das Wort "cool" eine Personifizierung hätte, wäre es F.B., cool, intelligent, albern und sehr, sehr traurig. 

René Pollesch
Überraschend und berührend, das in dieser grandiosen Kulisse mit technischen Tricks vieler Art, Pollesch uns seinen vielleicht persönlichsten Text anbietet. Wo die Fiktion beginnt und die Realität beginnt, bleibt ungewiss und ist auch egal. Vereinzelungszusammenhang, Verwertungslogik. Verwertbarkeit. Einsamkeit in den Variationen, die der Kapitalismus bietet.
"Ich brauche dich mehr, als --- ein Buch."

Das Ende
Vor einem Sternenhimmel dreht sich schwebend der goldene Fabian Hinrichs um seine eigene Achse. Hoffnung ist Show, nötig und bedarf der technischen Unterstützung.

2 Kommentare:

  1. Für mich der erstaunlichste und eindrücklichste Theaterabend der letzten Monate. Wie Schmerz und Show hier absolut sinnreich ineinander verwoben sind, entzückt und tut weh. Zum Heulen. Grandios.

    AntwortenLöschen
  2. Gegenmeinung: https://www.zeit.de/2019/48/rene-pollesch-friedrichstadt-palast-kapitalismuskritik

    AntwortenLöschen