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Freitag, 22. November 2013

Mann, der eine Leiche auf den Schultern trägt


Luca Signorelli aus Cortona
Geboren 1445
Gestorben am 16. Oktober 1523

Mann, der eine Leiche auf den Schultern trägt

Vasari schrieb etwas übertreibend:
Luca Signorelli, ein ausgezeichneter Maler....in den Arbeiten, die er in der Malerei schuf, zeigte er die wahre Methode wie man Nackte  darstellt und wie es scheinen kann, obwohl nur durch Kunstfertigkeit und Anstrengung, als wären sie lebendig.

 an excellent painter... in the works that he executed in painting he showed the true method of making nudes, and how they can be caused, although only with art and difficulty, to appear alive.

Wandmalerei in der San Brizio Kapelle im Dom von Orvieto, 1499-1502
Die Verdammten werden in die Hölle verbannt 




 


Zwei nackte junge Männer tragen einen nackten jungen Mann 
und ein angezogenes Mädchen


Selbstporträt mit Vitelozzo Vitelli
Detail aus einem größeren Gemälde
 

Dienstag, 19. November 2013

Windstille und dann nicht mehr




Vincent Van Gogh  
See-Landschaft bei Saintes Maries de la Mer 1888


MEERES STILLE
  
Tiefe Stille herrscht im Wasser,
Ohne Regung ruht das Meer,
Und bekümmert sieht der Schiffer
Glatte Fläche ringsumher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuern Weite
Reget keine Welle sich.

-----------          ------------


GLÜCKLICHE FAHRT
Die Nebel zerreißen,
Der Himmel ist helle,
Und Äolus löset
Das ängstliche Band.
Es säuseln die Winde,
Es rührt sich der Schiffer.
Geschwinde! Geschwinde!
Es teilt sich die Welle,
Es naht sich die Ferne;
Schon seh ich das Land!
Johann Wolfgang von Goethe
1796 in Schillers Musenalmanach erschienen

Willem Van de Velde the Younger
1664 Die holländische Flotte in Guinea


 

Dienstag, 12. November 2013

Man könnte durchbrechen


Paul Klee Seiltänzer 1923


Ja, die Erde ist eine dünne Kruste; 
ich meine immer, 
ich könnte durchfallen, 
wo so ein Loch ist. - 
Man muß mit Vorsicht auftreten, 
man könnte durchbrechen. Aber gehn Sie ins Theater, 
 ich rat es Ihnen!

Georg Büchner 
Dantons Tod

Dienstag, 15. Oktober 2013

Egon Schiele - Frau in Rot



STEHENDE FRAU IN ROT


Eine Frau, Kleid und Strümpfe in der Farbe der Lust, 
den Rock hochgerafft, die Hand am Geschlecht, und doch,
solche Unschuld, runde Kinderwaden, X-Beine, Knie und Fesseln, 
die kaum auszureichen scheinen, den Körper aufrecht zu halten,
der linke Arm hängt linkisch, und dann noch die Wimpelbordüre!
Der Körper ein passives Angebot ohne Allüre.



Egon Schiele 1913

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Wisława Szymborska - Vermeer


Wisława Szymborska


Jan Vermeer Dienstmagd mit Milchkrug 1658 -166



Vermeer 


Solange diese Frau im Rijksmuseum

in gemalter Hingabe und Stille

Tag für Tag die Milch

aus dem Krug in die Schüssel gießt,

solange hat unsere Welt

keinen Weltuntergang verdient.

Übersetzung Gerhard Gnauck





Ein Beitrag zur Statistik

Von hundert Leuten:

Besserwisser
- zweiundfünfzig,

unsicher auf Schritt und Tritt
- fast der ganze Rest.

hilfsbereit,
wenn es nicht zu lange dauert
- ganze neunundvierzig,

immer gutmütig,
denn sie können es nicht anders
- vier, na vielleicht fünf,
fähig zu bewundern ohne Neid
- achtzehn,

irregeleitet
durch die Jugend, die vergeht
- plus minus sechzig,

mit denen nicht zu scherzen,
- vierzig und vier,
die in ständiger Furcht leben
vor jemandem oder etwas
- siebenundsiebzig,

mit einer Begabung für das Glück
- höchstens über zwanzig,

einzeln ungefährlich,
wild in der Masse
- sicher über die Hälfte,

grausam,
wenn die Umstände sie zwingen
- das sollte man besser nicht wissen
auch nicht annähernd,

aus Schaden klug
- nicht viel mehr
als klug vor dem Schaden,

die dem Leben nichts abgewinnen außer Sachen
- dreißig,
obwohl ich mich gern irrte,

geduckt, leidend
und ohne Taschenlampe im Dunkeln
- dreiundachtzig
früher oder später,

gerecht
- ziemlich viele, weil fünfunddreißig,

wenn diese Eigenschaft sich verbindet
mit der Mühe zu begreifen
- drei,

bemitleidenswert
- neunundneunzig,

sterblich
- hundert von hundert.
Eine Zahl, die bislang unverändert bleibt.

Aus der Zeitschrift "Twórczość" Nr. 10/1996, Warszawa.
Deutsche Übersetzung © Urszula Usakowska-Wolff und Manfred Wolff




 

Dienstag, 1. Oktober 2013

Parmigianino - ein Manierist



Girolamo Francesco Maria Mazzola
genannt Parmigianino
oder Der Kleine aus Parma 
1503 - 1540


Selbstporträt mit 21 in einem konvexen Spiegel 
circa 1524
24 cm Durchmesser

Vasari schrieb, dass der Maler dieses bizarre Werk folgendermaßen erschuf: "Parmigianino ... begann sich selbst zu malen, wie einem konvexen Rasierspiegel erschien. Er ließ eine Holzkugel von einem Drechsler anfertigen und halbierte ihn, und auf auf einer Hälfte begann er alles zu malen, was er im Spiegel sah. Weil der Spiegel alles vergrößerte, was nah, und verkleinerte, was entfernt war, malte er die Hand etwas groß."

Wie Parmigianino es machte, die rechte Hand
Größer als der Kopf, dem Betrachter entgegengestreckt
Und sich leicht wegbiegend, wie um zu schützen
Was es anpreist. ...

As Parmigianino did it, the right hand
Bigger than the head, thrust at the viewer
And swerving easily away, as though to protect
What it advertises.

Aus einem Gedicht des New Yorker Poeten John Ashbery
As Parmigianino did it, the right hand
Bigger than the head, thrust at the viewer
And swerving easily away, as though to protect
What it advertises. - See more at: http://www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/5926#sthash.7lqbGik9.dpuf


Antea 1531-34


Und hier noch einmal womöglich dieselbe Frau

Die Madonna mit dem langen Hals 1534-40

Dienstag, 17. September 2013

Engelknaben



ENGELKNABEN

LORENZO DI CREDI
Lorenzo di Andrea d'Oderigo
 * 1459 in Florenz 
† 12. Januar 1537 in Florenz


Knabe mit Kappe ca. 1480



Um die vielen Madonnen sind
viele ewige Engelknaben,
die Verheißung und Heimat haben
in dem Garten, wo Gott beginnt.
Und sie ragen alle nach Rang,
und sie tragen die goldenen Geigen,
und die Schönsten dürfen nie schweigen:
ihre Seelen sind aus Gesang.
Immer wieder müssen sie
klingen alle die dunklen Chorale,
die sie klangen vieltausend Male:
Gott stieg nieder aus Seinem Strahle
und du warst die schönste Schale
Seiner Sehnsucht, Madonna Marie. 


Aber oft in der Dämmerung
wird die Mutter müder und müder,-
und dann flüstern die Engelbrüder,
und sie jubeln sie wieder jung.
Und sie winken mit den weißen
Flügeln festlich im Hallenhofe,
und sie heben aus den heißen
Herzen höher die eine Strophe:
Alle, die in Schönheit gehn,
werden in Schönheit auferstehn. 

Rainer Maria Rilke 
Aus den Engelliedern


Knabe mit Lorbeerkranz


Faltenstudie

Bildnis eines jungen Mannes


Donnerstag, 29. August 2013

Ein Waffenstillstand mit dem Tod


 Die Einschläge kommen näher -
Für die Fast-Alten unter uns

Lebensfreude ist das subjektive Empfinden der Freude am eigenen Leben, 
sagt Wiki, ich sage, dass ich unbeschreiblich gern lebe oder, in den Worten von 
Groucho Marx:
Ich habe vor ewig zu leben, oder bei dem Versuch zu sterben.

I intend to live forever, or die trying.

Wie seltsam, dass wir meist nur im plötzlichen, erschreckenden 
Erleben der Endlichkeit, oder brutaler formuliert, wenn jemand stirbt, 
den wir lieb haben, über den durchaus zufälligen Fakt unseres
 "Immer-noch-am-leben-seins" nachdenken. 
Wieviele Kompromisse würden wir sonst nicht eingehen?
Wieviel mehr würden wir küssen?
Wieviele kleinliche Auseinandersetzungen würden wir überspringen? 
Wieviel mehr würden wir lachen, bzw. weinen? 
Wieviel mehr Liebe würden wir versprühen und wieviel konsequenter 
wären wir in unseren Entscheidungen gegen etwas? 

Wir wären dann vielleicht aber auch unmenschlich, denn unsere 
Ignoranz der eigenen Sterblichkeit gegenüber macht uns wohl 
überhaupt lebensfähig. In jedem Moment zu leben im Bewusstsein, 
dass es gleich, morgen oder übermorgen zu Ende sein könnte, 
verhinderte vielleicht all die herrlichen, hoffnungsvollen, 
wenn auch gegen jede Vernunft, und deshalb überraschenden 
Idiotien, die uns zu Menschen macht, oder? 
Eine Freundin, die ungehöriger und ungerechter Weise, 
ganz jung sterben musste, hat mich, schon sehr geschwächt, 
am Kragen gepackt und mir eingetrichtert: 
Wage es nicht, das Leben nicht zu geniessen. Wage es nicht! 
Das Lied weiter unten, gesungen von Nina Simone, war ihr Lieblingslied.

Le bonheur de vivre (The Joy of Life) 1905-06
Henri Matisse
© Barnes Foundation, Merion, PA  

HIER KOMMT DIE SONNE

Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
Kleiner Liebling, es war ein langer und einsamer Winter.
Kleiner Liebling, es scheint Jahre her zu sein, seit sie hier war,
Hier kommt die Sonne und ich sage:

Es ist gut.
Kleiner Liebling, das Lächeln kehrt auf die Gesichter zurück.
Kleiner Liebling, es scheint Jahre her zu sein, seit es hier war,
Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
 Kleiner Liebling, ich fühle, das Eis schmilzt langsam.
Kleiner Liebling, es scheint Jahre her zu sein, seit es hell war,
 

Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
  Es ist gut.  

HERE COMES THE SUN

Here comes the sun (doo doo doo doo)
Here comes the sun, and I say
It's all right

Little darling, it's been a long cold lonely winter
Little darling, it feels like years since it's been here
Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right

Little darling, the smiles returning to the faces
Little darling, it seems like years since it's been here
Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right

Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes

Little darling, I feel that ice is slowly melting
Little darling, it seems like years since it's been clear
Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right

Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right
It's all right


 George Harrison gestorben am 29. November 2001

Here Comes The Sun wurde zu der Zeit geschrieben, 
als die Arbeit bei Apple so wurde, als müssten wir 
wieder zur Schule gehen und Geschäftsleute sein; 
all diese Rechenschaftsberichte unterschreiben, 
unterschreibe dies‘ und ‚ unterschreibe das‘. 
Irgendwie scheint es, als ob der Winter in England 
niemals endet, wenn der Frühling kommt, 
hast du das wirklich verdient. 
Eines Tages beschloss ich, meine Arbeit bei Apple 
einfach zu ‚schwänzen‘ und ging zu Eric Claptons Haus: 
[…] Die Befreiung, all diese dämlichen Buchhalter 
nicht zu sehen, war wunderbar, 
und ich ging mit einer von Erics akustischen Gitarren 
durch den Garten und schrieb  
Here Comes The Sun.

George Harrison, 1980

Samstag, 3. August 2013

Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?



Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?


Paul Gaugin 1897

Zu einer größeren Ansicht des Bildes geht es hier:



Wiki schreibt: Anfang 1897 erhielt Paul Gaugin den Erlös aus dem Verkauf von Bildern in Europa, was einen vorübergehenden finanziellen Aufschwung brachte; seine Gesundheit aber verschlechterte sich weiter. Er litt nun auch unter Herzbeschwerden und einer chronischen Augenentzündung. Die Nachricht vom Tod seiner Tochter Aline, die in Kopenhagen an einer Lungenentzündung gestorben war, verstärkte seine Schwermut zusätzlich.Nach einem Herzanfall am Ende des Jahres nahm Gauguin alle Kräfte zusammen und malte innerhalb von vier Wochen das 139 × 375 cm große Bild Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, das testamentarischen Charakter hat. Anschließend unternahm er einen Selbstmordversuch mit Arsen, an dessen Folgen er wochenlang leiden sollte.
Gaugin starb 1903. 

Hochinteressanter Artikel über Gaugins Leben auf Tahiti und den daraus entstandenen Mythos:

Der von der Gauguin-Legende überlieferte Trauerschrei der Eingeborenen
- "Koke ist tot, wir sind verloren!" - ist, wie Bengt Danielsson nachweist, nur ein übersetzungsfehler. Richtig übersetzt lautet das, was die "Wilden" riefen: "Koke ist tot, der Bursche hat's hinter sich."

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46266241.html 


Katechismus der Katholischen Kirche

282 
Die Katechese über die Schöpfung ist entscheidend wichtig. Sie betrifft ja die Grundlagen des menschlichen und des christlichen Lebens, denn sie formuliert die Antwort des christlichen Glaubens auf die Grundfragen, die sich die Menschen aller Zeiten gestellt haben: ,,Woher kommen wir?", ,,wohin gehen wir?", ,,woher stammen wir?", ,,wozu sind wir da?", ,,woher kommt alles, was da ist, und wohin ist es unterwegs?" Die beiden Fragen, die nach dem Ursprung und die nach dem Ziel, lassen sich nicht voneinander trennen. Sie sind für den Sinn und die Ausrichtung unseres Lebens und Handelns entscheidend.



An Charlotte von Stein


Woher sind wir geboren?
Aus Lieb.
Wie wären wir verloren?
Ohn Lieb.
Was hilft uns überwinden?
Die Lieb.
Kann man auch Liebe finden?
Durch Lieb.
Was lässt nicht lange weinen?
Die Lieb.
Was soll uns stets vereinen?
Die Lieb.

Johann Wolfgang von Goethe

Dienstag, 9. Juli 2013

Hans Christian Andersen - Amor - Caravaggio


OMNIA VINCIT AMOR


Amor Vincit Omnia Caravaggio 1601/02

Omnia vincit amor et nos cedamus amori!
Die Liebe besiegt alles, unterwerfen wir uns der Liebe!
Virgil Eclogen 10,69, Bucolica 

DER UNARTIGE KNABE

Es war einmal ein alter Dichter, so recht ein guter alter Dichter. Eines Abends als er zu Hause saß, entstand draußen ein schrecklich böses Wetter; der Regen strömte hernieder, aber der Dichter saß warm und gut bei seinem Ofen, wo das Feuer brannte und die Äpfel zischten.
"Es bleibt kein trockner Faden auf den Armen, die bei diesem Wetter nicht zu Hause sind!" sagte er, denn er war ein guter Dichter.
"O, öffne mir! mich friert und ich bin ganz nass!" rief draußen ein kleines Kind. Es weinte und klopfte draußen an die Tür, während der Regen herabströmte und der Wind mit allen Fenstern klirrte. "Du kleines Wesen!" sagte der alte Dichter, als er die Tür öffnete. Da stand ein kleiner Knabe, der war ganz nackt, und das Wasser floss aus seinen langen gelben Locken. Er zitterte vor Kälte; wäre er nicht hereingekommen, hätte er in dem bösen Wetter sicher umkommen müssen.
"Du armer Junge!" sagte der freundliche Dichter und nahm ihn bei der Hand. "Komm zu mir, ich werde dich schon erwärmen! Wein und einen Apfel sollst du haben, denn du bist ein prächtiger Knabe!"
Das war er auch. Seine Augen sahen wie zwei klare Sterne aus, und obgleich das Wasser aus seinen gelben Locken herabfloss, ringelten sie sich doch. Er sah aus wie ein kleines Engelskind, war aber bleich vor Kälte und zitterte über den ganzen Körper. In der Hand trug er einen herrlichen Bogen, aber der war vom Regen ganz verdorben, alle Farben auf den schönen Pfeilen liefen vom nassen Wetter in einander.
Der alte Dichter setzte sich an den Ofen, nahm den kleinen Knaben auf seinen Schoß, drückte das Wasser aus seinen Locken, wärmte ihm die Hände in den seinen und kochte ihm süßen Wein. Da erholte er sich, bekam rote Wangen, sprang auf den Fußboden nieder und tanzte rings um den alten Dichter herum.
"Du bist ein lustiger Knabe!" sagte der Alte. "Wie heißt du!"
"Ich heiße Amor!" erwiderte er. "Kennst du mich nicht? Dort liegt mein Bogen; glaube mir, damit schieße ich! Sieh, nun wird das Wetter draußen wieder gut, der Mond scheint."
"Aber Dein Bogen ist verdorben!" sagte der alte Dichter." "Das wäre schlimm!" sagte der kleine Knabe, nahm ihn auf und besah ihn. "O, der ist ganz trocken, der hat gar keinen Schaden gelitten; die Sehne sitzt ganz stramm; nun werde ich ihn probieren!" Dann spannte er ihn, legte einen Pfeil darauf, zielte und schoss dem guten alten Dichter gerade in das Herz: "Siehst du wohl, dass mein Bogen nicht verdorben war?" sagte er, lachte ganz laut und lief seines Weges. Der unartige Knabe, so den alten Dichter zu schießen, der ihn in die warme Stube hereingenommen, so gut gegen ihn gewesen war und ihm den schönsten Wein und die besten Äpfel gegeben hatte.
Der gute Dichter lag auf dem Fußboden und weinte, er war wirklich gerade in das Herz geschossen: "Pfui! was ist dieser Amor für ein unartiger Knabe, das werde ich allen guten Kindern erzählen, damit sie sich in Acht nehmen können und nie mit ihm spielen, denn er tut ihnen etwas zu Leide!"
Alle guten Kinder, Mädchen und Knaben, welche er dieses Erzählte, nahmen sich auch vor dem bösen Amor in Acht, aber er führte sie doch an, denn er ist schlau. Wenn die Studenten von den Vorlesungen kommen, läuft er ihnen zur Seite, mit einem Buche unter dem Arm und hat einen schwarzen Rock an. Sie können ihn gar nicht erkennen, und dann fassen sie ihn unter dem Arm und glauben, dass er auch ein Student sei, aber dann sticht er ihnen den Pfeil in die Brust. Wenn die Mädchen vor dem Prediger kommen und wenn sie eingesegnet werden, so ist er auch hinter ihnen.

Ja, er ist immer hinter den Leuten her! Er sitzt in der großen Lampenkrone im Theater und brennt lichterloh, so dass die Leute glauben, er sei eine Lampe, aber später sehen sie den Irrtum ein. Er läuft im Schlossgarten und auf den Wällen umher, ja, er hat auch einen deinem Vater und deiner Mutter gerade in das Herz geschossen! Frage sie nur danach, so wirst du hören, was sie sagen. Ja, es ist ein böser Knabe, dieser Amor, mit ihm musst du nie etwas zu schaffen haben; er ist hinter Jedermann her. Denk einmal, er schoss sogar einmal einen Pfeil auf die alte Großmutter ab, aber das ist lange her, dass es geschehen ist. Die Wunde ist zwar geheilt, doch vergisst sie es nie. Pfui, der böse Amor! Aber nun kennst du ihn und weißt, was er für ein unartiger Knabe ist!

Hans Christian Andersen

Montag, 8. Juli 2013

Raphael Soyer - Gottfried Benn



Raphael Soyer Café-Szene 1946

Nachtcafé

824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.

Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.

B-moll: die 35. Sonate
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! -

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit.
Kaum Duft.
Es ist nur eine süße Verwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.

Gottfried Benn 1912

Sonntag, 23. Juni 2013

Hilfe gesucht !!!!


ICH ERSUCHE UM HILFE!
DIESES BILD WAR TEIL DES ZWEITEN TEILD DER MACHT KUNST AUSSTELLUNG IN BERLIN IM APRIL: WEISS JEMAND DEN NAMEN DER MALERIN ODER DES MALERS? 
BITTE SEHR UM HILFREICHE KOMMENTARE!


Freitag, 14. Juni 2013

Theater hat auch neue Texte



"Good Morning Boys and Girls"  
von Juli Zeh

Ein Stück über einen Pubertierenden, den allseits bekannten, allseits gefürchteten Amokläufer hochintelligent und vereinsamt, und seine Eltern, natürlich, bürgerlich bis zum Erbrechen, sie, die Mutter, hysterisch und trinkend, er, der Vater, ausschließlich aufgeregt die Schuldfrage abwehrend. Ja, ja die kenne ich schon aus anderen, besseren Texten.

Der zornige junge Mörder-Mann, der, in einer überraschenden Schlußwendung, doch nicht das ausführende Monster ist, sondern, wiederum nur Spielball anderer, bleibt aber leider nur ein Konstrukt der risikolosen Schule neuerer Dramatik. Ein schlaues Stück, aber eben deshalb auch ein unwahres. "Wir sind uns hier heute alle einig, das Leben ist ein wenig komplizierter, als unsere Schulweisheit vermuten läßt, aber nur ein klein wenig". Wie öde, wenn der Autor, die Autorin durchgehend einfache Entscheidungen für mich fällt. Schuldfragen müssen unbedingt beantwortet werden, sonst bleiben leere, dunkle Stellen, und an denen könnte Denken und Verunsicherung einsetzen, o nein. Da erklärt sie uns lieber alles ganz deutlich und genau. Sie versteht uns alle, aber ist doch letztendlich besser, toleranter, weitblickender als wir, sie hat nämlich eine Weltsicht und die sollen wir aber nun bitte mal teilen. Wie bevormundend! Wie öde!

Zwischenbemerkung: die Inszenierung von Marins Eitner-Acheampong war trotzdem großartig, sie hat die Texte musikalisiert, ihnen Widerstand gegeben und die Spieler befreit. Sie leben, sind erkennbar und entklischeesiert.

Und trotzdem bleibt: die Figuren sagen ständig was sie "wirklich" denken, meinen, fühlen, sie verkünden ihre Standpunkte wie Männer, die sich mächtig auf den Brustkorb schlagen oder Frauen die traurig angestrengt mit dem Arsch wackeln. Und es bleibt den Schauspielern eigentlich nix zu spielen übrig, weil ja alles schon ausgesprochen wird.
Niemand, den ich kenne, außer Politiker und Sektenpriester, posaunt ständig seine Standpunkte wie eherne Parolen in die Welt. Wir alle schwindeln, taktieren, versuchen uns durchzuwinden, verharren, stolpern und wagen uns ängstlich oder geckenhaft hervor mit unsreren Gewissheiten. Wir sind fehlbar, unsicher, gefällig und wankelmütig. In solchen Stücken werden wir zu schnell einordenbaren Typen eingefroren, die die Tiefen ihrer Seele immer ganz vorne auf der Zunge liegen haben und sie auch wie unter Zwang ständig ausspucken.

Herr Shakespeare hatte womöglich genug Talent, Zeit und Anarchie, um uns unsere Vieldeutbarkeit zuzugestehen, Hier wird versucht, uns für das Theater leicht verstehbar zu machen. Das ist öde. Und unwahr.
Vielleicht hatte William Shakespeare, der Sohn eines Handwerkers aus Stratford, nur die notwendige Demut, zu akzeptieren, dass nicht alles schnell erklärbar ist und den verständlichen Zorn darüber, dass es großartig wäre, wenn wir immer wüßten, was wir tun und warum wir es tun.
Einen freundlichen, dankbaren Gruß an Herrn Pollesch.

“Drei Studien Für Ein Portrait Von Lucian Freud”  Francis Bacon

„Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden.“
Meyers Konversationslexikon, Vierte Auflage, 1885-1892

Donnerstag, 13. Juni 2013

Zwerg im Märchen



sitzend in den pergen, geleich den twergen, 
zwair daum prait, ellen langk
Versroman Herzog ernst 1180

DAS MÄRCHEN VOM ZWERG 
Paul Klee 1925


DAS LIED DES ZWERGES
 
Meine Seele ist vielleicht grad und gut;
aber mein Herz, mein verbogenes Blut,
alles das, was mir wehe tut,
kann sie nicht aufrecht tragen.
Sie hat keinen Garten, sie hat kein Bett,
sie hängt an meinem scharfen Skelett
mit entsetztem Flügelschlagen.
Aus meinen Händen wird auch nichts mehr.
Wie verkümmert sie sind: sieh her:
zähe hüpfen sie, feucht und schwer,
wie kleine Kröten nach Regen.
Und das Andre an mir ist
abgetragen und alt und trist;
warum zögert Gott, auf den Mist
alles das hinzulegen.

Ob er mir zürnt für mein Gesicht
mit dem mürrischen Munde?
Es war ja so oft bereit, ganz licht
und klar zu werden im Grunde;
aber nichts kam ihm je so dicht
wie die großen Hunde.
Und die Hunde haben das nicht.

Rainer Maria Rilke
Aus: Das Buch der Bilder 

Hubertus Giebe Zwerg II

Und hier ein deutscher Puck?
 
Der Zwerg
 
Es lebt nicht fern von hier auf einem hohen Berg
Ein Mann, an Geiste groß, an Körper nur ein Zwerg,
Der kennet manches Kraut, manch zauberische Tinte,
Vor dem flieht jedermann wie Vögel vor der Flinte,
Und wie manch altes Weib in dieser Gegend weiß,
Verwandelt er sich bald in eine schwarze Geiß,
Bald in ein Schaf, bald in ein Rind, doch glänzet immer
In jeglicher Gestalt um seinem Haupt ein Schimmer;
Des Gnomen Tück ist nichts zu groß und nichts zu klein,
Er macht den Baur zum Fuchs, den Clericus zum Schwein,
Kein Amt, kein Stand ist seiner Rachbegier zu heilig,
Er neckt und quälet jeden, flieht man noch so eilig,
Er steht im Bunde mit dem leidgen Höllenhund,
Drum hütet euch vor ihm, zur Warnung mach ichs kund.
 
Franz Grillparzer
Den 28ten Oktober 1807
 
Wiki schreibt: Die im Hochmittelalter begonnene Diabolisierung 
der Zwerge nahm im Laufe der Zeit immer mehr zu. So wurden 
die Zwerge im 16. Jahrhundert von christlichen Theologen 
allgemein für gefallene Engel gehalten, die sich nur nicht völlig 
in Teufel verwandelt hätten, weil sie, als bloß Verführte, bei ihrem 
Sturz an Bergen und Bäumen hängen geblieben seien. 
 
 Hof-Zwerg Don Antonio el Ingles
Diego Velaquez 1640
 
Es gibt auch ein wunderbares Bild von Carl Spitzweg: Gnom,
die Eisenbahn betrachtend, Mythos trifft Neuzeit!
 
161.
Schneeweißchen und Rosenroth.
Eine arme Wittwe, die lebte einsam in einem Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weiße, das andere rothe Rosen: und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenroth. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen, als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind: Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenroth. Rosenroth sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fieng Sommervögel: Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen, oder las ihr vor, wenn nichts zu thun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, daß sie sich immer an den Händen faßten, so oft sie zusammen aus giengen, und wenn Schneeweißchen sagte „wir wollen uns nicht verlassen,“ so antwortete Rosenroth „so lange wir leben nicht,“ und die Mutter setzte hinzu „was das eine hat solls mit dem andern theilen.“ Oft liefen sie im Walde allein umher, und sammelten rothe Beeren, aber kein Thier that ihnen etwas zu leid, sondern sie kamen vertraulich herbei: das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen; das Reh graste an ihrer Seite; der Hirsch sprang ganz lustig vorbei; die Vögel blieben auf den Aesten sitzen, und sangen was sie wußten. Kein Unfall traf sie: wenn sie sich im Walde verspätet hatten und die Nacht sie überfiel, so legten sie sich nebeneinander auf das Moos und schliefen bis der Morgen kam, und die Mutter wußte das, und hatte ihrentwegen keine Sorge. Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten, und das Morgenroth sie aufweckte, da sahen sie ein schönes Kind in einem weißen glänzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen. Es stand auf, und blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts, und gieng in den Wald hinein. Und als sie sich umsahen, so hatten sie ganz nahe bei einem Abgrunde geschlafen, und wären gewiß hinein gefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weiter gegangen wären. Die Mutter aber sagte ihnen das müste der Engel gewesen seyn, der gute Kinder bewache.
Schneeweißchen und Rosenroth hielten das Hüttchen der Mutter so reinlich, daß es eine Freude war hinein zu schauen. Im Sommer besorgte Rosenroth das Haus, und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe sie aufwachte, einen Blumenstrauß vors Bett, darin war von jedem Bäumchen eine Rose. Im Winter zündete Schneeweißchen das Feuer an, und hieng den Kessel an den Feuerhacken, und der Kessel war von Messing, glänzte aber wie Gold, so rein war er gescheuert. Abends, wenn die Flocken fielen, sagte die Mutter „geh, Schneeweißchen, und schieb den Riegel vor,“ und dann setzten sie sich an den Herd, und die Mutter nahm die Brille, und las aus einem großen Buche vor, und die beiden Mädchen hörten zu, saßen und spannen; neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden, und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen, und hatte seinen Kopf unter den Flügel gesteckt.
Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen saßen, klopfte jemand an die Thüre, als wollte er eingelassen seyn. Die Mutter sprach „geschwind, Rosenroth, mach auf, es wird ein Wanderer seyn, der Obdach sucht.“ Rosenroth gieng, und schob den Riegel weg, aber statt daß ein Mensch gekommen wäre, streckte ein Bär seinen dicken schwarzen Kopf zur Thüre herein. Rosenroth schrie laut, und sprang zurück; das Lämmchen blöckte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter der Mutter Bett. Der Bär aber fieng an zu sprechen, und sagte „fürchtet euch nicht, ich thue euch nichts zu leid, ich bin halb erfroren, und will mich nur ein wenig bei euch wärmen.“ „Ei, du armer Bär,“ sprach die Mutter, „leg dich ans Feuer, und gib nur acht daß dir dein Pelz nicht brennt.“ Dann rief sie „Schneeweißchen, Rosenroth, kommt hervor, der Bär thut euch nichts, er meints ehrlich.“ Da kamen sie beide heran, und nach und nach näherten sich auch das Lämmchen und Täubchen, und hatten keine Furcht mehr. Der Bär sprach „ihr Kinder, klopft mir den Schnee ein wenig aus dem Pelzwerk,“ und sie holten den Besen, und kehrten dem Bär das Fell rein, er aber streckte sich ans Feuer, und brummte ganz vergnügt und behaglich. Nicht lange, so wurden sie ganz vertraut, und trieben Muthwillen mit dem unbeholfenen Gast, zausten ihm das Fell mit den Händen, setzten ihre Füßchen auf seinen Rücken, und walgerten ihn hin und her, oder nahmen eine Haselruthe und schlugen auf ihn los, und wenn er brummte, so lachten sie. Der Bär ließ sichs aber gerne gefallen, nur wenn sies gar zu arg machten, rief er „laßt mich am Leben, ihr Kinder:
Schneeweißchen, Rosenroth,
schlägst dir den Freier todt.“

Als Schlafenszeit war, und die andern zu Bett giengen, sagte die Mutter zu dem Bär „du kannst in Gottes Namen da am Herde liegen bleiben, so bist du vor der Kälte und dem bösen Wetter geschützt.“ Als der Tag graute, ließen ihn die beiden Kinder hinaus, und er trabte über den Schnee in den Wald hinein. Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde, legte sich an den Herd, und erlaubte den Kindern Kurzweil mit ihm zu treiben, so viel sie wollten; und sie waren so gewöhnt an ihn, daß die Thüre nicht eher zugeriegelt wurde, als bis der schwarze Gesell angelangt war.
Als das Frühjahr heran gekommen und draußen alles grün war, sagte der Bär eines Morgens zu Schneeweißchen „nun muß ich fort, und darf den ganzen Sommer nicht wieder kommen.“ „Wo gehst du denn hin, lieber Bär?“ fragte Schneeweißchen. „Ich muß in den Wald und meine Schätze vor den bösen Zwergen hüten: im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie wohl unten bleiben und können sich nicht durcharbeiten, aber jetzt, wenn die Sonne die Erde aufgethaut und erwärmt hat, da brechen sie durch, steigen herauf, suchen und stehlen: und was einmal in ihren Händen ist und in ihren Höhlen liegt, das kommt so leicht nicht wieder an des Tages Licht.“ Schneeweißchen war ganz traurig über den Abschied, und riegelte ihm die Thüre auf, und als der Bär sich hinaus drängte, blieb er an dem Thürhacken hängen, und ein Stück seiner Haut riß auf, und da war es Schneeweißchen, als hätte es Gold durchschimmern gesehen: aber es war seiner Sache nicht gewiß, weil der Bär eilig fort lief und bald hinter den Bäumen verschwunden war.
Nach einiger Zeit schickte die Mutter die Kinder in den Wald Reisig zu sammeln. Da fanden sie draußen einen großen Baum, der lag gefällt auf dem Boden, und an dem Stamme sprang zwischen dem Gras etwas auf und ab, sie konnten aber nicht unterscheiden was es war. Als sie näher kamen, sahen sie einen Zwerg mit einem alten verwelkten Gesicht und einem ellenlangen schneeweißen Bart. Das Ende des Bartes war in eine Spalte des Baums eingeklemmt, und der Kleine sprang hin und her wie ein Hündchen an einem Seil, und wußte nicht wie er sich helfen sollte. Er glotzte die Mädchen mit seinen rothen feurigen Augen an, und schrie „was steht ihr da! könnt ihr nicht herbei gehen und mir Beistand leisten?“ „Was hast du angefangen, kleines Männchen?“ fragte Rosenroth. „Dumme neugierige Gans,“ antwortete der Zwerg, „den Baum habe ich mir spalten wollen, um kleines Holz in der Küche zu haben; bei den dicken Klötzen verbrennt gleich das Bischen Speise, das unser einer braucht, der nicht so viel hinunter schlingt als ihr, grobes Volk. Ich hatte einen Keil hinein getrieben, und es wäre alles nach Wunsch gegangen, aber das verwünschte Holz war zu glatt, und sprang unversehens heraus, und der Baum fuhr so geschwind zusammen, daß ich meinen schönen weißen Bart nicht mehr herausziehen konnte; nun steckt er drinn, und ich kann nicht fort. Da lachen die albernen glatten Milchgesichter! pfui, was seyd ihr garstig!“ Die Kinder gaben sich alle Mühe, aber sie konnten den Bart nicht heraus ziehen, er steckte zu fest. „Ich will laufen, und Leute herbei holen“ sagte Rosenroth. „Wahnsinnige Schafsköpfe,“ schnarrte der Zwerg, „wer wird gleich Leute herbeirufen, ihr seyd mir schon um zwei zu viel; fällt euch nicht besseres ein?“ „Sey nur nicht ungeduldig,“ sagte Schneeweißchen, „ich will schon Rath schaffen,“ und holte sein Scheerchen aus der Tasche, und schnitt das Ende des Bartes ab. Sobald der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den Wurzeln des Baums steckte, und mit Gold gefüllt war, hob ihn heraus, und brummte vor sich hin „ungehobeltes Volk, schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Barte ab! lohns euch der Guckguck!“ damit schwang er seinen Sack auf den Rücken, und gieng fort ohne die Kinder nur noch einmal anzusehen.
Einige Zeit danach wollten Schneeweißchen und Rosenroth ein Gericht Fische angeln. Als sie auf den Bach zu giengen, sahen sie daß etwas wie eine große Heuschrecke nach dem Wasser zu hüpfte, als wollte es hinein springen. Sie liefen heran, und erkannten den Zwerg. „Wo willst du hin?“ sagte Rosenroth, „du willst doch nicht ins Wasser?“ „Solch ein Narr bin ich nicht,“ schrie der Zwerg, „seht ihr nicht, der verwünschte Fisch will mich hinein ziehen?“ Der Kleine hatte da gesessen und geangelt, und unglücklicher Weise hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verflochten: als gleich darauf ein großer Fisch anbiß, fehlten dem Zwerg die Kräfte ihn herauszuziehen, der Fisch behielt die Oberhand, und riß den Zwerg zu sich hin. Zwar hielt er sich an allen Halmen und Binsen, aber das half nicht viel, er mußte den Bewegungen des Fisches folgen, und war in beständiger Gefahr ins Wasser gezogen zu werden. Die Mädchen kamen zu rechter Zeit, hielten ihn fest, und versuchten den Bart von der Schnur loszumachen, aber vergebens, Bart und Schnur waren fest in einander verwirrt. Es blieb nichts übrig, als das Scheerchen hervor zu holen und den Bart abzuschneiden: dabei gieng ein kleiner Theil desselben verloren. Als der Zwerg das sah, schrie er sie an, „ist das Manier, ihr Lorche, einem das Gesicht zu schänden! nicht genug, daß ihr mir den Bart unten abgestutzt habt, jetzt schneidet ihr mir den besten Theil davon ab: ich darf mich vor den Meinigen gar nicht sehen lassen. Daß ihr laufen müßtet und die Schuhsohlen verloren hättet!“ Dann holte er einen Sack Perlen, der im Schilfe lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen, schleppte er ihn fort, und verschwand hinter einem Stein.
Es trug sich zu, daß bald hernach die Mutter die beiden Mädchen nach der Stadt schickte, Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen. Der Weg führte sie über eine Heide, auf der hier und da mächtige Felsenstücke zerstreut lagen, da sahen sie einen großen Vogel in der Luft schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herab senkte, und endlich nicht weit bei einem Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei. Sie liefen herzu, und sahen mit Schrecken daß der Adler ihren alten Bekannten, den Zwerg, gepackt hatte und ihn forttragen wollte. Die mitleidigen Kinder hielten gleich das Männchen fest, und zerrten sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahren ließ. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, sprach er „konntet ihr nicht säuberlicher mit mir umgehen, gerissen habt ihr an meinem dünnen Röckchen daß es überall zerfetzt und durchlöchert ist, unbeholfenes und täppisches Gesindel das ihr seyd!“ Dann nahm er einen Sack mit Edelsteinen, und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle. Die Mädchen waren an seinen Undank schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort, und verrichteten ihr Geschäft in der Stadt. Als sie beim Heimweg wieder auf die Heide kamen, überraschten sie den Zwerg, der auf einem reinlichen Plätzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet und nicht gedacht hatte daß so spät noch jemand daher kommen würde. Die Abendsonne schien über die glänzenden Steine, und sie schimmerten und leuchteten so prächtig in allen Farben, daß die Kinder stehen blieben, und sie betrachteten. „Was steht ihr da, und habt Maulaffen feil!“ schrie der Zwerg, und sein aschgraues Gesicht ward zinnoberroth vor Zorn. Er wollte mit seinen Scheltworten fortfahren, als sich ein lautes Brummen hören ließ, und ein schwarzer Bär aus dem Walde herbei trabte. Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen, der Bär war schon in seiner Nähe. Da rief er in Herzensangst „lieber Herr Bär, verschont mich, ich will euch alle meine Schätze geben, seht, die schönen Edelsteine, die da liegen. Schenkt mir das Leben, was habt ihr an mir kleinen schmächtigen Kerl? ihr spürt mich nicht zwischen den Zähnen: da die beiden gottlosen Mädchen packt, das sind für euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln, die freßt in Gottes Namen.“ Der Bär kümmerte sich um seine Worte nicht, gab dem boshaften Geschöpf einen einzigen Schlag mit der Tatze, und es regte sich nicht mehr.
Die Mädchen waren fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach „Schneeweißchen, Rosenroth, fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen.“ Da erkannten sie seine Stimme, und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und er stand da als ein schöner Mann, und war ganz in Gold gekleidet. Er sagte „ich bin eines Königs Sohn, und war von dem gottlosen Zwerg, der mir meine Schätze gestohlen hatte, verwünscht als ein wilder Bär in dem Walde zu laufen, bis ich durch seinen Tod erlöst würde. Jetzt hat er seine wohlverdiente Strafe empfangen.“
Schneeweißchen wurde mit ihm, und Rosenroth mit seinem Bruder vermählt, und sie theilten die großen Schätze mit einander, die der Zwerg in seiner Höhle zusammen getragen hatte. Die alte Mutter lebte noch lange Jahre ganz glücklich bei ihren Kindern. Die zwei Rosenbäumchen aber nahm sie mit, und sie standen vor ihrem Fenster, und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen, weiß und roth.
 
Gebrüder Grimm Märchen 3. Auflage