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Sonntag, 29. Mai 2016

Eine Störung im Blick

Es gibt Tage, da liegt ein Schatten über Dir, obwohl, das vielleicht weit aus dramatischer klingt, als ich es meine. 
Also: ich stehe auf und watschele durch die üblichen morgendlichen Verrichtungen - Kaffee kochen, duschen, Kaffee trinken, Zähne putzen, Mails gucken, aber irgendetwas ist verquer, uneben, aus der Mitte. 

An jedem gewöhnlichen Morgen bin ich grundlos heiter. Ein sonniges Gemüt, so oberflächlich das auch klingen mag. Meine Grundhaltung der Welt gegenüber ist, ob in Folge genetischer Konstellationen oder durch günstige Umweltbedingungen, hoffnungsvoll. Ich vergesse Kränkungen, Niederlagen und andere Nackenschläge schnell und erwarte deshalb meist eine günstige Einstellung der Welt mir gegenüber, glückliche Auswirkung meines das-Glas-ist-halb-voll-Blickes und der Gnade meines schlechten Gedächtnisses. Wenn ich es positiv formulieren will, habe ich ein leichtes Gemüt. Wohl ein Geschenk meiner Mutter, die unter weit schwierigeren Bedingungen, ähnlich empfand.

Der Wellenreiter

Der letzte Wellenreiter
Einer schöneren Zeit
Mir ward warm wo es schneit
Die mich lieben
Sind mir lang geblieben
Und auch so kleine Sorgen
Sind immer wieder – morgen
Die Kriege die die Welt zerfraßen
Haben mich und Meine in Ruh gelassen
Das Essen schön
Die Betten warm
Die Kinder kamen nicht zu Harm
Die Kindheit von Vater und Mutter umgeben
Mein Mann der liebt mich sein ganzes Leben
Und eigentlich froh und heiter
Ich bin der Wellenreiter
Zwischen Himmel und Hai  
Kam ich halb sorglos
Am Schlimmsten vorbei.

barbara brecht-schall

Aber dann dieser Morgen, der aus der Gewöhnung fällt. Es hackt. Es läuft nicht rund. Es ziept und zerrt. Selbst gutes Wetter ist das falsche, ein gestern noch schönes Kleid sitzt komisch, die vielleicht völlig harmlose Bemerkung eines Kollegen klingt wie eine Beleidigung, die Probe schleppt, das Talent ist nicht zu Hause. Alles, alles ist nicht richtig richtig. Nicht schlimm, nicht katastrophal, nur so ningelig doof.
Schlafen gehen und wieder aufstehen, jetzt geht es wieder, nur so ein komischer Geschmack bleibt zurück, als hätte ich in einen faulen Apfel gebissen.
 
Das Wort Kaleidoskop stammt aus dem Griechischen und bedeutet: schöne Formen sehen. Konkret lauten die drei Wörter: καλός (kalós) „schön“, εἴδος (eidos) „Form, Gestalt“ und σκοπεῖν (skopéin) „schauen, sehen, betrachten“.

Da 'aschimos' im Griechischen 'häßlich' heißt, wäre ein Aschimoskop, wohl das, was sich mir manchmal überraschend vor die Linse legt.

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Eine Empfehlung zum Schluß: bis zum 10. Juli kann man im Hamburger Bahnhof noch "Manifesto" von Julian Rosefeldt ansehen & anhören. 13 parallel laufende Videos mit Cate Blanchett in unterschiedlichen Rollen und Situationen Kunstmanifeste sprechend, darunter Texte von Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara, Kazimir Malevich, André Breton, Claes Oldenburg, Yvonne Reiner, Sturtevant, Adrian Piper, Sol LeWitt oder Jim Jarmusch.

 © VG Bild-Kunst, Bonn 2016


Donnerstag, 21. April 2016

Ausstellungen in Berlin

Auftanktag

FORTY OUT OF ONE MILLION

THE HUMAN COST OF THE SYRIAN WAR
EIN FOTOPROJEKT VON KAIBWIEDENHÖFER
im Auswärtigen Amt, Werderscher Markt 1, 10117 Berlin

Sharif (13) & Mana (10)

Duwa'a & Shahd (2 & 5 Jahre alt)

Zu den Fotografien gibt es kurze nüchterne Beschreibungen, wie diese Menschen zu ihren Verletzungen kamen, wie viele Familienmitglieder sie bisher verloren haben und wie  und wo ihnen geholfen wurde, oder eben auch nicht oder zu spät oder nicht ausreichend. Nicht mehr als das. Erschütternd. Undiskutierbar. Wundervoll.
Ich kann gar nicht sagen, wie schnell ich versuchen würde, mitsamt meinen Lieben, einem solchen schrecklichen, totbringenden Ort zu entfliehen. Auf jede denkbare Art, unter Einsatz aller findbaren Mittel.
Am Eingang kann man eine Autogrammkarte von Herrn Steinmeyer mit eigenhändiger Unterschrift kostenlos mitnehmen. Wurde mir angeboten, ich habe höflich abgelehnt, der Einlaßkontrolleur hat sehr gekichert.

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MEHRERE AUSSTELLUNGEN
in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstrasse 124 - 128, 10969 Berlin

VISIONÄRE DER MODERNE
Paul Scheerbart (1863- †1915)
Bruno Taut (1880-1933 Arbeitsverbot - †1938 in Istambul)
Paul Goesch (1885- †1940 in der NS-Tötungsanstalt Brandenburg/Havel)

Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen Architekturvisionen und Zeichnungen dreier Visionäre des frühen 20. Jahrhunderts. Der Schriftsteller, Dichter und Erfinder Paul Scheerbart (1863-1915) konnte um 1914 den jungen Architekten Bruno Taut (1880-1938) für seine Ideen, mit farbigem Glas zu bauen, begeistern. Paul Goesch (1885-1940), ausgebildeter Architekt, schuf hunderte von phantastischen Zeichnungen. Er zählte zu jenem berühmten Forum für utopisches Bauen, dem 1919 von Taut ins Leben gerufenen Briefzirkel „Die Gläserne Kette“. 
Zitat von der Website der Gallerie

Der eine zeichnet phantastische Wunderwesen, wie alte Zeichnungen nach der Natur, zwischen Surrealismus und Hyperrealismus, einer entwirft phantastische Bauten aus Glas, Stahl und Beton mit Zitaten historischer Formen, der dritte malt wie ein hochbegabtes katholisches Kind.


KUNST IN BERLIN 1880-1980
Sammlungspräsentation

Jeanne Mammen Rothaarige um 1928
"Eigentlich habe ich mir immer nur gewünscht: nur ein Paar Augen sein, ungesehen durch die Welt gehen, nur die anderen sehen."


Hermann Nonnenmacher
Holzskulptur
Abschied

Im ersten Raum des Museums stellt Erwin Wurm Kunst aus, mit der man rumspielen kann, sehr geeignet für Kinder - Taschen auf den Kopf setzen, sich zu zweit in einen Norwegerpullover zwängen, den Kopf durch Löcher stecken, versuchen auf Tennisbällen zu liegen...

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Und als Bonbon zum Abend im Ministerium für Illustration (mfi Berlin) in der Chausseestrasse 110, 10115 Berlin eine kleine Ausstellung von Volker Pfüller.

VOLKER PFÜLLER - PLAKATE UND LINOLSCHNITTE


Toll, wenn man Menschen, die man mag, aber aus unterschiedlichen Gründen aus den Augen verloren hat, gesund und kräftig wiedersieht. Heute habe ich vier davon getroffen. Ich mag sie noch immer und sie mich auch.


Sonntag, 1. November 2015

Kunst & Kultur am Wochenende


Arbeit, vergnügte, an einem Theater im Brandenburgischen, und in Folge von Spielplaneigenheiten, die Möglichkeit Samstag & Sonntag in Berlin zu verbringen. Auch dann viel zu tun, fast zu viel, aber Freunde & Familie können gesehen und nicht nur telefonisch gehört oder digital erlesen werden, und Berlin mit Freizeit oder in diesem Fall auch ohne, aber mit dringendem Bedürfnis nach "Kultur", oder nennen wir es banaler, Futter und genügend Geld für die Eintrittskarte, ist ein Paradies.

Zwei Wochenenden, drei bürgerliche Amüsierangebote der hohen und einmal Fernsehen der besten Art. Ich habs doch ganz schön gut.

Die Berliner Festspiele präsentieren:

Im Gropiusbau
Von Hockney bis Holbein

Die Sammlung Würth in Berlin

Herr Würth produziert Schrauben, sehr viele Schrauben und er sammelt Kunst.
Wiki schreibt: Die Würth-Gruppe ist eine weltweit operierende, vornehmlich im Großhandel mit Produkten der Befestigungs- und Montagetechnik tätige Unternehmensgruppe. Sie entwickelte sich aus der Adolf Würth GmbH & Co. KG mit Sitz in Künzelsau. 
Künzelsau, Sprechtrennung nach dem s, nicht davor!
Und über die Sammlung Würth finde ich Folgendes: Die Sammlung Würth, angelegt von dem Unternehmer Reinhold Würth, ist eine der größten und bedeutendsten Privatsammlungen von Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts in Deutschland. Sie umfasst über 15.000 Werke, insbesondere der klassischen Moderne, aber auch der Renaissance.
Und er hat gesammelt. Ein Saal voll Max Ernst, mexikanische moderne Malerei gleich nebenan, Installationen, Skulpturen, Madonnen, Pop-Art und Luther und was das Zwanzigste Jahrhundert nur zu bieten hat. Die Kunstgeschichte Europas und der Amerikas auf Speed. Vieles ist toll, manches einfach viel. 
Und als allerletztes eine Madonna mit Kind von Grünewald. Aus Holz, vielleicht gab es eine Plünderung oder ein Feuer, ihr Gesicht ist gespalten, sie ist verletzt. Aber das Kind ist schön und ihr Blick ernst und leicht herausfordernd. Herzzerreißend. 

Im Haus der Berliner Festspiele in der Schaperstrasse
Nederlands Dans Theater
Shoot the Moon

Stop-Motion
Solo Echo
Choreographie von Sol León und Paul Lightfoot und Crystal Pite

Die Körper der Zukunft, die schon jetzt ist. Perfekt. Wunderschön. In Momenten schien es als tanzten die Tänzer im rasend schnellen Vorlauf. Nur selten sah, spürte man noch Unterschiede zwischen den Geschlechtern der Tanzenden, Frauen wie Männer, stark, schnell, geradezu irreal flexibel und in völliger Kontrolle. Allerdings sind die Achseln der Männer unrasiert. Doch bei aller Hochachtung, war es doch als würden einen Teil des Abends kybernetische Androiden tanzen. Kein Sex, kein bisschen Dreck, kein Schweiß, keine Irritation. Nur dann und wann, besonders wenn, so vermute ich, Parvaneh Scharafali tanzte, wurde es weit und wahr. Vermute ich, weil das Licht, mein Sitz im Rang und die Nichtbenennung der Tänzer auf den Photographien keine sicherere Aussage zuläßt.


Shoot the Moon © Rahi Rezvani

Und auf Netflix
Die Brücke – Transit in den Tod
eine mehrteilige dänisch-schwedisch-deutsche Kriminalserie
geschrieben von dem Schweden Hans Rosenfeldt mit Sofia Helin & Kim Bodnia.

Fast alle meine fernsehguckenden Bemühungen um Tatorte oder Polizeirufe verrecken nach circa 30 Minuten in unerträglichen Erstickungsgefühlen durch Sozialgewissensüberbelastung und Ungeduld ob bräsigem Erzähltempo. Depressive Täter treffen auf genauso erschöpfte Kriminalisten, die Welt ist grau und nicht gut. Ach nein, wirklich? Abschalten.
Und was machen die schwedisch-dänischen Krimimacher? Sie erzählen eine spannende Geschichte mit interessanten, eigenartigen, glaubhafte Figuren, denen ich gerne zuschaue, weil ich nicht weiß, wohin sie sich entwickeln werden und es wissen will. Sie schaffen es, dass mir ein verstörendes und krasses Gesellschaftsbild gezeigt wird, aber eben als notwendiger Teil der Handlung, nicht als Überschrift, Kommentar oder wabbeliger Zeigefinger. Die Junkies hier sind spezifische Menschen, nicht Sozialstudien, die Millionäre haben mehr zu bieten, als ihren Reichtum, sie sind unterscheidbar von anderen Reichen. Zwischen den Figuren findet überraschende Interaktion statt. 
Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst hieße es Wunst. Alter Witz, aber wahr nichtsdestotrotz. 
Und da ist Sofia Helin, als Saga Norén, eine autistische Ermittlerin, oder genauer, sie hat, im Film unbenannt, das Asperger Syndrom. Oscar, Lola, Palme - egal, sie sollte alle bekommen. Ganz ohne Druck, ohne Koketterie erlebe ich eine Frau, die Emotionen nicht lesen kann. Sie will und kann nicht. Sie muß allen Regeln folgen, ist brilliant, clever, schön und vollends einsam, ohne es selbst zu wrealisieren. Unglaublich. Und es wird kein Witz daraus gemacht und ist witzig. Und weil sie nicht gesellschaftsüblich fühlt, sieht sie Dinge und benennt sie, die die anderen verdrängen, und das macht sie wiederum zu einer guten Polizistin. Ein Reichtum an Details.

   Sofia Helin as Saga Nor in The Bridge. 
Photograph: BBC/ZDF/Carolina Romare 

Und heute, nicht von den Festspielen, aber im Kino in den Hackeschen Höfen
Macbeth OmU
von Justin Kurzel
mit Michael Fassbender und Marion Cotillard

Doch fürcht’ ich dein Gemüt;
Es ist zu voll von Milch der Menschenliebe.
Lady Macbeth 1.Akt 5.Szene 

Mal gucken!
 

Freitag, 14. August 2015

ImEx in der Alten Nationalgalerie


Ist es nicht großartig, dass Menschen stundenlang anstehen, um Bilder ansehen zu können?
(Ich war um halb Zehn da und war um zehn nach Zehn schon drin, fand ich auch großartig.)
Sie stehen an fürs neue iPhone und für Justin Bieber, aber eben auch für Kunst. Und nicht nur ältere Herrschaften! Warum schaffen das Theater nicht? Jedenfalls hier nur selten. In England kehren die Filmstars zwischendurch immer wieder brav zum Theater zurück und ihre Fans wagen ihretwegen das für sie fremde Abenteuer Theater. Aber wer will schon Till Schweiger als Hamlet sehen? So viele Worte mit der Quieksstimme und scharf denken müsste er auch noch.
 
 Lesser Ury
Im Café - Frau in Rot
1911
Ury soll eines Tages in Liebermanns Atelier gestanden und an einem dessen Bilder herumgekrittelt haben. Später verbreitete er, er habe Liebermanns letztes Bild fertiggestellt: „Det darf er", soll Liebermann darauf geantwortet haben und setzte nach: „Wenn er allerdings behauptet, eines seiner Bilder sei von mir, dann verklag´ ich ihn."
Wiki 

Impressionismus & Expressionismus, Frankreich & Deutschland - die Ausstellung sortiert aber eben gerade nicht nach diesen erwartbaren Prinzipien, sondern nach Themen, Inhalten, Sujets. Die Bilder hängen eng, sehr eng, bedrängen sich fast und nehmen sich doch nicht die Luft. Manche kennt man schon fast so gut wie alte Bekannte, manchen sieht man die Bemühung um Neuartigkeit an, manche übersieht man, manche reißen einem ein Lachen ins Gesicht. 

Karl Schmidt-Rotluff
Bildnis Rosa Schapire
1911

Oder das.


 Ernst Ludwig Kirchner
Potsdamer Platz
1914

Unverschämt. Notwendig. Dringlich. Ob sie sich ins Licht versenkten oder das Innere nach außen zerren wollten, schien mir nicht wichtig, weil sie suchten, nach dem, was nicht greifbar ist, dieser Verbindung zwischen Innen und Außen, der dünnen Schicht Wahrheit zwischen Maske und Chaos, der Wahrheit. Ein großes Wort. "Die Wahrheit liegt zwischendrin", hat Ionesco gesagt. Dieses Zwischendrin, nicht Im, nicht Ex, habe ich heute manchmal erahnt.

Max Slevogt
Selbstbildnis mit Pinsel und Palette
1895

Max Beckmann
Doppelbildnis Max Beckmann und Minna Beckmann Tube
1909


Henri de Toulouse-Lautrec
Clown
1886/87



Edgar Degas
Die Unterhaltung
1884

Cezannes "Junger Mann mit roter Weste" sollte von der Düsseldorfer Kunsthalle angekauft werden. Daraus wurde nichts, weil der Kritiker Eduard von Gebhardt protestierte; ihm gefiel nicht, daß der rechte Arm des jungen Mannes länger geraten war, als die Anatomielehre gestattete. Das Bild wurde aber ausgestellt, und eines Tages trafen sich vor ihm Eduard von Gebhardt und Max Liebermann. Ein Meinungsstreit entbrannte, in dem Liebermann die Komposition und Farbstimmung des Gemäldes lobte. Darauf erwiderte Gebhardt erregt: Und was sagen Sie zu dem unendlich langen Arm?
Der Arm ist so schön, sagte Max Liebermann, der kann gar nicht lang genug sein.
Aus einer Liebermann-Anekdoten-Sammlung

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/imex-in-berlin-zwischen-impressionismus-und-expressionismus-13605463.html

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/impressionismus-expressionismus-in-der-alten-nationalgalerie-a-1034865.html 

http://www.zeit.de/2015/16/impressionismus-paul-durant-ruel-ausstellung-london

Habe mir zum ersten Mal den Entwurf zur Neugestaltung der Museumsinsel angesehen, er stammt von David Chipperfield, dem ich sehr vertraue, denn was er für die Restaurierung des Neuen Museums ersonnen hat, ist mehr als wunderschön. Aber für Alt-Berliner wird es trotzdem sicher der Gewöhnung bedürfen, die grau verramschten Fassaden so umbaut zu sehen, aber da es eine von der Stadt Berlin finanzierte Bauunternehmung ist, haben wir dafür sicher reichlich Zeit.




 Nur das schöne olle Bodemuseum bleibt allein und unverbunden, wie es scheint, da liegt halt die S-Bahn dazwischen.

Sonntag, 9. August 2015

Eine Reise - Tallinn - Alles heiter Doktor Eiter

TALLINN


Tallinn ist die westlichste der drei Hauptstädte, die wir besuchen, auch wenn sie die nördlichste ist. Mittelalterliche Stadtmauer, Gassen, Gassen, Gassen, der Stadtkern ist Weltkulturerbe, und der Tourist sehr willkommen, ein wenig zu sehr, fast. 
Man kann, wenn man Vilnius-Riga-Tallinn hintereinander besucht, beobachten wie hart hier gearbeitet wird und in welchen harten Schritten die Entwicklung verläuft. Vilnius noch in Erwartung der Ankunft der Gäste, Riga zerrissen und hektisch betriebsam, und dann Tallinn, schon fast wie alle mitteleuropäischen größeren Städte, nur hübscher als manche. Das spiegelt sich auch im Durchschnittseinkommen: 669, 751, 1110 Euro brutto je Monat im ersten Quartal 2015.* 
Wir sind mit einem Linienbus bis in die Neubauviertel von Tallinn gefahren, auch die saniert, und von viel Grün umgeben. Man sieht Armut, aber keine Bettler, werden sie, wie in Giulianis New York, aus der Stadt geschafft? 

Alle drei Länder verlieren Einwohner, junge Leute wandern aus, die Geburtenrate ist niedrig, auch wenn ich noch nie so viele Hochzeitspaare wie in diesen 10 Tagen gesehen habe. Zigaretten und Benzin sind billig, aber viele haben mehr als einen Job, um überhaupt irgendwie über die Runden zu kommen. Man sieht wenig Reste der sowjetischen Herrschaft, erstaunlich wenig, die sind wahrscheinlich äußerlich nicht sichtbar.

Aber am letzten Abend: Kaunas in Litauen, eine Strasse, die aussieht wie heruntergekommene Teile der Greifswalder in tiefen Zonenzeiten, nur ist die Straße breiter. Jeden Moment wird ein Vopo auftauchen und nuscheln "ich solle mich ausweisen". (Kurze gefähliche Antwort eines Freundes: "Kann man das jetzt schon selber?") Der blanke Osten, nur die Häuser in den Seitenstraßen sind verfallene russische Holzhäuschen mit Fenstern, wie dem, aus dem in russischen Märchenfilmen die Erzählerin rausguckte. Wir parken auf einem verdreckten Hinterhof, am nächsten Vormittag werden innerhalb von zwei Stunden drei verschieden Männer die Mülltonnen nach Brauchbarem durchsuchen. Das Haus graubeiger Klotz, bröckelnder Putz - erster Stutzer: die Haustür modern mit Hochsicherheitsschloß - Der Hausflur in gelber Pissölfarbe, die Stufen uneben - Stutzer Nummer zwei: die Wohnugstür ebenfalls brandneu und mit zwei Superschlössern - das Apartment dann wunderbar, toll ausgestattet und mit allem Komfort, nur den Rohren und Leitungen sieht man den äußeren Zustand des Hauses an. Und wie überall in allen drei baltischen Staaten, schnelles Wlan inclusive.

Abschiedsbesäufnis in einem Kiosk an der großen Straße, 24 Stunden geöffnet. Wir kaufen eine Flasche Whisky und kriegen sie ohne Verschluß, nur zum Verzehr darf verkauft werden. Ein freundlicher, betrunkener Lette stammelt auf Russischenglisch, dass er nach Kanada auswandern will, weil die Leute da so gute Traditionen haben und freundlich sind. Seine akustische Vorführung des lettischen Umgangstons erschrickt mich. Vielleicht ist es nur der Suff, hoffentlich. Aber ich lese gerade Sofie Oksanas "Stalins Kühe", und sie schreibt über die Zerstörung der sozialen Umgangsformen, der gewöhnlichen Freundlichkeit durch ständige Bespitzelung, korrupte Mangelwirtschaft und Verrohung durch Gewaltgewöhnung. Ist das die eiternde Wunde, die unter all der Veränderung, dem Fortschritt weiter eitert? So viele Jahre Mißbrauch verschwinden nicht einfach, oder?

Meine kulturelle Tallinnausbeute: 


Bilder aus der Ausstellung "Art Rules"
im gotischen Talliner Rathaus


Ein Hornspieler
Paulus Bor
Amersfoort ca 1601 – 1669


Osias Beert the Elder
Stillleben mit Austern, gebratenem Hühnchen, Süßigkeiten und getrockneten Früchten
Antwerpen 1580 - 1624 

 
Schaut wie der Glas malt!


Spanischer Meister
Mann mit einem Teufel an der Kette
16. Jahrhundert

Der Teufel hat Angst.

Katalog der Ausstellung
http://artrules.ee/art/ 


 Einzelfunde

Narr
16. Jahrhundert
Relief in einem Dominikanerkloster


Kirchen-Fußboden

 Engel

Adam & Eva

Noch ein Engel


Türen aus Tallinn (und eine aus Pärnu)








 *

Montag, 27. Juli 2015

Schnipsel aus Amsterdam

Niemand, der nicht schreibt, weiß, wie fein es ist, zu schreiben. Früher habe ich immer bedauert, nicht gut zeichnen zu können, aber nun bin ich überglücklich, daß ich wenigstens schreiben kann. Und wenn ich nicht genug Talent habe, um Zeitungsartikel oder Bücher zu schreiben, gut, dann kann ich es immer noch für mich selbst tun."
Anne Frank Tagebucheintrag, 4. April 1944
 
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Meine Schwester, die Lieblingsnichte und ich fahren sechs Stunden Zug, unsere Sitznachbarn, vier ziemlich nette junge Männer, ein Bankkaufmann, ein Krankenpfleger, keine Ahnung, was die anderen machen, fahren auch fürs Wochenende nach Amsterdam, für "ein bisschen Kultur zwischendurch, und um zu feiern". Ihre Rucksäcke sind fett gefüllt mit Bierdosen, Mixgetränken und Wodka. Bei der Ankunft am Mittag sind sie leicht und leer. Merkwürdiges Detail: mit Hilfe einer Kleinkamera mit Gurt, die sie an der Flasche befestigen, filmen sie ihre Gesichter während sie trinken. Alkoholselfies. Zum Erinnern bei Filmriß? 



Schiefe, noch schiefere, vorgebeugte, abgewinkelte, eingeklemmte, schmale, überbreite, jugendstilige, barocke, mittelalterliche, glasundstahlmoderne Häuser in grün, rot, gelb, beige, blau und jeder anderen denkbaren Farbe säumen die Grachten. Wunderschön. Das Wetter ist fies. Wir laufen trotzdem, stundenlang, gucken, essen, gucken, essen. Sehr gut.
Rembrandthaus, natürlich, und ein toller Vortrag über Pigmente und Farbherstellung von einer Malerin, die ihre Verachtung für Leute, die ihre Farben im Laden fix und fertig kaufen, kaum verbergen kann.

 Rembrandt Harmenszoon van Rijn Selbstporträt Radierung 1630

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Das Anne-Frank-Haus - anderthalb Stunden angestanden, in einer Schlange mit zumeist sehr jungen Menschen von überall her, die trotz stürmischem Wind und Niesel entspannt geduldig ausharren. Der langsame Gang durch die Gedenk-Stätte und obwohl ich schon hier war, erwischt es mich doch wieder. Welche hasserfüllte Vernichtung von Leben und Hoffnungen und Möglichkeiten auf der einen, welche Kraft und Sehnsucht und Schönheit auf der anderen Seite. Die Lieblingsnichte ist sehr still und schreibt, in Englisch, ihren Dank ins Gästebuch, unaufgefordert, wir sind nicht mal in der Nähe.
 

Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Hoffnungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube."
Anne Frank Tagebuch, Samstag 15. Juli 1944

Kurz vor dem Rausgehen, in einem Video mit Kommentaren verschiedenster Menschen - ein amerikanischer Jude in meinem Alter, erinnert sich mit seiner Schwester gelegentlich ein kleines Gedankenexperiment durchgespielt zu haben - "Wer würde uns verstecken, wenn es doch mal wieder so weit kommen sollte?" 
Wer?

Anne Frank starb wahrscheinlich im Februar 1945 im KZ Bergen-Belsen an Flecktyphus. Nur zwei Monate später, am 15. April 1945, wurde das Lager von britischen Soldaten befreit.

Überlebende singen ein jüdisches Lied, Ha-Tikwa, die Hoffnung.
https://www.youtube.com/watch?v=es4YLI2mFnQ 
Originalaufnahme der BBC von 1945

Solange noch im Herzen

eine jüdische Seele wohnt
und nach Osten hin, vorwärts,
ein Auge nach Zion blickt,

solange ist unsere Hoffnung nicht verloren,
die Hoffnung, zweitausend Jahre alt,
zu sein ein freies Volk, in unserem Land,
im Lande Zion und in Jerusalem!


Heute ist dies die Nationalhymne des Staates Israel. Ein schönes trauriges Lied. Welches Lied singen Palästinenser?

Sonntag, 14. Juni 2015

Azzurro Ultramarin - Das Blau von jenseits des Meeres


ULTRAMARINBLAU

Die Landschaft war in ein schwefliges Gelb getaucht, nur das Wasser war türkisblau bis zum tiefsten Ultramarin. Die Weiden beginnen ...
Paul Klee, Tagebucheintrag 
Michelangelo Grablegung 1500/01
Rechts im Vordergrund, nur in Umrissen zu erkennen, befindet sich 
die Jungfrau Maria, für ihren Mantel hätte der Maler das kostbare
Ultramarinblau benötigt, und so blieb das Gemälde aus Geldmangel
unvollendet. 

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Azzurro oltramarino ist wahrlich eine edle Farbe, schön, vollkommen 
über alle Farben, von demselben kann man nicht leicht zuviel 
Rühmens machen. Mit dieser Farbe und dem Golde erhält jedes Ding 
auf der Mauer oder Tafel Glanz.
  Cennino Cennini
  
Natürliches Ultramarin ist ein Pigment, das aus dem Schmuckstein  
Lapislazuli gewonnen wird. Das Mineral Lasurit im Gestein Lapislazuli ist ein komplexes schwefelhaltiges Aluminiumsilikat, dieses besitzt die blaue Farbe. 
Das Gestein ist nur an einer einzigen Fundstelle im Norden Afghanistans in herausragender Qualität - also mit hohem Lasuritanteil - zu finden. Dieser überaus wertvolle Rohstoff kam über den Seeweg nach Zentraleuropa. 
Aus dem gemahlenen Lapislazuli wurde in verschiedenen Reinigungsverfahren das besonders lichtechte blaue Farbpigment Ultramarinblau gewonnen. 
Dazu wurde das zu Pulver zermahlene Mineral in ein Gemisch aus Wachs, 
Harz und Öl gebracht, das man anschließend unter Wasser knetete. 
Dabei löste sich das blaue Pigment aus der Masse.

Aufgrund des kostbaren und seltenen Ausgangsmaterials war Ultramarin während der Zeit des ausgehenden Mittelalters, der Renaissance und in der frühen Neuzeit ein extrem kostbares Farbpigment, dessen Wert den von 
purem Gold überstieg. Aufgrund seiner Kostbarkeit konnte es in der Malerei 
nur sparsam eingesetzt werden und kam vor allem bei bildlichen Darstellungen von Jesus Christus oder der Jungfrau Maria zu Einsatz. Außerdem wurde es in der Buchmalerei verwendet.

 WIKI
Um aus Lapislazuli das kostbare Ultramarinblau zu gewinnen, waren
etwa 50 verschiedene Arbeitsgänge nötig!

Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. 
Es ist die Farbe des Himmels.
Vassily Kandinsky



Yves Klein : Propositions monochromes 10.-25. Mai 1957
 
Artikel über "International Klein Blau", IKB, Yves Kleins
patentiertes Blau.
http://www.brandeins.de/wissen/mck-wissen/qualitaet/ins-blaue-hinein-yves-klein/


Vermeer Das Mädchen mit dem Perlenohrring
1665
Vermeer, ein langsamer Maler und immer in Geldnot, verwendete
dennoch das teure Ultramarinblau. Er starb hochverschuldet.

Dürer bezahlte 1521 für die Unze für 24 Gulden, andere Quellen
sagen 12 Dukaten, das Fünfzigfache dessen, was er für Azurit
 oder deutsch-Blau hätte bezahlen müssen, ein Vermögen.

http://kremer-pigmente.de/ultramarin.htm