Dienstag, 11. September 2012

Rainer Maria Rilke - Lied - Egon Schiele



Die Finger, die Finger! Das Ohr. Und eine Augenbraue!
Die trennt die gefaltete Stirn vom Jünglingsgesicht.
Was wird hier gedacht?

LIED

Du, der ichs nicht sage, dass ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
- - - - -
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.
- - - - -
Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.

Rainer Maria Rilke

Egon Schiele, Selbstbildnis in oranger Jacke, 1913
Bleistift, Aquarell, Deckfarben, auf Japanpapier
Albertina, Wien

1 Kommentar:

  1. Schiele und Rilke. Vielleicht sind sie beide so gut, weil sie ihre Form gefunden haben, viel von sich preiszugeben, aber doch immer etwas offenzulassen, in das ein Anderer für Momente hineinschlüpfen darf.

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