Im Stockwerk über mir eine Familie, die trampelt und kreischt, schreit, brüllt, Türen schlägt. Ich höre Kinderweinen. Höre ich Schläge? Soll ich die Polizei rufen?
Das Problem ist bekannt, sagen andere Mieter. Und?
Der Hausvater telefoniert seit Stunden auf der Strasse, Hoodie, Basecap und fleckig chlorgebleichte Jeans, von der Art, wie sie DDR-Bürger kurz nach der Wende trugen. Die Damen der Familie traf ich heute morgen, gehüllt in Kopftuch und kurvenbetonende hautenge Kleider aus dunklen elastischen Stoffen. Die Kinder sind süß und wirken traurig.
Die Wohnung selbst ist renoviert, hell und sehr sauber. Ohne jede besondere Eigenschaft, wie üblich charakterfrei. Bei meinem Einzug: ein Bügel und auf dem Jeansstoff-Sofabezug einige verdächtige weißliche Flecken. Aber es gibt Wlan - 5 Gigabite - Luxus! Und, ein weiteres aber, jeder in diesem Theater ist hilfsbereit und freundlich.
Übrigens der Fernseher zeigt nur Programme, die hier terrestrisch zu empfangen sind, absurde Erinnerungen an das "Tal der Ahnungslosen", keine Privatsender, nur 3sat, arte, ZDF-Neo - ich weiß jetzt viel mehr über assyrische Könige und die Bedeutung der Entdeckung der schwarzen Materie für die Theorie des Multiversums.
Eine merkwürdige Stadt. In den letzten Kriegstagen zur "toten Stadt" gebombt, in der DDR-Zeit, unter dem propagandistischen Decknamen Karl-Marx-Stadt, pragmatisch lieblos wiederaufgebaut, findet man, überraschend, hier und da, wunderschöne Altbauten, manche aufgeputzt, andere, sich mit letzter Kraft an ihrer ehemaligen Schönheit festklammernd.
Chemnitz ist Sachsens Paris
Und gut, dass ich eine Schwäche für die breiten Varianten des Sächsischen habe, ich nenne sie die proletarischen, im maulfaulen Kontrast zum residenzbewußten, überartikulierten, konsonantenscharfen Dresdnerisch. In Dresden kriegte ich, weil ich irgendwann in einem DEFA-Film mitgespielt hatte, noch nach 1989 Bückware im Buchladen, in Leipzig schenkten mir die Techniker freundlich ein Wörterbuch des Sächsischen zur ersten Premiere. Sicher, Dresden war immer eine tolle Theaterstadt, aber soviel Neo-Barock lähmt nun mal meine Zuneigung.
Sächsisches Wörterbuch
Erstaunlich viele Theatererinnerungen verbinden sich mir dieser Stadt - Chemnitz - ein Workshop in den Achtzigern, Ulli Mühe in einer frühen Inszenierung von Castorf, ich glaube, es war der "Auftrag". Eine Courageinszenierung, in der im Prolog ein schwitzender Schauspieler vergeblich versuchte einen Falken und eine Taube, die ein Regieeinfall ihm in die Hände gezwungen hatte, unter Kontrolle zu bringen. Der Falke gierte, die Taube schiß in panischer Angst, der Brechttext bibberte dazwischen. Steins sagenhaftes Gastspiel mit den "Sommergästen" seiner Schaubühne 1978 habe ich verpaßt, Ende der 90er aber hier inszeniert, Hacks nach Offenbach, "Die Schöne Helena", eine gute Erinnerung, gefeiert wurde im "Shalom" einer jüdischen Kneipe mit koscherer Küche und wöchentlicher Klezmer-Disco, die es nicht mehr gibt. Warum wohl?
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http://www.bild.de/regional/chemnitz/chemnitz-politik-und-wirtschaft/nazi-attacken-shalom-wirt-zieht-weg-22964886.bild.html
Gerhard Meyer - Vater des Ensembles
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DER 5. MÄRZ 1945
Der abendliche Angriff dauerte 31 Minuten, zerstörte 80 Prozent der Innenstadt und nahm über 2.100 Menschen das Leben. "Ein grauenvoller Nachtangriff auf Chemnitz. Der Himmel blutrot von der brennenden Stadt. Unaufhörlich Einschläge", schrieb Irene Pornitz in ihr Tagebuch.
683 Flugzeugen der Typen Lancaster und Halifax der britischen Armee flogen den Angriff; zwischen 21.37 und 22.08 Uhr warfen sie zielgenau zunächst 413 Luftminen mit rund 800 t ab und dann 859 t Brandbomben und schließlich 1112 t Sprengbomben.
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DAS LUTHERVIERTEL VON CHEMNITZ laut Wiki
Namensgebend ist die Lutherkirche...
Entstanden im Zuge der gründerzeitlichen Stadterweiterung ist das Gebiet geprägt durch eine Karreestruktur mit mehrgeschossiger Blockrandbebauung aus der vorletzten Jahrhundertwende und den 1920er-Jahren sowie offeneren Strukturen, welche in den 1950er-Jahren im Zuge des Wiederaufbaus nach den starken Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges gebildet wurden.
Zwischen 1991 und 2001 verlor der Stadtteil 2968 Einwohner (ca. 35 %; Stadtdurchschnitt 17,6 %). Der Wohnungsleerstand beträgt fast 35 % (Stadtdurchschnitt: ca. 23 %).
Aufgrund seiner baulichen Strukturen, der guten verkehrlichen Infrastruktur und seiner innenstadtnahen Lage (ca. 10–20 Minuten Fußweg durch den Park der Opfer des Faschismus zur Innenstadt) erachtet die Stadt Chemnitz das Lutherviertel insgesamt als einen potentiell sehr attraktiven Wohnstandort. Es soll daher der Stadtteil durch verschiedene Projekte in den nächsten Jahren gefördert werden, unter anderem durch die Entlastung vom Durchgangsverkehr, den Bau eines Radweges vom Lutherviertel zum Campus der Technischen Universität an der Reichenhainer Straße und eine Verbesserung des Wohnumfeldes durch eine Vergrößerung der Grün- und Freiflächen.
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