Samstag, 21. Januar 2012

Für Ö. - Bei mir bist Du scheen - Bei mir bist Du schön

Bei Mir Bist Du Schoen ist der Titel eines Liedes, das 1932 von dem Komponisten Shalom Secunda und dem Texter Jacob Jacobs für ein jiddisches Musical, namens, Men ken lebn nor men lost nisht  oder Man könnte leben, aber sie lassen uns nicht, das 1933 (!) in einem großen Theater in Brooklyn, New York aufgeführt wurde, geschrieben worden war. In C-Dur verfasst, ist es ursprünglich ein Duett zweier Liebender.
 
Originale jiddische Version

Kh'vel dir zogn, dir glaykh tzu hern
Az du zolst mir libe derklern
Ven du redst mit di oygn
Volt ikh mit dir gefloygn vu du vilst
S'art mikh nit on
Ven du host a bisele seykhl
Un ven du vaytzt dayn kindershn shmeykhl
Vendu bist vild vi indianer
Bist afile a galitsianer
Zog ikh: dos art mikh nit.
Bay mir bistu sheyn,
Bay mir hos tu heyn,
Bay mir bistu eyner oyf der velt.
Bay mir bistu git,
Bay mir hostu "it",
Bay mir bistu tayerer fun gelt.
Fil sheyne meydlekh hobn gevolt nemen mikh,
Un fun zay ale oys-geklibn hob ikh nor dikh.

Vier Jahre später erwarben Sammy Cahn und Saul Chaplin (nicht verwandt) die Rechte. Secunda und Jacobs verkauften, für 30 Dollar! Die neuen Besitzer wechselten den Rhythmus des Liedes zum Swing und schrieben einen neuen Text, der sich nur in ungefähr an das jiddische Original anlehnte. Es wurde 1937 der erste große Hit der bis dahin unbekannten Andrew Sisters und zählt heute ungefähr 50 Cover-Versionen. In Zahlen etwa 3.000.000 Dollar, von denen Secunda und Jacobs, bis 1961 das Copyright an sie zurückfiel, nichts abbekamen.

Umgeschriebene Variante für die Andrew Sisters.

Of all the boys I've known, and I've known some
Until I first met you I was lonesome
And when you came in sight, dear, my heart grew light
And this old world seemed new to me

You're really swell, I have to admit, you
Deserve expressions that really fit you
And so I've wracked my brain, hoping to explain
All the things that you do to me

Bei mir bist du schoen, please let me explain
Bei mir bist du schoen means you're grand
Bei mir bist du schoen, again I'll explain
It means you're the fairest in the land

I could say bella, bella, even say wunderbar
Each language only helps me tell you how grand you are
I've tried to explain, bei mir bist du schoen
So kiss me, and say you understand

Bei mir bist du schoen
You've heard it all before, but let me try to explain
Bei mir bist du schoen means that you're grand
Bei mir bist du schoen
Is such an old refrain, and yet I should explain
It means I am begging for your hand

I could say bella, bella, even say wunderbar
Each language only helps me tell you how grand you are

I could say bella, bella, even say wunderbar
Each language only helps be tell you how grand you are
I've tried to explain, bei mir bist du schoen
So kiss me, and say that you will understand

 
Verrückterweise war das Lied ein großer Erfolg in Nazi-Deutschland, bis seine jüdischen Wurzeln bekannt wurden und es prompt verboten wurde.
Die Russen haben eine antifaschistische Version unter dem Titel: "Baron Fon Der Pshik" veröffentlicht.




e.e. cummings love is more thicker



love is more thicker than forget

love is more thicker than forget
more thinner than recall
more seldom than a wave is wet
more frequent than to fail
 
it is most mad and moonly
and less it shall unbe
than all the sea which only
is deeper than the sea
 
love is less always than to win
less never than alive
less bigger than the least begin
less littler than forgive
 
it is most sane and sunly
and more it cannot die
than all the sky which only
is higher than the sky
 
 e.e. cummings: nackt tanzend auf der bühne, 25.2.1945 - öl auf karton

ich wünschte, ich könnte wirklich reimen, 
da ich es nicht gut genug kann, 
folgt eine wort-für-wort-übersetzung.

 
liebe ist mehr dicker als vergessen

liebe ist mehr dicker als vergessen
mehr dünner als erinnern
mehr selten als eine welle nass ist
mehr häufig als zu versagen

sie ist höchst verrückt und mondlich
und weniger soll sie unsein
als all das meer das nur
tiefer als das meer ist

liebe ist weniger immer als zu gewinnen
weniger niemals als lebendig
weniger größer als das kleinste beginnen
weniger kleiner als vergeben

sie ist höchst gescheit und sonniglich
und mehr sie kann nicht sterben
als all der himmel der nur
höher als der himmel ist

1938/39 from complete poems 1904-1962

Freitag, 20. Januar 2012

Noch mehr zum S

Das phönizische shin

Das etruskische s

 
Das griechische Sigma


S S S S S S S S S S S S
S S S S S S S S S S S S

E
Eine Initiale oder ein Initial von lateinisch initium „Anfang, Beginn“; Plural : die Initiale → die Initialen oder das Initial → die Initiale) ist ein schmückender Anfangsbuchstabe, der im Werksatz als erster Buchstabe von Kapiteln oder Abschnitten verwendet wird. (Wiki)

 
Illuminated initial S  from, Josephus Antiquitates iudaicae XV-XX Christ Church, 
Canterbury, 12th century

 
Illuminated initial S, incorporating an amphisbaena, at the opening of Psalm 68. 
From the Saint-Bertin Psalter French Flanders or Southern England, c. 1175

 
Initial letter S from late 15th century printed book

H. G. Cutter and L. W. Yaggy, Panorama of Nations Chicago: J. V. F. Company, 1892, 216

 Wark's Modern Educator New York: Henry Wark, 1904, 31
Charles Scribner's Sons Scribner's Magazine New York: 
Charles Scribner's Sons, 1901, XXIX:19


Ein Quiz mit s, also ein Quiss


Die s- Laute - Maus 

Genü____lich in de___ Garten___ Gra___
sa___ eine Mau____, die fra___ und a___.
Sie war schon alt, so etwa drei____ig,
doch trotzdem spei____te sie noch flei____ig
um jeden Prei___ den gelben Mai___
und manchmal auch ein bi____chen Rei___.

Sie lebte so in Sau___ und Brau___,
in einem alten Fachwerkhau___
ganz fürstlich hoch im Dachgescho____.
Sie fühlte sich fa___t wie im Schlo____.

Jedoch nach einem Regengu____
da hatte sie gro___en Verdru____.
Da___ grüne Gra___,
da____ war sehr na____,
und auch tief in der Erde Scho____,
im grünen Moo____
war gar nicht____ lo_____.

Da wurde sie vor Ha____ ganz bla____.
Sie schrie und zog die Stirne krau_____
Und brüllte laut : „Ich will hier rau____ !“
Die___ rie____ige Gefängni____
wird noch mal mein Verhängni_____.

Ich la____ mich nicht verdrie____en.
Ich möchte noch genie____en.
In ein´gen Jahren, nun, wer wei_____,
bin ich vielleicht ein lahmer Grei____.

Sie füllte schnell noch etwas Mu____
in eine kleine Schü____el.
Und einen zarten Hefeklo____,
den nahm sie in den Rü____el.

Mit die__er Wohnung war jetzt Schlu_____.
Ganz fe___t schritt sie mit flinkem Fu____
zu einem riesengro____en Flu____.
Und sprach zu sich: Wa___ mu____, da___ mu____.

Dort lieh sie sich ein kleines Flo____,
da____ au____ah wie ´ne Ta____e.
Es war zwar nicht besonder____ gro____,
es fehlte ihm an Ma_____e.
Doch sie fand´s richtig kla____e.

Al____ sie so fuhr auf dem Gewä____er,
da ging e___ ihr erheblich be____er.
Sie fa____te den Entschlu_____, den wei___en,
so ewig durch die Welt zu rei____en.

Günther Würdemann

 

Donnerstag, 19. Januar 2012

ernst jandl - fortschreitende Räude

fortschreitende räude

 


him hanfang war das wort hund das wort war bei
gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch
geworden hund hat hunter huns gewohnt


him hanflang war das wort hund das wort war blei
flott hund flott war das wort hund das wort hist fleisch
gewlorden hund hat hunter huns gewlohnt


schim schanflang war das wort schund das wort war blei
flott schund flott war das wort schund das wort schist
fleisch gewlorden schund schat schunter schuns gewlohnt


schim schanschlang schar das wort schlund schasch wort
schar schlei schlott schund flott war das wort schund
schasch fort schist schleisch schleschlorden schund
schat schlunter schluns scheschlohnt


s-----------------------c--------------------h
s-----------------------c--------------------h
schllls-----------------c--------------------h
flottsch 

 

ernst jandl




s oder ss oder ß, verflixte Scheiße oder Scheisse, sicher nicht Scheise




Ein weich, also stimmhaft gesprochenes s schreibt man mit einem s.

Wie in: Reise, leise, Meise

Ein hart, also stimmloses, scharf gesprochenes s wird manchmal mit einfachem s, manchmal mit doppeltem ss und manchmal mit ß geschrieben.

Das ist doch eine wunderbare, einfache Regel, oder? Denn diese Regel hat viele Unterregeln!

1. Nur s:
wenn das s bei der Verlängerung des Wortes weich gesprochen wird: 
wie in Gras -Gräser , Glas - Gläser, Eis - eisig.

wenn das s auf einen Konsonanten folgt:
wie bei Dachs, Wachs, Hals.

wenn das s vor einem Mitlaut steht:
zum Beispiel in Post, Rost, Kost.

ABER auch, und jetzt folgen die Ausnahmen:

der Schuh passt, das Seil reißt, lasst mich in Ruhe usw., weil passt kommt von passen, reißt von reißen und lasst von lassen.

Und das soll Sinn machen? Wieso reißen, aber passen? Hä? Ach ja, Diphtong und ß, kurzer Vokal und ss. Das merke ich mir nie!  

Und, natürlich (hahaha), nur s, in den Endsilben -nis, -mus, -as:
Unverständnis,  Geheimnis, Kommunismus, Atlas

2. ein ss:

folgt nach kurzen Vokalen:
Kuss, Fluss, Schuss,

und bei der Vorsilbe Miss-:
Missverständnis, Missernte, Misswahl (letzteres ist ein Spaß!)
Spaß mit ß, weil nach einem langen Vokal nie ein ss stehen darf! Dies ist ein Befehl! Denn:

3. ein ß:
Folgt immer auf lange Vokale und Diphtonge (sowas wie ei, eu, au)!
Wie z.B. bei Maßnahme, Fleiß, Scheiß, und eben dem Spaß und auch dem Maß und der Maßnahme, obwohl da ein Konsonant folgt. Ich werde wahnsinnig! Aber der Vokal ist lang, sicher.

Bei das und dass richtet sich die Schreibweise nach der Funktion des Wortes im Satz. 

Einfache Regel meiner Freundin Ö.: immer dass, wenn man das das nicht durch welches, jenes oder dieses ersetzen kann.

Der Duden sagt:

»das« oder »dass«?

Mit nur einem s schreibt man das rückbezügliche Fürwort (Relativpronomen) »das«: 
Er betrachtete das Bild, das an der Wand hing. (Klar, welches and der Wand hing!)
Ebenfalls mit nur einem s schreibt man das Demonstrativpronomen »das«: 
Das habe ich nicht gewollt. (Dieses habe ich nicht gewollt, verstanden?)
Schließlich wird auch der sächliche Artikel mit nur einem s geschrieben: 
Sie hoffte, das Krankenhaus bald verlassen zu können. (Dieses Krankenhaus!)
In allen anderen Fällen handelt es sich um die mit zwei s zu schreibende Konjunktion (Bindewort) »dass«: 
Ich weiß, dass es schon ziemlich spät ist. 
Dass es schon ziemlich spät ist, weiß ich. 
Die Konjunktion »dass« verbindet Nebensätze meist mit Hauptsätzen, in denen Verben wie »behaupten, bestätigen, denken, glauben, hoffen, meinen, sagen, versprechen, wissen« usw. vorkommen. Sie kann nicht durch »dieses« oder »welches« ersetzt werden. 
Ein Vers von Verserl Paul zum scharfen ß

Das "scharfe ß"

Ab 1.8.05 trat die neue Rechtschreibreform nun in Kraft,
und mancher glaubt, dass er das nicht schafft.
Einige Änderungen sind ja noch in Sicht
was man getrennt und was zusammenschreibt, das weiß man noch nicht.
Damit Sie die bis jetzt bekannten Regeln bald lieben,
habe ich das Wichtigste in Sachen "scharfes ß" für Sie zusammen geschrieben.
Ich sehe, Sie gieren förmlich schon nach der "scharfen-ß-Lektion".
Nach kurzem Vokal muß sich das "ß" schleichen

und in Zukunft dann dem Doppel-S ("ss") weichen.
So wird z.B. aus jedem "daß" ein "dass",
und wen es anregnet, der wird "nass".
Wenn etwas aus ist, ist halt "Schluss",
und zum Abschied gibt´s einen "Kuss".

Zur Wiederholung noch einmal,
aus "ß" wird "ss" , aber nur nach kurzem Vokal!
Ist der Vokal vor dem "ß" nämlich lang,
dann ist dem Schreibenden gar nicht bang.
Denn in diesem Fall, damit Ihr es alle wisst,
bleibt alles so, wie es bisher ist.
So bleibt z.B. beim Tausch der Ringe,
der Blumenstrauß das Maß der Dinge.

Zum Abschied schicke ich an die Leser einen herzlichen Gruß
Beim "scharfen ß" erwischt man Sie nicht mehr so leicht auf dem falschen Fuß!
Wiki zum ß:
Die Geschichte des Buchstaben ß:

Mittwoch, 18. Januar 2012

Der Sohn von Baladine Klossowska - Balthus - Judith Kuckart


Baladine Klossowska oder eigentlich Elisabeth Dorothea Spiro, griechisch/polnischer Abstammung, war die "letzte" Geliebte Rilkes.  Ihr Sohn, von ihrem Ehemann Erich Klossowski, war Maler, er nannte sich Balthus.


I refuse to confide and don't like it when people write about art. 
Ich verweigere mich der Beichte und mag es nicht, wenn Leute über Kunst schreiben.

                                                     Die Katze am Mittelmeer 1949

Anläßlich einer Ausstellung seiner Werke in der Tate Gallerie in London, schickte Balthus folgendes Telegramm: NO BIOGRAPHICAL DETAILS. BEGIN: BALTHUS IS A PAINTER OF WHOM NOTHING IS KNOWN. NOW LET US LOOK AT THE PICTURES. REGARDS. B. 
Keine biographischen Details. Beginn: Balthus ist ein Maler über den nichts bekannt ist. Jetzt laßt uns die Bilder anschauen. Grüße. B.

Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung, 30. 4. 2011 




Der Habichtmann
 
Von Judith Kuckart


Es ist Anfang Dezember 1983. Ein Mann, so scharf im Profil wie ein alter Habicht, wird von Jack Lang und Madame Mitterrand durch das Centre Pompidou geführt. Aussen an der Fassade hängt übergross der Ausschnitt eines seiner Bilder, «Le Passage du Commerce-Saint-André», eine poetische Strassenszene, die den modernen Röhrenbau Pompidou, der sie trägt, seiner geheimnislosen Funktionalität entkleidet. 
Der Habichtmann wird während seines Rundgangs immer wieder von Menschen bedrängt, die ihn unter Küssen fragen, ob er sie auf den hervorgekramten Jugendfotos erkenne. Ein japanisches Mädchen weicht nicht von seiner Seite und fasst immer wieder seine Hand. Zu dem Kind gehört eine Mutter, und die Mutter gehört offensichtlich zu dem Habichtmann. Sie muss seine zweite Frau sein, die er 1962 auf einer Reise nach Japan, die er im Auftrag von André Malraux unternahm, kennengelernt hat. Madame Setsuko Ideta heisst die Frau, das Mädchen heisst Harumi, der Habichtmann ist Graf Balthasar Klossowski de Rola, der Maler Balthus, dessen Bildern das Centre Pompidou in jenem Dezember damals eine erste grosse Schau widmete. Im Jahr darauf wird diese Schau im Metropolitan Museum in New York zu sehen gewesen sein. Aber wer sind all diese vielen betagten, auffällig gepflegten Männer um Balthus herum? Wer sind die angestrengt lächelnden, verwelkten Damen, die nach Puder, Chanel Nr. 5 und ganz leicht nach dunklem, geöltem Parkett riechen und die an ihren Ketten spielen, als seien diese aus Elfenbein und als hätten ihre Familien früher einmal Sklaven und halb Afrika dazu besessen?
Balthus! Sogar ein Krawattenknoten ist nach ihm benannt, vielleicht weil er von Haus aus ein Adeliger sein soll. Graf Balthasar Klossowski de Rola ist polnischer Herkunft. Den Künstlernamen Balthus hat ihm sein Patenonkel Rilke verpasst, der ein Verhältnis mit der Mutter des kleinen Balthasar hatte. Als Balthus noch keine zwanzig ist, rät der Maler Bonnard dem ziemlich müssig vor sich hin lebenden jungen Mann, die Gemälde von Poussin im Louvre zu kopieren, was er denn auch tut. Bald darauf - Balthus scheint noch immer keinen ordentlichen Beruf zu haben - kopiert er weiter in Italien die Fresken und Tafelbilder von Piero della Francesca, um endlich, ein Jahr später, in Paris, damit anzufangen, eigene Bilder zu malen. Aber erst viele Jahrzehnte später wird unter der sozialistischen Kulturpolitik von Jack Lang diese erste Balthus-Werkschau im Centre Pompidou möglich sein. In Frankreich ist man verzweifelt auf der Suche nach dem Maler des 20. Jahrhunderts.
Am Tag der Vernissage war ich noch jung, und von Balthus hatte ich noch nie etwas gehört. Ein Herr um die vierzig nahm mich zur Ausstellungseröffnung mit. Im Gedränge, in dem alle Anwesenden so gut rochen, blieb ich im Jahr 1983 vor einem Bild stehen, das im Jahr 1954 gemalt worden war. Ein Mädchen namens Thérèse räkelte sich in Öl auf ihrer Leinwand, ein Bein angezogen, das andere berührte seitlich den Boden. Sie ist bei der Sitzung vielleicht dreizehn gewesen, der, der sie malte, aber sechsundvierzig. 
Balthus eben. Thérèse hält das Gesicht mit geschlossenen Augen seitlich zur Sonne. Zu ihren Füssen frisst eine Katze, die zu grinsen scheint. Die Sonne auf Thérèses erhitztem Gesicht und der Wechsel von Licht und Schatten zwischen ihren Beinen lassen ahnen, dass nicht eigentlich dieses Mädchen träumt, sondern der Maler. Wahrscheinlich von Dingen, die nur ihn etwas angehen. Unheimlich ist mir das nicht, dafür ist es zu deutlich. Es ist vielleicht obszön, vielleicht auch nur obszön kitschig. Auf jeden Fall mag ich auf den ersten Blick diese Thérèse auf dem Bild lieber als den Maler Balthus.
Während bei jener Vernissage im Centre Pompidou einige der gepflegten älteren Herren hinter einem Vorhang verschwinden, um als Auserkorene aus dem Tross Balthus' einen Blick auf sein skandalösestes Bild, «Die Gitarrenstunde», zu werfen, auf dem eine Frau ein Mädchen verführt oder ihm Gewalt antut - (Küsse, Bisse, wer mag das schon immer gut unterscheiden?) -, finde ich meinen Weg in die «Passage du Commerce-Saint-André».
Eine Strassenansicht, die Provinzluft atmet - jetzt sehe ich das ganze Bild von der «Passage du Commerce-Saint-André», von dem ein Auszug an der Aussenfassade des Centre Pompidou hängt. Diese Strasse in ihrer sanften Breite und abgeschnittenen Tiefe verspricht ein Abenteuer im Alltag gleich um die Ecke. Obwohl man ahnt, hier wird nichts Spektakuläres geschehen, geschieht doch ein Wunder. Die Hauptperson in der Strassenszene ist das Licht, und das Licht ist hier die Zeit, die sich denkt. Am deutlichsten denkt sich die Zeit am Ende der Strasse, wo eine Frau mit Stock und hellstem Rückenwind quer zu den anderen Passanten getrieben wird. Acht Menschen halten auf der «Passage du Commerce-Saint-André» inne, und ihre letzte Bewegung ist noch da in der Spanne zwischen ihrem eingefrorenen Moment und dem Berührungsblick des Malers. Sie sind erwischt worden, als sie nichts Besonderes taten. Oder doch? Sie verweigern sich in ihren kleinen Gesten der Zeit, die sie alle mitnehmen will, denn trotz ablesbarer Betriebsamkeit bleibt die Zeit im Licht stehen. Das ist fast unheimlich. Für mich werden in dem Moment die Gedanken der abgebildeten Personen laut, werden zu einer gemeinsamen Erzählung, die vom Leben und Sterben in der «Passage du Commerce-Saint-André» handelt.
Ich spekuliere einfach: Links vorn, der Mensch ohne Haare, im Hauseingang und mit der Decke vor dem Leib, denkt: Weit näher vorbei, während das kokette Mädchen, das eben noch ein Kind war, zu dem anderen Kind im Fenster sagt: Denk dran. Mondfinsternis heute, einmalig, in hundert Jahren lebe ich nämlich nicht mehr. Das dritte Kind, das auf dem Bordstein sitzend an die rechte Wade des Mädchens gelehnt zu sein scheint, bringt seiner Puppe eine Lebensregel bei: Bleib einfach ruhig sitzen, dann werfen die Vögel einen Schatten auf dein Gesicht. Der Alte genau gegenüber, der knapp über der Gosse hockt, grübelt über seine Wohnverhältnisse nach. Alleinsein schadet der Gesundheit, sagt er sich, während jenes Mädchen, das mit niedergeschlagenen Lidern ganz vorn im Bild den Betrachter blind beschaut, ziemlich laut sinniert: Nachdenken mit Sonne ist besser als Nachdenken ohne Sonne. Der Rücken des Mannes, der sein Baguette davonträgt, sagt: Ah, all diese Flirterei, manchmal bleibt einem das Herz stehen, dann geht man weiter, und die alte Frau, die in nahender Unendlichkeit seinen Weg kreuzen wird, spürt es bereits in den Knochen: Jetzt werden die Tage wieder kürzer. Aber der kleine weisse Hund? Wem gehört eigentlich der? Der alten Frau, weil er in ihre Richtung läuft? Oder allen, weil er keine Leine trägt?
Das Personal in der «Passage du Commerce-Saint-André», festgehalten in irgendeinem Moment des Jahres 1952, erzählt, solange die Strasse dauert und Licht in sie fällt. Ich kann nicht hören, ob irgendwer etwas sagt über die geschlossenen Läden. Ob man sich Sorgen machen muss, dass diese Strasse verschwindet?
Was mir am besten gefällt an dem Bild? Die Räume zwischen den Figuren bleiben, wenn auch beseelt, durchlässig für einen weiteren Gast, der noch draussen vor dem Bild steht, so wie ich damals bei der Vernissage im Jahr 1983, und der ab jetzt sich entscheiden kann. Er kann schön gehen oder schön dableiben.

Judith Kuckart ist eine deutsche Tänzerin, Choreographin, Regisseurin und Schriftstellerin.
 

Dienstag, 17. Januar 2012

Rainer Maria Rilke - Weil ich gerade so froh bin



Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn -;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, -
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest..... (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältre einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere -) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst
dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt
das Meteor und rast in seine Räume...

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, 31. Januar 1922) 

 Baladine Klossowska Rilke ruhend (mit roten Schuhen)

Premiere in Heilbronn und Museum in München und Theater in Ingolstadt


Ein Wochenende.
Am Samstag Premiere in Heilbronn und 5 Schauspieler fliegen. Ich freue mich wie ein Zaunkönig, wenn sich ein Zaunkönig sehr, sehr freuen könnte. Es ist ein merkwürdiges, kompliziertes, poetisches, böses, trauriges Stück, und das überwiegend doch eher konservative, Publikum fliegt mit. Selten! Herrlich! Und, weil es halt da unten im Süden ist, kommen auch Bekannte und Freunde zur Premiere, in den höheren Norden kann man leider selten jemanden verführen. Ein guter, schöner, glücklicher Abend.
Am Sonntag nach München ins Stadtmuseum. Ein alter Freund hat hier eine kleine Ausstellung: Peter Schumann, Deutscher und Puppenspieler und Humanist, gründete 1974 mit seiner Frau Elka in New York City das "Bread and Puppet Theater". Mittlerweile haben sie ihr Quartier in Vermont, mit einer riesigen Scheune mit tausenden Puppen und einem selbstgebauten Theater mit einem Fußboden aus Erde, und jeder Zentimeter der Wände und der Decke ist mit phantastischsten Gesichtern und Ornamenten bedeckt und oben in einem kleinen Haus wohnen diese zwei Puppenspieler und Menschenliebhaber und backen dort auch das Brot, das einen Teil des Namens ihres Theaters bildet. Tolle Leute!

 
Das Münchener Stadtmuseum hat im dritten Stock auch noch eine ganz altmodische, schlecht beleuchtete, leicht verstaubte, aber nichtsdestotrotz beeindruckende Sammlung von Marionetten, Stab- und Handpuppen, Papiertheatern, Karusseltieren, Jahrmarktsrelikten der letzten drei Jahrhunderte.
Dann nach Ingolstadt, dienstlich, und Sonntagabends eine Dramatisierung von Marie-Luise Fleißers Roman "Eine Zierde des Vereins - Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen", für die Bühne bearbeitet von Christoph Nußbaumeder (2 Namen mit ß, daß ist rar!), inszeniert von Donald Berkenhoff. Ein guter, klarer Abend, ohne Fisematenten, wie man früher sagte. Deutlich, ohne zu nerven. Spielerisch, ohne in Eitelkeiten abzudriften.
Heute, am Montag, morgens, um 10.30 Uhr! noch "Amphitryon", kurz vor der Theaterüberdosis, 500 Schüler sehen und hören Kleist und benehmen sich wie menschliche Wesen und hören zu! Ich habe das Stück selbst schon zweimal selber inszeniert, und da sehe ich immer mehrere Bilder übereinander gleichzeitig.
Jetzt wieder mal Berlin, für zwei Wochen nur, aber immerhin!

Das Plakat zum "Goldenen Drachen"



Samstag, 14. Januar 2012

Theater hat auch eine Premiere

Der Premierentag. Vorher. Jetzt. 
Ich habe mir, als ich noch selber spielte, drei, vier Mal die Haare gewaschen. Mechanisiertes Selbstberuhigen durch Kopfstreicheln? Andere kaufen alberne Premierengeschenke, einige machen sauber, andere wieder tuen angestrengt so, als wäre nix. 
Limbo. Zwischenland.

Am Tag zuvor, am Ende der Generalprobe, wurde die Applausordnung geprobt. Ein gänzlich surrealer Vorgang, niemand klatscht, alle sind erschöpft und albern. Man organisiert etwas, das vielleicht, ohmeingott, ohmeingott, gar nicht gebraucht wird!

DIE ERSTE. Das erste Mal. Genauso, wie in den Proben und doch ganz anders. Ganz anders. Denn das, was bisher intim war, zwischen den Schauspielern und mir, wird veröffentlicht, den Wölfen zum Fraß vorgeworfen im schlimmen Fall, in Wirklichkeit aber seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt, die da ist, "geschaut" zu werden. 
Schauen, was mehr ist als bloßes Zugucken, bedeutet es doch auch wahrnehmen, intuitiv erfassen. Der Duden sagt: schauen: von mittelhochdeutsch schouwen, althochdeutsch scouwōn = sehen, betrachten, eigentlich = auf etwas achten, aufpassen; bemerken.

Deshalb sollten die Zuschauer Schauer heißen. Aber manchmal sind sie Aufpasser. Und manchmal Kunden. Das ist nicht schön.
Brecht hat ein merkwürdiges, schönes Wort für den Idealzustand des Zuschauers: splendid isolation. Großartig allein.

 Dieses Bild des Photographen Jack Bradley  zeigt den exakten Moment, als ein Junge, Harold Whittles, zum allerersten Mal hört. Der Doktor, hat ihm ein Hörgerät eingesetzt. Datum unbekannt.

Idealerweise ist der Saal voll, die Honoratioren der jeweiligen Stadt, irgendeine Zahl zwischen einhundert und einem Kritiker, Familie, Freunde, in einem Wort: Premierenpublikum strömt herein (Unsterbliches Zitat meiner Lieblingsdiva: "Sie strömen, und wenn's nur einer wäre.") und das Kind wird vorgestellt. Ist es wirklich so einmalig schön, wie es die Mutter- oder Vateraugen sehen? Wird es im entscheidenden Moment strahlen oder in die Windeln kacken? So wie meine Mutter vor vielen, vielen Jahren ihr neues, blondes, gebadetes Baby dem neugierigen Besuch vorstellen wollte, um ihnen den Anblick eines zwar zahnlos lächelnden, aber über und über mit Möhrenkacke bedeckten Kleinkindes zu bieten.

Die Spieler zittern, kotzen, schweigen, schwitzen oder oder oder. Und zumindest in Deutschland, spucken sie sich gegenseitig dreimal über die linke Schulter, dem Teufel mitten ins Auge. Bei meiner ersten kanadischen Premiere habe ich Schauspielstudenten wahnsinnig erschreckt, als ich ihnen, die überrascht wegzuckten, dreimal vor die Füße spuckte. Dort sagt man nämlich nur "Break a leg" und in Frankreich "merde". Man lernt nie aus.

Das dritte Klingeln. Der Einruf des Inspizienten. Im Saal, das Reden der Leute, wie Meeresrauschen. Stille. Es geht los.

"Dabei bin ich gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen, und bitte den lieben Gott um einen einfältigen Buchhändler und ein groß Publikum mit so wenig Geschmack, als möglich."

Georg Büchner, Brief an Wilhelm Büchner, 2. 9. 1836