Samstag, 6. November 2010

Warum Spielen

Thomas Brasch


WARUM SPIELEN

Um diese Frage überflüssig zu machen/um eine Gegenwelt herzustellen/um die Träume von Angst und Hoffnung vorzuführen einer Gesellschaft, die traumlos an ihrem Untergang arbeitet/ um die Toten nicht in Ruhe zu lassen/ um die lebendigen nicht in Ruhe zu lassen/ um Wurzeln zu schlagen/um Wurzeln auszureißen/um Geld zu verdienen/um ein Lebenszeichen zu geben/um einen Tod anzuzeigen/um eine Erfindung zu machen/um nicht arbeiten gehen zu müssen/um Arbeit zu haben/um den tiefen Schlaf einer erschöpften Gesellschaft mit Fratzen zu erschrecken/um nicht einzuschlafen/um nicht aufzuwachen/um das Vergessene zu töten/um nicht allein zu sein/um eine Zeremonie aufzuführen in einer Zeit ohne Zeremonien/um keine Verantwortung zu haben/um auszulöschen, was ICH genannt wird/um zusehen zu können/um den Pathos solcher Antworten zu entgehen/um die Rollen zu wechseln/um Lügen zu verbreiten/um vom Blick einer erfüllten Liebe gestreift zu werden und vom Blick der Wut/um den Kapitän wieder einmal endgültig am den Mast zu nageln/um einer Frau unter einem Vorwand und ohne Folgen an die Wäsche greifen zu können/um herauszufinden, wer das Kind erschossen hat, das schrie: Der Kaiser ist nackt/um zu schreien: der Kaiser ist ja nackt/um nicht reden zu müssen/um nicht schweigen zu dürfen/um die Regeln der Schwerkraft außer Kraft zu setzen/um aus der Welt ein Theater zu machen aus Stein, Holz, und Gittern/um drinnen und draußen zu sein zu gleicher Zeit/um einen Umweg zu finden/um Täter und Opfer zu sein zu gleicher Zeit/um Mann und Frau zu sein zu gleicher Zeit/um in diesem endlosen Vorkrieg nicht zu ersticken/um über einen Sterbenden lachen zu können/um die Geister zu bannen, vor den Türen und unter dem Tisch: Hilfe, ich lebe/um diese krachende Stille nicht aushalten zu müssen/um herauszufinden, wie lange einer ausgehalten wird von Leuten, die sich genauso wenig für ihn interessieren wie für sich selbst/um nicht angestellt zu sein/um vergessen zu werden/um die Frage überflüssig zu machen: Warum spielen/um zu spielen/

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