Samstag, 6. November 2010

Die Räuber


Der Bruch mit der Vaterwelt oder die Geschichte vom verlorenen Vater

»Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe
mehr und Blut und Tod soll mich
vegessen lehren, daß mir jemals etwas theuer war!« 
Karl Moor

»Die Natur gab mir nichts mit, wozu ich mich machen
will, das ist nun meine Sache.«
Franz Moor


Die Welt, wie sie sie kennen, ist nicht mehr. Die »natürliche« Ordnung ist zerbrochen. Herz und Verstand entzweit, der Zustand ist unerträglich. Beide Brüder sind unfähig das zu verdrängen, damit so irgendwie weiter zu leben. Ihre Qualität ist die Tiefe ihrer Empfindsamkeit für das Unrecht.
Zwei Versuche des Lebens außerhalb von und gegen diese Ordnung, Experimente mit der Freiheit
Der Vater, Hausvater, Landesvater, die patriarchalische Autorität, der Staat, auch Gott genannt ist ungerecht / behandelt ungleich und zwar in unserem Fall, das ist erstaunlicherweise der Hauptkritikpunkt am Vater, aus Schwäche.


Der eine Sohn fühlt, dass er nicht geliebt wird. Er muss also lieblos auf seine Umgebung zurückblicken. Er erkennt, dass das was hier als Moral gehandelt wird, nur die Verkleidung einer nackten Mechanik ist und beginnt sie zu entblößen Er will die Ordnung bezwingen und zwar mit ihren eigenen Mitteln, um sie ihrer Masken beraubt für sich selbst in Anspruch zu nehmen, sie zu beherrschen. Sein Emanzipationsbegehren geht soweit, dass er eher die Vernichtung in Kauf nimmt, als sich zu ergeben. Lieber Nichts sein, als sich unterordnen.


Der andere sehnt sich in existentieller Verletztheit in den Schoß der Ordnung zurück, das macht seinen verstörten Zorn umso größer; er will zerstören und versucht gleichzeitig in der Räubertruppe den ersehnten, ursprünglichen,«natürlichen« Ordnungs-Zustand wieder herzustellen, wird sozusagen der Vater der Bande. Er scheitert und ordnet sich letztendlich, unter Zurücklassung einiger Leichen, wieder ein, er ergibt sich. Stellt sich, also stellt sein Selbst zur Verfügung als Opfer durch das die verletzte Ordnung geheilt werden soll.


Die Größe des Vaters wäre die Herrschaft, die Größe der Söhne ist die Auflehnung. Franz tritt als aktiver Zerstörer der Ordnung auf; Karl ist lediglich ihr Opfer. Er bekämpft die Ordnung nicht, weil sie unmenschlich ist, sondern, weil sie nicht gut genug funktioniert. Sein Menschenhass, auch wenn er aus verletzter Menschlichkeit entsteht, ist keine revolutionäre Gesellschaftskritik. Er will durch gewalttätigen Protest die gestörte väterliche Ordnung wiederherstellen. (Michelsen)
Beide Experimente misslingen.


Irdische und überirdische Gerechtigkeit / Staat und Religion, oder nennen wir es für unsere Zwecke einfach gesellschaftliche Zwänge und menschliches Glück dieser unaushaltbare Widerspruch droht die Figuren zu überwältigen, sie suchen eine bewohnbare Insel für ihr teuer erkämpftes Selbst und werden ohne Land in Sicht ersaufen. Ihre ungeheuerliche Angestrengtheit erklärt sich aus der Größe und Gewalt des sie umgebenden Ozeans und der Kraft, die sie aufwenden müssen, sich über Wasser zu halten. Dem Ertrinken widerstehen zu müssen, auch seiner Lockung.


Der Tod, Todessehnsucht, Todesangst, Selbstmorde, Selbstmordversuche, Fluchtwünsche (Reaktion auf Angriff: Attacke oder Flucht Erich Fromm), kleine Fluchten, Nichterkennungen, Ohnmachten, Träume und so viele Leichen
»Du musst sterben.« Das Stück ist voll davon.


»Meinem Prinzipal dem Tod zugeschrieben« Zueignung über Schillers erster Gedicht-Anthologie;
Ernst Wendt »Die Räuber, ein Todestraum« Die Figuren sind in ein Totenhaus gesperrt, Gefängnis ihrer Obsessionen, Kerker ihres Haders mit Gott. Turm und Galgen - lebendig begraben sein und gerichtet werden, sind zentrale Motive des Dramas;
Selbstsuche, Seelensuche, man findet nichts und überträgt das eigene Seelenbild auf den andern, Hypnose, Verführungen. Es sind lauter Seelenkriege zwischen Menschen, die einander lieben könnten und dieser Sehnsucht nicht gewachsen sind, weil sie alle mit einer Ausschließlichkeit und Wollust auf sich selbst beharren, die es ihnen verbietet zu jenen Paaren sich zu ordnen, die zu sein sie träumen.(biblisch heißt wohl deshalb der Liebesakt »sich erkennen«)
Wie schwer es ist ein Ich zu sein, auf sich selbst vorzustoßen ohne die Hilfe einer höheren Autorität, eines Dogmas, immer bedroht durch den Zweifel an allem. Welche Anstrengung kostet es selbstverantwortlich zu denken.

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