Mittwoch, 3. Juli 2013

Kaspar Hauser - Ein solcher Reiter möcht ich sein...


Ich sitze gegen 22.00 Uhr an einem warmen mittsommerlichen Abend an einer brandenburgischen Dorfstrasse ein sehr angenehmes gemeinschaftliches Essen verdauend. Vor etwa einer Stunde haben alle Vögel abrupt beschlossen, schlafen zu fliegen, oder jedenfalls keinen Piep mehr von sich zu geben, es herrscht nahezu vollendete Stille, nur drei Katzen gehen geräuschlos ihren Geschäften nach, eine tanzt sogar lautlos, vielleicht spielt sie auch nur mit einer Mücke. Stille. Allein. Alleinsein kann wunderschön sein.
Aber nur im Wissen um die wiederherstellbare Anwesenheit anderer. Unfreiwillig allein zu sein, wahrhaft einsam, alleingelassen, und das auch noch länger als vorstellbar, ist eine wahrhaft erschreckende Vorstellung. Der Graf von Monte Christo, Robinson Crusoe... 
Mit 12 las ich durch Zufall "Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen" von Anselm Feuerbach - die badischen Intrigen ließen mich kalt, aber die Vorstellung von jahrelanger Isolation, von Dunkelheit und Enge, vom Hungern nach Außeneindrücken, hat mich so sehr beeindruckt, dass ich mich heute noch an das Gefühl von damals erinnern kann. Ich habe das Buch übrigens nicht gelesen, weil ich frühreif oder irgendwie sonderlich intelligent war, sondern weil ich glaubte, es sei eine Gruselgeschichte.

Nürnberg 1828, auf dem Markt steht ein Knabe und ruft: "He Bue!" und sagt: „A söchtener Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is“ („Ein solcher Reiter möchte ich werden, wie mein Vater gewesen ist“). 
Am 26. Mai 1828 fand man in Nürnberg einen jungen Mann, der – "in höchst auffallender Haltung des Körpers dastand und, einem Betrunkenen ähnlich, sich vorwärts zu bewegen mühte, ohne gehörig aufrecht stehen und seine Füße regieren zu können. ... Er schien zu hören, ohne zu verstehen, zu sehen, ohne etwas zu bemerken, sich mit den Füßen zu bewegen, ohne sie zum Gehen gebrauchen zu können. Seine Sprache waren meistens Tränen, Schmerzenslaute, unverständliche Töne ...." * 
War Kaspar Hauser, unschuldiges Opfer verbrecherischer dynastischer Machenschaften oder durchtriebener Betrüger, oder einfach jemand, der in eine Situation hineinstolperte, die von der Sensationsgier anderer immer mehr und mehr kompliziert wurde? So viele Bücher, so viele Varianten von Antworten. Aber als Matrize für Poesie war und ist er ganz wunderbar geeignet. Der einsame Mann über den man nichts wirklich Sicheres weiss, sollte Absprungspunkt vielfältiger Phantasien sein.
Der Knabe
 
Ich möchte einer werden so wie die,
die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren,
mit Fackeln, die gleich aufgegangenen Haaren
in ihres Jagens großem Winde wehn.
Vorn möcht ich stehen wie in einem Kahne,
groß und wie eine Fahne aufgerollt.
Dunkel, aber mit einem Helm von Gold,
der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht
zehn Männer aus derselben Dunkelheit
mit Helmen, die, wie meiner, unstät sind,
bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind.
Und einer steht bei mir und bläst uns Raum
mit der Trompete, welche blitzt und schreit,
und bläst uns eine schwarze Einsamkeit,
durch die wir rasen wie ein rascher Traum:
Die Häuser fallen hinter uns ins Knie,
die Gassen biegen sich uns schief entgegen,
die Plätze weichen aus: wir fassen sie,
und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.
 
Rainer Maria Rilke (1906) 
 
Aquarell - Kaspar Hauser - 22. April 1829
Kaspar Hauser Lied
Für Bessie Loos
 
Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.
 
Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!
 
Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend;
Die dunkle Klage seines Munds:
Ich will ein Reiter werden.
 
Ihm aber folgte Busch und Tier,
Haus und Dämmergarten weißer Menschen
Und sein Mörder suchte nach ihm.
 
Frühling und Sommer und schön der Herbst
Des Gerechten, sein leiser Schritt
An den dunklen Zimmern Träumender hin.
Nachts blieb er mit seinem Stern allein;
 
Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig
Und im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders.
 
Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.
Georg Trakl (1913) 
 
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/findelkind-kaspar-hauser-der-prinz-und-der-bettelknabe-11735165.html 

Der arme Kaspar

Ich geh - wohin?
Ich kam - woher?
Bin aussen und inn,
Bin voll und leer.
Geboren - wo?
Erkoren - wann?
Ich schlief im Stroh
Bei Weib und Mann.
Ich liebe dich,
Und liebst du mich?
Ich trübe dich,
Betrübst du mich?
Ich steh und fall,
Ich werde sein.
Ich bin ein All
Und bin allein.
Ich war. Ich bin.
Viel leicht. Viel schwer.
Ich geh - wohin?
Ich kam - woher?

Klabund

* Anselm Feuerbach
 

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