Montag, 16. Oktober 2023

Es ist Krieg und ich gehe ins Kino und in die Oper

Vor wenigen Tagen hat Israel der Hamas, nach einem schweren Angriff auf seine Bürger, den Krieg erklärt. Grauenhaft, bedrohlich. Wer ist schuldig? Ich wünschte es gäbe eine einzige richtige Antwort. Das schlechte Gewissen Europas ermöglichte die Gründung des Staates der Juden, die nach der Verwüstung des Holocausts, jedes Recht hatten, einen sicheren Ort zu suchen. Die Palästinenser bezahlten eine Schuld, die sie nicht zu verantworten hatten und einige, nicht wenige wurden durch erfahrenes Leid, aber auch religiösen, nationalistischen rückwärtsgewandten Starrsinn und die Korruptheit ihrer Anführer zu Terroristen. Gibt es eine Lösung? Wenn ja, kenne ich sie nicht. Der Iran jubiliert. Das Regime, das Frauen hasst und Abweichler und wer weiß wen noch. Israel ist ein demokratischer Staat, der von einem korrupten Mann regiert wird und es hat verzweifelt versucht, sich gegen ihn zu wehren. Jetzt müssen alle Israelis notwendigerweise zusammenstehen. Und nun? Ich wünsche die Sicherheit aller Juden überall. Aber ich wünsche auch, dass die Palästinenser würdig leben dürfen. Ich wünsche mir einander ausschließende Dinge, kann nichts tun und gehe Kunst gucken.

DOGMAN von Luc Besson im Babylon Kreuzberg, dass nicht zu verwechseln ist mit dem anderen Kino Babylon, wie eine unglückliche junge Frau feststellen musste. Luc Besson - Im Rausch der Tiefe, Nikita, Leon der Profi, Das Fünfte Element und dann der gänzlich grässliche Valerian. Ich wusste also nicht, was mich erwartete. Die Freundin, mit der ich im Kino war, hat es auf den Punkt gebracht: krasser Scheiß! Caleb Landry Jones ist ein schauspielerisches Ereignis. Ehrlich gesagt, ist mir auch egal, ob der Film gut oder nur halbgut ist. Da hat einer was gewagt. Einen großer Wurf. Und da ist Geschmack nur eine, nicht die wichtigste Kategorie. Überzeugung, Konsequenz und Mut sind Kategorien, die in der Kunst, gerade jetzt, wichtig, manchmal entscheidend sind. Krasser Scheiß!

Hauptprobe zum Intendanten Vorsprechen Hochschule Ernst-Busch in Berlin. Fünf und eine halbe Stunde lang, aber ein Vergnügen. So viel Energie, Hoffnung und Talent.

Anselm Kiefer beschrieben von Wim Wenders. 20 Prozent des Films besteht aus nachgestellten Szenen aus Kiefers Leben, Kiefer als Kind (Wenders Enkel?). Kiefer als junger Mann (Kiefers Sohn oder Enkel?). Das ist Kitsch, und zu vernachlässigen. Merkwürdig, dass Humorlosigkeit und Kitsch einander so oft anverwandt sind. Aber die anderen 80 Prozent sieht man Anselm Kiefer bei der Arbeit zu und das ist eine große Freude. Ein Besessener muss arbeiten, will arbeiten, will hart arbeiten. Baut eine Stadt aus leeren schiefen Türmen bewohnt von Frauenkleidern belastet von Büchern, Stacheldraht, Gewucher, Globen. Er redet wenig, bedacht, genau. Die westdeutsche Kunstkritik hat es ihm erstmal sehr übel genommen, dass er sie nicht in Ruhe ließ mit dem verdammten Faschismus-Thema, ihn als Neo-Nazi abgestempelt und erst sein Erfolg in der USA hat sie gezwungen doch hinzuschauen. Und er sieht auch noch verflixt gut aus, weil er so viel arbeitet und es liebt. Sexy mit 78, das will ich auch. Ich hoffe, ich bekomme die Chance eine große Kiefer-Retrospektive zu sehen, irgendwo, irgendwann. Erinnerung. Vor Jahren im Hamburger Bahnhof mein erster Kiefer, haptisch, grobe Struktur und ein paar Kinderkleider. Es schlug mir in den Magen. 

Und zum letzten Akt meines überfüllten Kulturwochenendes: Parsival in Hannover. "Immer wenn ich Wagner höre, habe ich das Gefühl, ich muß in Polen einmarschieren." sagt Woody Allen, und ich stimme ihm, nach diesem 5 1/2 stündigem Opernelebnis aus vollem Herzen zu. Nach einem interessanten ersten Aufzug, zusammengeschweißt von einem tollen Bühnenbild, haben die Sänger, den Rest der vielen Stunden nur noch herumgestanden, sich mal hingesetzt, um dann aufzustehen, langsam irgendwo anders hinzugehen, um sich dann wieder hinzusetzen. Ich kann mir nicht erklären, warum man so ein Frauenbild zwischen wildem Weib und inzestiöser Mutterliebe, Hure und Mami und diese bibbernde Verherrlichung von Retterphantasien durch den "Reinen Toren", heute noch so unwidersprochen auf die Bühne bringen kann. Wenn im ersten Aufzug noch Andeutungen von Klimanot und Verfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu erahnen waren, verfällt das Ding danach zusehends in kammerspielartiges Psycho - Geraune. Die Qualität der Musik war sicher hoch, davon verstehe ich nicht genug, komme halt vom Schauspiel. Beim Essen in der Pause, schlug meine Dramaturgen-Freundin vor, man könnte doch wenigstens Striche machen, woraufhin ein sehr liebenswürdiger Herr, der an unserem Tisch saß, sagte: "Sicher könnte man, aber dann werden sie gelyncht." "Erlösung für den Erlöser", was für ein protofaschistisches, frauenverachtendes, pseudochristliches Geschwurbel. Man sollte mal den Text ohne Musik aufführen, so ganz nackt, das wäre mir ein Fest, und bitte mit den Regieanweisungen! Zur gleichen Zeit hat übrigens auch Büchner geschrieben und zwar soetwas: "Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte."

PARSIVAL:
Erlöser! Heiland! Herr der Huld!
Wie büss ich Sünder meine Schuld?

KUNDRY:
(deren Erstaunen in leidenschaftliche
Bewunderung übergeht, sucht
schüchtern sich Parsifal zu nähern)

Gelobter Held! Entflieh dem Wahn!
Blick' auf, sei hold der Huldin Nahn!

PARSIFAL:
(immer in gebeugter Stellung, starr
zu Kundry aufblickend, während diese
sich zu ihm neigt und die liebkosenden
Bewegungen ausführt, die er mit dem
Folgenden bezeichnet)

Ja, diese Stimme! So rief sie ihm;
und diesen Blick, - deutlich erkenn' ich ihn,
auch diesen, der ihm so friedlos lachte;
die Lippe, ja... So zuckte sie ihm;
so neigte sich der Nacken,
so hob sich kühn das Haupt;
so flatterten lachend die Locken,
so schlang um den Hals sich der Arm;
so schmeichelte weich die Wange;
mit aller Schmerzen Qual im Bunde,
das Heil der Seele
entküsste ihm der Mund!
Ha! Dieser Kuss!
  

Montag, 18. September 2023

Baustellenabsperrungen und andere provisorische Zäune.

Ich habe eine Verschwörungstheorie, oder vielleicht sogar zwei. Wie peinlich ist das denn.

Irgendwo in einem Berliner Bauamt arbeitet ein unauffälliger Mann. Er ist klein, hager, mit der typischen Halbglatze deutscher Männern über 50. Er kleidet sich uninteressant. Möglicherweise pachtet er einen Kleingarten, den er, allen Regeln des Bundeskleingartengesetzes folgend, liebevoll umhegt. Er raucht nicht, trinkt ein, zu besonderen Anlässen, zwei Bier am Abend. Er ist, was man einen guten deutschen Beamten nennt. Pünktlich, sauber und vergessbar.

Aber er besitzt eine zweite Identität. Seine wahre. Er erfindet Baustellen und verteilt sie in der Stadt Berlin. Sie entstehen plötzlich, ohne jeden erkennbaren Zweck, über das Stadtgebiet verteilt und es darf nur eine Person dort vorgeben zu arbeiten. Manchmal sind andere Menschen anwesend, aber die stehen nur herum und reden und rauchen. Diese Baustellen bestehen lang, sehr lang, unerklärlich lang. Sie stören den den alltäglichen Tagesablauf der Berliner, verärgern sie und bleiben ihnen doch ein Mysterium.

Dieser Mann hat einen Sohn, den er liebt, der Bauzäune verleiht, die aus Gitterdraht und auch die rot-weißen. Bauzäune mit Sicherheits-Verbindungsschellen, Bauzäune mit engem Maschennetz, Bauzäune mit Übersteigschutz, Bauzauntür zum Mieten, Toranlage zum Mieten, Bauzaunschlösser zum Mieten, Aushebesicherungen zum Mieten, Sichtschutzplanen zum Mieten. 

Der Sohn ist reich, sehr reich und will reicher werden. Es kümmert ihn nicht, das ganz Berlin wie eine unfertige, zugemüllte, verwundete Baustelle aussieht. Er verdient daran. 

Es ist ein Komplott. Der liebende Vater und der unheilige Sohn. Der Vater in einer Wohnung im Wedding und der Sohn mit der Villa am Wannsee. Ein zerstörerisches Liebes-Bündnis.

Der Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte wird saniert, Kabelkanäle und so allerlei, dauert drei Jahre mindestens. Umzingelt von einem Bauzaun. Häßlicher geht nicht. Ein zweiter Zaun, rot-weiß- gestreift, ohne jeden erkennbaren Zweck, steht davor. Ein Aussichtstürmchen und viel häßlicher Zaun.

Paris. Notre Dame brennt und auf dem Bauzaun der Wiederaufbaubaustelle lese ich die Geschichte der Kirche und die speziellen Kenntnisse der Menschen, die sie wieder jetzt aufbauen. Ich leide mit. und interessiere mich.

Berlin. Jede Baustelle verkündet Unansehlichkeit, Unverläßlichkeit der Fertigstellung und Desinteresse des Bauherren gegenüber seinen Bürgern.

Gedicht aus der Ukraine

Ich schreibe kein Lyrik

Ich bin Prosa-Autorin

Es ist nur so, dass die Realität des Krieges

die Interpunktion auffrisst

die Kohärenz der Handlung

Kohärenz

zerfrisst

Als ob eine Granate

von einer Granate getroffen


Das Zersplittern der Sprache 

sieht aus wie Lyrik

ist aber keine


Victoria Amelina

Victoria Amelina erlitt einem russischen Raketenangriff am 27. Juni 2023 auf eine Pizzeria in Kramatorsk schwere Verletzungen, denen sie am 1. Juli 2023 erlag. Sie war mit einem IT-Mann verheiratet, Mutter eines Sohnes und wurde 37 Jahre alt.(Das sagt Wikipedia)

Montag, 4. September 2023

Ich liebe meine Sprache.

 

NEU - EnRoute Daypack.

einfach, elegant, sportlich

Die neuen, praktischen Citybags in verschiedenenen Farben aus Air-Mesh-Gewebe

Mit heat-molded, crush-proof SafeZone für empfindliche Gegenstände

Hauptfach mit gepolsterter Top-Load-Hülle für Notebook und Pad/tablet

Seitenfach für Wasserflasche

What the fuck! 

Und das alles von einer schwedischen Firma, die sich THULE nennt.

Sonntag, 3. September 2023

Sind Schauspieler blöd? - Forever young - Les Amandiers / Die Mandelbäume

Der französische, originale Filmtitel bezieht sich auf den Namen des Lehrinstituts des Théâtre des Amandiers in Nanterre, das von 1982 an von Patrice Chéreau und Catherine Tasca geleitet wurde, Les Amandiers = die Mandelbäumchen, eine Klasse junger Menschen, die Schauspieler werden wollen.

Ich bin, wie schon so oft, verwirrt und genervt, was bringt uns dazu, unseren Berufsstand, wenn wir ihn auf die Bühne oder Leinwand bringen, entweder zu denunzieren oder plump versimpelt zu privatisieren? 

Schauspieler, die Schauspieler spielen, tragen weiße Schals, sind narzistisch, haben ununterbrochen Sex oder leiden unter Impotenz, jedes ihrer Gefühl ist grandios, abgrundtief, himmelhochbetrübt. Sie haben keine Zeit für langweiliges Stimmtraining, Verslehre oder gewöhnliche Proben, weil ihr persönliches Drama, sie 24/7 im Griff hat. Alk, Drogen sind ihre unvermißbare Requisiten. Auch komisch, sie haben nie Geld, aber immer Drogen. Schauspieler, die Schauspieler spielen, interessieren sich nicht für Theater oder Film, sie interessieren sich ausschließlich für sich.

Schämen wir uns unseres Berufes? Ist er uns peinlich? Oder passen wir uns den Vorurteilen gegenüber unserer Profession an und treiben sie ins Extrem? "Was macht ihr Vormittags?" Wie oft habe ich mir anhören müssen, dass am Theater ja mehr getrunken, mehr rumgemacht wird als anderswo. Schauspieler*innen sind in Außenbeschreibungen meist emotional instabil, übermäßig extrovertiert, nicht vertrauenswürdig. Als wären wir eine ganz andere Sorte Mensch, imaginäre regellose Gefühlsbündel.

Treiben wir immer noch den Hanswurst aus der Stadt? Die Faxenmacher kommen, holt die Wäsche von der Leine.

HAMLET, ein Prinz erklärt gestandenen Profis ihren Job und sie sind ihm dafür dankbar? Dezidierte Kritik am Handwerk durch einen Prinzen? Was weiß der denn, er ist Prinz von Beruf. Shakespeare filtert seine Unzufriedenheit durch den Mund des Prinzen und zwei gestandene Barden müssen nicken.

GRETCHEN 89, die Regisseure sind blöd und faul, die Schauspieler*innen faul und blöd. Eine deutsche Komödie. Aber viele von uns sind nur eines von beidem, manche sogar weder noch.

Beispiele gibt es endlos. Krimiserien in denen hysterische Regisseure ihre Hauptdarsteller morden, anstatt sie umzubesetzen, Filme über Spieltruppen, die vor lauter Intrigen und Affairen nie zum probieren kommen.

Gestern Abend DER BESTE FILM ALLER ZEITEN, tolle Schauspieler bemühen sich heftig, ihre Arbeitsweise zu beschreiben und gleichzeitig zu verachten. Antonio Banderas und Penelope Cruz, großartige, witzige und schlaue Spieler, vereinfachen ihren Arbeitsprozess bis zur Unkenntlichkeit.

Und heute Abend LES AMANDIERS, Valeria Bruni Tedeschi macht einen Film über eine berühmte Schauspielschule und zeigt nicht unser Handwerk, nicht die harte Arbeit, nicht den Spaß, nicht die Bemühung um die Wiederholbarkeit des Unwiederholbaren, sondern nur die übersteigerte Entäußerung unserer privaten emotionalen Verwirrungen. Als wäre unser Beruf nicht mehr als eine bezahlte Verlängerung unserer Privatsphäre. 

Kein Tischler baut einen Tisch mit nichts als Eifersucht, ohne die Eigenarten von Holz zu kennen. Kein Ingenieur entwirft eine Maschine nur mit Hilfe seiner Leibesleidenschaft, ohne Kenntnis der notwendigen technischen Fakten. Aber wir Schauspieler machen einfach irgendwie rum, lassen unseren Gefühlen freien Lauf und dann entsteht scheinbar gelegentlich Kunst.

Das ist Mumpitz.

Eine erfreuliche Ausnahme ist "Stage Beauty", ein Film über den Kampf einer Frau spielen zu dürfen, in Zeiten in denen es Frauen verwehrt war.




Freitag, 1. September 2023

Rechte, Faschisten, Nazis - lauter Kosenamen für Leute, die Demokratie nicht mögen.

Herr Aiwanger von den bayrischen Freien Wählern hat mal früher, oder war es sein Bruder, ekelige Witze über Konzentrationslager gemacht.

Ich kenne da auch einen: "Mein Vater ist im KZ umgekommen, er ist besoffen vom Wachturm gefallen."

Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass wir uns, um nur nicht unfair, oder Gott verhüte es, intolerant zu scheinen, einen Knoten in unser untrügliches Bauchgefühl winden.

Wer Menschen wegen ihrer Hautfarbe, geschlechtlichen Orientierung, religiösen Affinität a priori ausgrenzt, wer meint, dass "Deutsch" zu sein eine Leistung ist, wer Nationalismus höher stellt als Humanismus - ist ein Arschloch. Punkt.

Ich bin nicht "Deutschland". Ich bin eine Mischung aus Völkerwanderung, zufälligen sexuellen Begegnungen und meine DNA ist so vermanscht, wie die der meisten Leute.

Zufällig ergab sich daraus eine weiße, deutsch-jüdische Cis-Frau. Der Kommentar meiner Tante beim meinem Anblick, weiß, blauäugig, blond, war: "Jetzt sind wir endgültig in der arischen Rasse untergetaucht.

Ich habe eine Menge toter Verwandte, die ich nicht kennenlernen konnte, weil sie wegen ihrer Rassenzugehörigkeit von Nazis gemordet worden sind. 

Ich weiß nicht, wie wir die vielen muslimisch erzogenen jungen Männer integrieren können. Ich weiß es nicht.

Ich weiß nicht, wie wir die Kette von Opferempfindlichkeit und Schuldzuweisung in den östlichen Bundesländern unterbrechen können. Ich weiß es nicht.

Hitler war schuld, die Stasi war schuld, der Kapitalismus ist schuld -  und Du und ich hatten wir nie gar keinen Anteil. Sind wir für gar nichts verantwortlich? Was haben wir geduldet, nicht verhindert, wo waren wir feiger, als überlebensnotwendig? Wann ging es uns besser als den Opfern und wir blieben still?

Und jetzt soll ich mich daran gewöhnen, dass die AfD demnächst mitregiert?

Heute abend gab es Unter den Linden eine kleine Demonstration gegen unsere Unterstützung des Krieges in der Ukraine. Ja. Krieg ist furchtbar. 

Aber diesen nicht unterstützen? Russland ist der Aggressor. Ist die Nato in Russland einmarschiert? Ist Putin ein Menschenfreund? Ist Prigoschins Flugzeug zufällig abgestürzt? Sich aus allem raushalten, kann auch heißen, dass man schlimmes Unrecht duldet.

Aber enige meiner digitalen Freunde scheinen in einer Zeitschleife zu leben. Die "kommunistische" Sowjetunion = das bedrohte Russland = der Kapitalismus ist immer böse.

Mein Lieblingsrabbi hat einmal in etwa einen tollen Satz gesagt: Demokratie ist furchtbar, aber man kann alle 4 oder 5 Jahre seine Fehler wieder gut machen.

Ich will nicht von rechten Politikern regiert werden. Nicht von Nazis, nicht von Faschisten und auch nicht von Leuten, die sich anders nennen, aber das gleiche meinen.


Mittwoch, 12. Juli 2023

Wie würde ich mich entscheiden?

ARRIVAL, ein Film von Denis Villeneuve, den ich gerade zum dritten Mal gesehen habe, stellt eine mich tief erschütternde einfache Frage: Wenn ich wüßte, wie mein Leben verlaufen wird, wen ich wann und wie verlieren werde, um meine Mißerfolge und Niederlagen schon im Voraus wüßte, um jeden kommenden Liebeskummer wüßte, jeden Schmerz, jede Krankheit und schließlich auch wüßte, wann ich und wie sterben werde - was würde ich tun, wie mich entscheiden? Würde ich das Leid mit dem Glück annehmen? Würde ich das Wagnis der Liebe eingehen, wissend, das sie endlich ist?

In GOTT LEBT IN BRÜSSEL, auch einem Film, dieser von Jaco Van Dormael, veröffentlicht Gottes zornige Tochter, weltweit die Sterbedaten der Menschen. Was würde dieses Wissen an meinem, an unserem Leben ändern?

Vor vielen Jahren habe ich eine kleine Geschichte gelesen, die mir nicht aus dem Kopf geht, obwohl ich nicht einmal mehr weiß, wer sie geschrieben hat: Die Menschheit bemerkt, dass es wirklich UFOs gibt und das sehr viele und sehr unterschiedliche, die Erde umkreisen. Irgendwann gelingt es uns, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und wir stellen eine Frage, die uns umtreibt: Warum gerade wir, warum beobachtet ihr uns, obwohl wir euch technologisch nicht einmal ansatzweise ebenbürtig sind? Die Antwort ist schwierig zu übersetzen, aber letztendlich lautet sie: Von allen Lebewesen im Universum seid ihr, die einzigen die sterben. Und. Und ihr seid die einzigen, die Kunst haben.

Wir nennen es Schicksal, weil wir nicht wissen, was uns passieren wird. Wüßten wir es, wie würden wir es dann nennen? 

Es sagt sich leicht, dass es ohne Tiefen, keine Höhen gäbe, ohne Leid kein Glück, aber würde ich, wissend, trotzdem den notwendigen Preis bezahlen? Oder keine Entscheidungen mehr treffen, oder aus zu viel Vorauswissen heraus erstarren? Würde ich lieben, ohne das Versprechen der Erfüllung? Würde ich Theater machen, ohne die Hoffnung auf Karriere, auf Erfolg?

Wenn ich nie mehr den augenblicklichen, beglückenden Moment erleben könnte, ohne um sein Endergebnis zu wissen, was würde das mit mir machen?

Dienstag, 4. Juli 2023

Die afd und ihre Wähler

Eine Meinungsumfrage des Institutes INSA im Auftrag von „Bild“ erklärt die AfD mit 28 Prozent zur momentan stärksten Partei in Brandenburg. Die SPD käme mit 21 Prozent auf Platz zwei.

Soll ich jetzt froh sein, dass meine Mutter schon gestorben ist, dass sie das nicht mehr erleben muss?

Soll ich, wie manche Freunde es tun, die Wiederkunft der Dreissiger Jahre heraufbeschwören?

Wahlergebnis der Reichtagswahlen 1928 NSDAP 2,6% KPD 10,6 SPD 29,8

Wahlergebnis bei den Reichstagswahlen 1930 NSDAP 18,3% KPD 13,1 SPD 21,5

Wahlergebnis bei den Reichstagswahlen 1932 NSDAP 33,1% KPD 16,9 SPD 20,4

Wahlergebnis bei den Reichstagswahlen 1933 SPD 18,3 KPD 12,3 NSDAP 43,9

Soll ich heulen? Kotzen? Angst haben?

Was mich irre macht, ist die Fähigkeit  avon vielen ganz gewöhnlichen Menschen aus Eigeninteresse, Faulheit, Dummheit oder Bösartigkeit eine fiktive Vergangenheit herzuphantasieren, deren Wiedererstehen, sie endlich zu Gewinnern der Geschichte machen wird.

Egal ob der Weg dahin der Brexit, die Wiederherstellung Großungarns oder die Renazifizierung Deutschlands ist.Und sie alle erklären sich dabei selbstgerecht bibbernd zu Opfern - Opfern der Umstände, der jeweiligen Regierungen, obskurer Eliten, der gierigen Ausländer, der gierigeren Juden. Sie selbst haben nie etwas getan, nur immer erlitten. Hitler war schuld, die Kommunisten waren schuld, der okkupierende Westen war schuld, die Grünen sind schuld. Irgendjemand ist immer schuld.

Vor Jahren saß ich in einem Cafe an einem Tisch neben einem Ehepaar aus dem damaligen West-Deutschland, sie schwärmten von der Wärme und dem Zusammenhalt, die in den Familien während des Dritten Reiches geherrscht hätten. Mein Mund konnte nicht still bleiben und fragte, ob sie von den Milionen Opfern dieser so kuscheligen Zeit wüßten. Die Frau schaute mich mit großen Augen an und sagte: "Aber die wären doch sowieso irgendwann gestorben."

Kultiviere gänzliche Empathielosigkeit, entmensche den erwählten Schuldigen, vergiss Deine eigene Feigheit, informiere dich nicht, glaube nur, was in dein Wunschbild passt, ignoriere alles Leid anderer. Dann kannst du mit einem Gefühl von selbstgerechter Wut Nazis an die Macht wählen und alle Not um dich herum ignorieren, die der "letzten Generation", die, derer, die vor Krieg und Hunger fliehen, die, deren Not deiner Not nicht gleicht.

Leider, leider ist Netanjahus Regierung in Israel auf einem erschreckend ähnlichen Irrweg.

Ich bin traurig und hilflos. Und wenn ich nach den USA schaue, wird mir gänzlich schlecht. Wir zerfleischen uns derweil über Sprachdetails und sexuelle Definitionen. Ich möchte, dass jeder genauso leben kann, wie er oder sie oder es für komfortabel hält und wünschte, wir alle LGBTQ+ und alle individuellen Varianten würden uns vereinen , um Faschisten daran zu hindern, an die Macht zu kommen.

Montag, 29. Mai 2023

Margit Bendokat ist jetzt Ehrenmitglied des Deutschen Theaters

Margit. 

So viele Momente, so viele gute Erinnerungen. 

Als blutjunge Anfängerin habe ich das Glück gehabt, eine Garderobe mit ihr zu teilen, mit ihr zu reden, von ihr zu lernen.

Sommernachtstraum von Alexander Lang, Margit als Helena im blauen Einteiler, murmelt ihren Text, und zwischendurch erklärt sie mir im wunderschönsten Berlinerisch: "Mein Untertext? Alles Scheiße!" Auf der Bühne sprach sie perfektes Hochdeutsch, aber die Melodie ...

Danton, wieder Alex, Margit spielt Marion, "alle Männer wurden zu einem Mann." Eine zarte Hure unschuldigster Art, ihre Worte eine sehnsuchtsvolle Suche nach Verstehen, sich selbst und auch die vielen Männer. "Deine Lippen sind kalt geworden." So unendlich traurig. Dieser Mann macht eine Verständigung unmöglich.

Stella, wieder Alex, "Er ist wieder da!". Zur Premiere waren wir alle im Schockzustand, weil Alex in den hermetisch abgeriegelten Proben, vermieden hatte, uns mitzuteilen, dass wir das Satyrstück zur vorher laufenden Medea waren. Jeder Lacher eine Verwirrung. Margits Stella, voll tragischer Würde in ihrer unerwarteten Komik.

Dreigroschenoper, derselbe Regisseur, die Inszenierung ein nicht wirklich gelungener Versuch und keiner von uns konnte wirklich gut singen. Margit als Mrs. Peachum hinter der Bühne immer mit Macholdts Inhalator, einem gläsernen Foltergerät im Mund. Das Geräusch der blubbernden Inhalationsflüssigkeit habe ich noch im Ohr. Meine Stimmbänder spielten auch verrückt und so waren wir vereint in unserer Stimmpanik. Zur Premiere sang sie ein Lied genau einen Halbton zu tief, drei Strophen lang. Respekt.

Lohndrücker, diesmal ist Heiner Müller der Regisseur, Margit im Rang singt das Lied vom Konsum. Klar, kalt, unversöhnlich. Große Clowns sind unerbittlich.

Die Perser von Jürgen Gosch, Margit spricht einen ellenlangen Monolog gegen den Gipshorizont, jedes Wort haarscharf, unbeurteilt, aber ohne jedwede Sentimentalität. Klar. 

Klarheit ist vielleicht das richtige Wort ihren Umgang mit Sprache zu beschreiben. Ja, ihre Stimme war gelegentlich schrill, aber eben auch direkt, wahrhaftig, ohne bequeme Filter.

Margit geriet ins Theater ohne Vorwarnung und sie hat ihr Wissen über unsere Welt in dieses Theater hineingetragen.

Ich danke Dir.

Samstag, 13. Mai 2023

Gestorbene

Wenn ich ein Grammatikproblem nicht lösen konnte oder ein Zitat aus einem deutschen Gedicht suchte oder ein Detail deutscher Geschichte erfragen wollte, habe ich meinen Vater angerufen. Und, darauf bin ich stolz, er mich auch, vice versa. Er war ein strenger Kritiker, aber ein liebevoller.

Wenn ich ein Detail der englischen Geschichte überprüfen wollte, etwas über einen obskuren englischen Dichter oder den Namen eines Schauspielers, wie klein die Rolle auch war, eines Hollywoodfilms der 30er oder 40er Jahre wissen wollte, oder über die Schwierigkeiten meines Lebens überhaupt abjammern wollte, war mein Gesprächspartner meine Mutter. Sie war ein Sonderfall, weil ihre Liebe ohne Bedingung war. Was immer ich auch angestellt hätte, sie war immer auf meiner Seite.

Meine Oma, Helli, war die coolste Person, die ich je gekannt habe. Ich liebte sie und sie mich.

Mein Opa Walter war schwerhörig und sehr liebenswert.

Meine Oma Margarete war eine garstige Frau.

Tante Gerda kannte alle Details der Trotzköpfchen- und Nesthäkchenromane und die besten, köstlichsten Rezepte für jederlei Resteverwertung. Und sie war außergewöhnlich und bezaubernd.

Tante Schusti konnte besser backen als irgendwer und überließ ihre Rezepte immer nur mit Auslassungen. 

Mein Onkel Stefan hat sein halbes Leben mit der Dokumentation der New Yorker Theaterszene der 70er Jahre verbracht und sein wahres Talent vergeudet.

Meine Tante Hanne liebte Therese Ghiese, war gegen den Krieg und vermied jedwede Genüsse.

Meine Freundin Annette liebte das Leben und das Theater, ihren Sohn, Alex und die Marx Brothers und konnte sogar noch mehr und schneller sprechen als ich.

Horst, mein lieber Bühnenbildner über fast 30 Jahre, war neugierig, höflich, wunderbar, Sachse und nie wirklich glücklich.

Mein Freund Volkmar war aufmerksam und genau und ließ mir nichts durchgehen.

Meine Kollegen Tommy, Tobias, Robert, Heimar, Dieter, Dietrich, Kurt, Fred, Katja, Gerhard, Johanna und Inge haben mich Vieles und Wichtiges gelehrt.

Sie alle sind tot.

GROWING OLD IS NOT FOR SISSIES. Bette Davis

ALT WERDEN, IST NICHTS FÜR SCHWÄCHLINGE. Bette Davis