Mittwoch, 26. Oktober 2022

Eine Berliner Flaniermeile

In London gibt es lebendige, pulsierende, unterhaltsame Fußgängerzonen, autofreie Bereiche in der Innenstadt, wie Convent Garden oder Neal Street. Sie sind entweder dicht an dicht gefüllt mit Läden oder eine gut geplante Mischung von Cafes, Läden, Museen, Theatern und vielen unterschiedlichen Strassenkünstlern. Menschen, Londoner und Auswärtige schlendern, essen, trinken, kaufen ein, geben viel zu viel Geld aus und amüsieren sich trotzdem. In Paris gibt es solche Gegenden, auch in Florenz und anderswo.

Berlin wollte sowas auch haben. Dazu wurde die Friedrichstrasse zwischen Französischer und Leipziger Strasse vom Senat, ganauer von der Bürgermeisterin und Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz Bettina Jarrasch zur autofreien Zone erklärt. Die Berliner Verkehrssenatorin Frau Jarasch jubelte öffentlich über das beglückende Gefühl, dass diese Flaniermeile in den Flanierenden auslöste. Leider fuhren mittendurch sehr schnelle Fahrradfahrer und außenherum war wenig Unterhaltsames zu finden. Es schien, als wollte man das Gefühl haben, ohne die Arbeit leisten zu wollen. Die Idee wollte man übernehmen, aber nicht die nötige Infrastruktur dafür schaffen. 

Das Ergebnis? Ein menchenleerer, häßlicher Strassenabschnitt, der niemanden erfreut. Und schon gar nicht irgendjemanden anlockt.

Das Quartier 206 ist fast unbenutzt, das riesige ehemalige "Haus der Russischen Kultur" ebenfalls, das Lafayette läuft soso, dann gibt es noch einen kanadischer Fritten Shop, ein Einstein Cafe, ein paar mittelinteressante Läden und jede Menge deprimierende Ödnis, unbequeme Bänke und in ihrer Häßlichkeit kaum zu übertreffende Glasschaukästen vervollkommnen das Ensemble. What the fuck? Wer will hier sein? Und warum sollte er hier sein wollen? Oder sie?

Nach heftiger Kritik wurde jetzt umgedacht. Die Radfahrer werden nun in die Charlottenstrasse umgeleitet und die Markgrafenstrasse darf den gesamten Autoverkehr inclusive der vielen Touristenbusse abfangen. Juche!

 
 Die Flaniermeile am Sonntag, den 16. 10. 2022 um 14:08 Uhr bei 25°.

FLANIEREN: ohne ein bestimmtes Ziel langsam umherschlendern, um andere zu sehen und sich sehen zu lassen, sagt Wiki. Aber warum sollte ich hier herumlaufen? Keiner ist da, der mich sieht, nichts Interessantes ist da zum Ansehen. Und zwischendurch versuchen immer wieder, einige rasende Radler mich zu töten. Gut, die sind weg, wenn die Charlottenstrasse sie übernimmt, aber dadurch wird die Friedrichstrasse leider auch nicht interessanter.

Ich bin unbedingt für eine starke Verminderung des Automobilverkehrs. Bin dafür SUVs für Menschen, die nicht durch unzugängliches Gelände manövrieren müssen, ganz zu verbieten, den Nahverkehr intensiv zu fördern. Ich habe selbst kein Auto mehr und auch, wenn ich selbst nicht Fahrrad fahre, bin ich froh, dass es jetzt so viele andere tun. (Auch wenn einige Idioten sehr aggressiv und unachtsam fahren.) Aber autofreie Strassen müssen eine neue, andere interessante Aufgabe übernehmen, oder? Vielleicht muss das Konzept STADT und VERKEHR neu gedacht werden? Den Nahverkehr weiter ausbauen, die Bahn hin und wieder pünktlich sein lassen, Autofahren für alle, die nicht wirklich darauf angewiesen sind, wie z.B. Pendler, sehr, sehr teuer machen. Meine Freundin sagt, Kapitalismus und echter Klimaschutz schließen einander aus, der eine existiert durch ständiges Produzieren von immer mehr, das gekauft werden oder vernichtet werden muß. (ZARA muß 11 Kollektionen im Jahr anbieten.), der andere verlangt, braucht Einschränkung, Weniger. Wer wird gewinnen, ich befürchte ...

 
Die Flaniermeile am Dienstag, den 18. 10. 2022 um 16:11 Uhr bei 17°
 
NEUESTE ENTWICKLUNG!
 

Susanne Mertens und Philmon Ghirmai, Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Berlin:„Die Friedrichstraße bleibt dauerhaft autofrei. Gut so! Bettina Jarasch folgt dem überwiegenden Wunsch der Nutzer*innen. Sie führt eine sach- und bürger*innenorientierte Politik fort, statt den lauten Stimmen zu folgen, die die Autostadt konservieren wollen. Vier von fünf Befragten sprechen sich für die dauerhafte Sperrung der Friedrichstraße für den motorisierten Verkehr aus. Die Umgestaltung bietet insbesondere Fußgänger*innen mehr Raum und Sicherheit. Der angekündigte Gestaltungswettbewerb des gesamten Areals bis zum Gendarmenmarkt wird die Grundlage für einen fairen Interessenausgleich schaffen. Im Rahmen dessen wird auch der Radverkehr von neuen und größeren Lösungen profitieren."

 Die Flaniermeile am Dienstag, den 25. 10. 22 um 15:54 Uhr bei 17°

ODER:

Bordsteine sollen weichen

Mit einem Gestaltungswettbewerb wolle man unter anderem mehr Grün oder Sitzgelegenheiten ermöglichen, so Jarasch. Auch die Bordsteine könnten entfernt werden, sodass der gesamte Bereich ebenerdig sei. Der Radverkehr werde in die Charlottenstraße verlegt.

Die solle aber auch prinzipiell für Autos befahrbar bleiben, um dort die Parkhäuser erreichen zu können. Nach den Vorstellungen der Verkehrssenatorin sollte der gesamte Stadtraum auch im Umfeld der Friedrichstraße mitgedacht und mit einer italienischen Piazza vergleichbar werden. Durch das geänderte Einkaufsverhalten kämen die Menschen nur noch dann zum Shoppen in die Stadt, wenn sie sich dort auch wohlfühlen.

... Die Einzelhändler in der Friedrichstraße hatten Jarasch zufolge schon vor dem Beginn des Feldversuchs wirtschaftliche Probleme. Deshalb müsse man zusätzliche Kunden anziehen."

  Die Flaniermeile am Samstag, den 22.10. 22 um 10:57 bei 17°

https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/fuer-die-neue-fahrradstrasse-in-mitte-wird-eine-verbindung-fuer-autos-zerstueckelt-charlottenstrasse-almut-neumann-friedrichstrasse-li.277969 

https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/05/berlin-mitte-friedrichstrasse-piazza-jarasch-verkehr-fussgaenger-radfahrer.html

Montag, 24. Oktober 2022

Ophelia 's got talent in der Volksbühne

Hätte mich jemand ins Theater eingeladen und das zu Erwartende in etwa so beschrieben, nur Frauen, meist nackt, viel Tanz, eine gynäkologische Untersuchung, viel Blut, viel Wasser, viel in Englisch und eine Gruppe Kinder, ich hätte, höchstwahrscheinlich höflich dankend abgelehnt. Gott sei Dank hat mich keiner eingeladen, sondern ich habe Ulrich Seidlers Kritik in der Berliner Zeitung gelesen, der überwältigt und ziemlich fassungslos einen wunderbaren Text geschrieben hat. Ich liebe diesen Kritiker, auch wenn ich, weiß Gott, nicht immer seiner Meinung bin. Aber er liebt. 

https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/theater/florentina-holzinger-inszeniert-ophelias-got-talent-mit-hubschraubereinsatz-in-der-volksbuehne-extremer-geht-es-nicht-li.267672

Ich habe sowas, wie das, was ich heute gesehen habe, noch nie gesehen. 

Der Abend ist eine Materialschlacht, Tänzer/Akrobaten/Spieler, die sich völlig verausgaben und dabei gemeinsam Spaß haben, Licht, Musik, Video und mehr Bühnenelemente, als sich ein Stadttheater in zwei Jahren leisten könnte, aber die überwältigende Menge macht Sinn. 

Frau, Flüssigkeiten, Wasserwesen, Kraft, Leid, Ertrinken, Ersaufen, Schwimmen/ Schweben, Sexualität von weiblichen Wesen, Fortpflanzung, Erniedrigung, Schmerz.

Zweimal kommen hilfreiche, männliche technische Mitarbeiter auf die Bühne, freundliche Fremdkörper. Eine Umkehrung der gewöhnlichen Machtverhältnisse.

Das Bühnenbild ist so gigantisch, das es dem Klimawandel gewiss einiges an Hilfe leistet. Aber die Bilder, die entstehen sind magisch.

Es gibt Längen und einige zu offensichtliche Schockelemente, aber, aber was bleibt, ist, dass sich die Spielerinnen sich unterstützen, sich Kraft geben, sich beschützen und mich unterhalten wollen, mich einbeziehen wollen. Nie wird auf mich herabgesehen, ich werde immer berücksichtigt, angesprochen.

Ein Fest, dass Frauen feiert, das Frausein feiert, ohne Sentimentalität und ohne Besserwisserei, aber mit der Gewissheit, das wir Leben erzeugen können. Ein Privileg. Eine Last. Ein Glück.

Im Finale springen kindliche Haie durchs Wasser, das übersät ist mit leeren Wasserflaschen und fordern unsere Zustimmung.

https://www.tagesspiegel.de/kultur/ophelias-got-talent-an-der-volksbuhne-make-up-fur-die-wasserleiche-8652970.html

Manchmal ist er vielleicht zu offensichtlich, aber der Abend hinterlässt Spuren, was mehr ist, als was ich über viele meiner letzten Theaterabende sagen kann. Und ich hatte in keinem Moment das Gefühl belehrt zu werden. Es wurde mit mir gesprochen.

Konzept & RegieFlorentina Holzinger

mit
Melody Alia Saioa Alvarez Ruiz Inga Busch Renée Copraij Sophie Duncan Fibi Eyewalker Paige A. Flash Florentina Holzinger Annina Machaz Xana Novais Netti Nüganen Urška Preis Zora Schemm
Musik
Paige A. Flash Urška Preis Stefan Schneider
Bühne
Nikola Knežević
Licht Design
Anne Meeussen
Videodesign
Melody AliaJens Crull Max Heesen
Dramaturgie
Renée Copraij Sara Ostertag Fernando Belfiore Michele Rizzo
Autor/in
Florentina Holzinger

 

Sonntag, 23. Oktober 2022

TRIANGLE OF SADNESS

Was habe ich da gerade gesehen? Einen gut gemachten Film, den ich letztendlich nicht wirklich mochte. Warum?

Der Titel zuerst: The triangle of sadness, das Dreieck der Traurigkeit, befindet sich in unserem Gesicht waagerecht zwischen den Brauen und dann beidseitig runter zum Beginn des Nasenrückens, ich kannte das bisher als Zornesfalten. Jedenfalls ist diese kleine dreieckige Fläche, die Einbruchstelle des drohenden Alters, das Kainszeichen der gemachten Erfahrungen, der Anfang vom Ende einer Modellkarriere, die der "Held" des Films zu Beginn als gefährdet erlebt.

"The Square" war ein anderer Film dieses Regisseurs, Ruben Östlund, den ich gesehen habe. Eine Satire über den Kunstbetrieb. Soso dachte ich, nicht sehr lustig, aber sehr absichtsvoll.

Nun zum heutigen Abend. Ich habe ein paar Mal sehr gelacht. Sunnyi Melles kotzend und das über lange Zeit und mit sich steigernder Absurdität, ist ein Spaß. Die ideologische Saufszene zwischen Woody Harrelson und Zlatko Buric, der eine als marxistischer Kapitän einer Luxusyacht und der andere als russischer Oligarch mit den Erfahrungen der sozialistischen UdSSR, der mitlerweile erfolgreich mit Düngemitteln handelt, "I deal with shit", ist überaus witzig.

Ich wurde wirklich unterhalten.

Aber. Aber. Ich merkte die Absichten und war dann irgendwie verstimmt. Nahezu jedes zeitgeistige Thema wurde angesprochen und verhandelt und die Pointen, auch die, die funktionierten, jonglierten gekonnt mit meinen, mir nicht angenehmen, aber vorhandenen, zynischen oder fatalistischen Gewissheiten. 

Aber. Aber. Wieder einmal darauf gestossen zu werden, dass in unserer gemeinsamen Welt alles, aber auch wirklich alles, unter dem Aspekt seiner Verkäuflichkeit, seines Warenwertes betrachtet und gewertet wird, ist nicht schlecht.

Rutger Bregman, ein holländischer Historiker wurde zum Wirtschaftsgipfel nach Davos eingeladen. Viele sehr reiche Menschen saßen um ihn herum und fragten, wie sie ihre Spenden, Stiftungen nützlicher machen könnten. Er antwortete ihen: „Ich höre Menschen über Teilhabe und Gerechtigkeit und Gleichheit und Transparenz reden, aber dann spricht kaum jemand über Steuerflucht – und über die Reichen, die einfach nicht ihren gerechten Teil beitragen. Es fühlt sich an, als ob ich auf einer Feuerwehrkonferenz wäre und niemand ist berechtigt, über Wasser reden.“ 

Östlund spielt mit meiner hilflosen Verzweiflung, er teilt sie und darum bin ich erst einmal angetan, aber er meint auch schlauer, wissender, drüberstehender zu sein als ich, und er kann das nicht gut genug verbergen. Er ist "to proud for his pants". Was ich als zu selbstgewiss übersetzen würde. 

Klimakatastrophe, Ukrainekrieg, Coronaepidemie, Rechtspopulismus, das Leid der sogenannten "Dritten Welt" -  keiner von uns hat irgendeine praktische Idee, wie wir alle diese, oder auch nur eines dieser Probleme lösen können, jeder von uns ist erschöpft und unglücklich, aber irgendwie hätte ich in einem Film, der sich all dies als Thema auflädt, mehr Empathie und weniger Selbstgerechtigkeit erhofft.


Mittwoch, 12. Oktober 2022

Warum ich nicht mehr TATORT gucken kann, obwohl ich es gern möchte.

Vorspann und Titelmelodie sind in unser gemeinsames Unterbewusstsein eigelagert, fast jeder große Darsteller, jede große Darstellerin hat in einem mitgespielt, Komissar*in werden ist Ehrenschlag. 

Tatort ist eine Kriminalfilm-Reihe, deren Ausstrahlung 1970 im westdeutschen Fernsehen begann. Ursprünglich als Produktion des Deutschen Fernsehens gestartet, ist sie heute eine Gemeinschaftsproduktion von ARD, ORF und SRF. Bislang erschienen über 1200 Tatort-Filme. Jeder Film erzählt in der Regel eine in sich abgeschlossene Geschichte, in der wechselnd und wiederkehrend ein Ermittler oder ein Team aus Ermittlern in einem Kriminalfall an deutschen, schweizerischen oder österreichischen, meist großstädtischen Schauplätzen ermittelt.

Ich hab es in den letzten Wochen wieder mehr als einmal probiert und bin kläglich gescheitert. Formale Spielereien, aufgebauschte Privatgeschichten, Gesellschaftskritik auf leicht verständlichem Niveau und zu früh durchschaubare Fälle. Warum nur? Whodunnit heißt es im Englischen. Wer hat's getan.

1. Die Geschichte eines guten Kriminalfilms besteht aus einem oder mehreren Verbrechen und der darauffolgenden Suche nach dem Verbrecher, den Verbrechern bzw. den Verbrecherinnen durch Polizist*innen, Detektiv*innen oder anderweitig an der Lösung interessierten Personen.

2. Verbrecher*innen, Verbrechen, Untersuchende. Auflösung. Wer war das Opfer? Wie wurde die Tat getan? Warum wurde die Tat getan? Wer hat sie getan?  Und wie wird er bzw. sie erwischt?

3. Je verzwickter und überzeugender die Motive sind, je überraschender und komplizierter der Prozess der Wahrheitsfindung ist, umso besser.

4. Wobei der Verbrecher, diee Verbrecherin erstmal nur die Person ist, die ein Verbrechen begangen hat, was noch kein Urteil über ihre Beweggründe beinhaltet. 

5. Wobei auch der oder die Untersuchende möglicherweise Täter sein kann.

SUSPENSE - SPANNUNG

Wiki sagt: Suspense (engl. für „Gespanntheit“) leitet sich von lat. suspendere („aufhängen“) ab und bedeutet so viel wie „in Unsicherheit schweben“ hinsichtlich eines befürchteten oder erhofften Ereignisses. Neben anderen Typen der dramatischen Spannung ist dem Suspense die meiste Aufmerksamkeit zuteil geworden, weil er die Spannungserzeugung „mit den geringsten“ Mitteln ist und weil Suspense als intensivstes Mittel der Spannungserzeugung gilt. 

6. Entweder will ich unbedingt wissen wer es war, oder wie es gemacht wurde oder warum es gemacht wurde, oder der Weg oder die Umwege der Aufklärung erzeugen die Spannung.

7. Der/Die nach der Lösung Suchenden, können persönliche Probleme haben, die, sollten aber von Interesse in Bezug auf den Kriminalfall sein, Fehler in der Untersuchung auslösen, Vorurteile oder Voreiligkeit bestärken und ähnliches, zum Beispiel, die Depressionen eines Ermittlers, einer Ermittlerin sollten die Ermittlung verändern oder sind letztendlich überflüssig.

8. Verbrecher*innen und Verbrechensjäger*innen sollten interessante Charaktere sein, aber nicht interessanter als ihre Taten, bzw. die Ermittlungen. 

9. Miss Marple, Hercule Poirot, Inspektor Maigret, Adam Dalgliesh, Sherlock Holmes, Philipp Marlowe, Lord Peter Wimsey, Columbo, Dr. Temperance “Bones” Brennan, Inspektor Jury, Perry Mason, Dave Robicheaux, Harry Bosch, Bobby Goren, Inspector Alan Grant, Lennie Briscoe und und und. Warum sind sie anders als Tatortkomissare? 

10. Eine soziale, bzw. politische Komponente kann anfallen, muß aber Teil des Kriminalfalls sein und ihn nicht ersticken oder gar ersetzen.

Die meisten TATORTE sind langweilig, finde ich, weil sie sich nicht für ihr eigenes Genre interessieren.


Dienstag, 11. Oktober 2022

Patientenimpressionen 5

Die Operation ist jetzt 14 Wochen her und ich laufe seit vier Wochen ohne Krücken, steige Treppen, manchmal flotter, manchmal nicht so sehr, gehe zur Heilgymnastik und treibe dort Sport, bin ein braver Patient, freue mich meiner nicht-mehr-schmerzenden Hüfte. Dafür piekst oder zieht es jeden Tag woanders. Verschiedenste Muskelkater, Hilferufe lang unbenutzter Sehnen, was auch immer, eine nicht vorhersehbare Wundertüte, ist interessant wieviele Körpereinzelteile es mir ermöglichen, mich überhaupt zu bewegen.

Mein linkes Bein verhält sich mehr als vorbildlich, meckert nicht und kommentiert viele Jahre der Überbelastung nur mit gelegentlichem Knieknacken. Mein rechtes Bein, das operierte, ist wie ein Kind, das plötzlich, auf die Schnelle, zu viele neue, bzw. vergessene Dinge lernen soll, aber es gibt sich wirklich Mühe. Hey, zehn Jahre Schonhaltung hinterlassen natürlich eine tiefe Spur.

Kürzlich habe ich den Trainingsraum mit einer gleichaltrigen, viel dünneren und ebenso durchtrainierteren Dame geteilt, kein schöner Anblick. So viel Ernst, Mangel an Vergnügen und Körperfeindlichkeit kann nicht wirklich zur Gesundung beitragen.

Es war ein Abenteuer, sie haben mir einen Knochen abgesägt, steckten ein künstliches Ding in mich und machten mich wieder ganz. Der Vorgang ist absurd und wunderbar und ganz und gar ein Ding der modernen Wissenschaft, die ich liebe, den sonst würde meine Hüfte immer noch schmerzen. Ja, vielleicht kein Spagat mehr, aber ich habe mir heute selber, ohne Hilfe, die Zehennägel geschnitten!

Jetzt gehe ich zur IRENA. Intensiver Rehabilitationsnachbehandlung. 

Drei Jahre bis ich wieder im Normalzustand bin. Ein halbes bis es mir nicht mehr wirklich auffällt.

Ich werde 67 Jahre alt sein, wenn nichts dazwischen kommt, wenn ich wieder auf dem alten Stand bin. 

Aber bis dahin bin ich schmerzfrei.

 


Dienstag, 30. August 2022

Winnetou, Shakespeare und die Autobiographie der Mary Prince

Nicht alles ist geich. Und es ginge uns vielleicht besser, wenn wir das nicht so leicht vergäßen.

Nein, nicht alle Karl May Bücher werden nicht mehr verkauft, sondern nur die, die zu den jüngst erschienen Filmen geschrieben wurden. Karl May - ich habe nur Winnetou 1 bis 3 gelesen und habe "Blauvogel" von Anna Müller-Tannewitz immer mehr gemocht. Der eine träumte eurozentriert den Traum vom guten "Wilden", die andere überschrieb indigene Geschichte mit naiven urkommunistischen Wunschträumen. Goiko Mitič und Pierre Brice, meine kleine Schwester hat mich gezwungen, Osceola u.a. mehrmals im Kino Camera anzuschauen, der andere, westliche ist an mir vorbeigegangen. Aber Rolf Hoppe habe ich noch im Gedächtnis, der seinen in wilder Wut zerstampften Hut, sorgsam wieder in Form bringt. Und das Renate Blume mit Goiko und Dean Reed zusammen war, den zwei Exoten in der, bis auf vietnamesische Gastarbeiter und Studenten aus afrikanischen "Brüderstaaten", mit nicht ddrischen Mitbürgern nicht gerade gesegneten deutschen Republik. Den ersten indigenen Mitbürger, einen Kanadier, habe ich vor zwei Jahren kennengelernt und von ihm, ganz real, viel gelernt. Das eine mit dem anderen habe ich auch vorher nicht verwechselt. Der Antagonismus zwischen der Träumerei und der Realität des Kolonialismus. Die Körper tausender toter indigener Kinder in Kanada, die sich unter der "Aufsicht" religiöser Schulen befanden, sind ein grauenhaftes Testament der Verachtung und Vernichtung des angeblich "Fremden".

Shakespeare ist voller Gewalt und unangenehmer Überraschungen, genauso wie das Leben. Und keine Triggerwarnung schützt uns vor dieser Welt und dem Leben. Aber nun wünschen sich junge Menschen, dass sie vor dem Gefühl des Unwohlseins beim Lesen seiner Werke geschützt werden. "Der Sommernachtstraum" zeigt Szenen von Klassismus, Titus Andronicus" ist zu brutal, Vergewaltigung, Verstümmelung und dann ist der Bösewicht ist auch noch schwarz. Liebe Mitbürger, wie meine Mutter sagen würde, tough shit, große Literatur erzählt nur, was das Leben zu bieten hat, und das ist nicht immer schön. Früher oder schlimmsten Falls später werdet ihr merken, dass das das Leben keine Triggerwarnungen ausgibt. Euer Herz wird gebrochen werden, ihr werdet verraten werden, euch wird Leid angetan. Da müßt ihr durch.

ABER, ABER.

Die Autobiographie der Mary Prince ist an einigen Universitäten der USA nicht mehr Pflichtlektüre, weil sie die Sklaverei "zu brutal" schildert. Sie bescheibt ihr Leben. Das was ihr angetan wurde. Und hier hört mein Sinn für Humor auf. Sklaverei ist menschenverachtend und gewinngierig, kein Argument kann sie verteidigen. Unvorstellbar, dass ein Mensch einem anderen "gehören" soll, dass er ihn verkaufen, gar töten kann, und es ist sein Recht. Und darüber wollt ihr nichts  hören, weil es zu hart, zu unangenehm ist? Weil ihr euch dabei unwohl fühlt? Wie wollt ihr eine Welt erschaffen, die besser ist als die jetzige, wenn ihr die Schrecklichkeiten dieser Welt nicht kennen wollt?




Samstag, 27. August 2022

Patientenimpressionen 4

Es sind jetzt sieben Wochen seitdem mir eine Konstruktion aus Titan und Kunststoff in den Körper implantiert wurden - auf dem Röntgenbild sieht es toll aus, elegant, wie ein leicht gebogenes Attentätermesser, dass in meinem Oberschenkelknochen steckt. Ich spüre es nicht. Es piekt hier und es piekt da, aber nicht dort. Und ich muß Sport machen, etwas, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr konnte und, ehrlicherweise, auch nicht richtig wollte. Sport ist langweilig. Aer jetzt muss er sein. Täglich. Das atrophierte Bein, wegen der Schmerzen geschont seit Jahren, muss wieder fit werden. What the fuck. Also habe ich jetzt ein Theraband und einen Gymnastikball und mein 40 Jahre altes Ketteler Standfahrrad wird endlich entsprechend genutzt. 

Trotzdem merkwürdig, wie ich in meinen Körper hineinhorche. Ein Schmerz da, was bedeutet der? ein Schmerz dort, ist der schlimm? Ich bin ängstlich, eine Gefühlslage, die ich nicht mag. Mißtrauen dem eigenen Körper gegenüber ist nicht förderlich.

GEDULD, nicht eine meiner größten Qualitäten, ist notwendig. Ein Jahr dauert es, bis man nix mehr merkt. Ein Jahr sind circa 52 Wochen. Sieben sind es jetzt. 



Patientenimpressionen 3

Meine erste Operation am 4. Juli, drei Wochen zu Hause, die Reha drei Wochen später - eine Reise. Meine erste Op, drei Wochen allein zu Haus mit Krücken, dann meine erste Reha. Ein Abenteuer.

"Gutmütigst", ein Wort, habe ich gerade zum ersten Mal gehört ( Das Wort wurde der Deutlichkeit wegen wiederholt! ) und ich hoffe, es nie wieder hören zu müssen. 

Die gemeinte "Gutmütigste" ist die Rentenkasse oder die Rehabilitationsklinik, die mir aus "Gutmütigskeit" mehr Behandlungsminuten zugesteht, als mir den bürokratischen Regeln nach zustehen würden.

Die Rehabilitationsklinik - Medical Park Humboldtmühle - ist eigentlich toll. Die Zimmer geräumig und genau richtig karg möbliert, immerhin müssen hier auch Rollstuhlfahrer zurechtkommen, das Bad perfekt, die Physiotherapeut*innen, Masseur*innen, Trainer*innen, Kellner*innen und Rezeptionist*innen zu 99 Prozent freundlich und kompetent, das Essen durchaus akzeptabel. Ich kann meine Fortschritte täglich spüren und bin heiterster Stimmung. 

Aber als ich, zum vierten Mal, nun mehr nachdrücklich, wegen zu viel ungenützter Zeit, um mehr Trainingseinheiten bitte, geschieht mir eine Begegnung der dritten Art: Ein Arzt mittleren Alters um die Lippen ein allwissendes Lächeln, das überdeutlich impliziert, ich kann die Kompliziertheit der Situation unmöglich vollumfänglich begreifen, steht vor mir und er "mansplained" auf mich herab. (Mansplaining: jemandem etwas auf eine als herablassend oder bevormundend empfundene Weise erklären, typischerweise ein Mann gegenüber einer Frau, so nennt es Wiki.) Hey, er ist 50, ich über 60, wir sind beide berufstätig, nur bin ich momentan in seinem Machtbereich. Zitat: "Manchen Patienten kann man es einfach nicht Recht machen." ARSCHLOCH. Seit ich raus aus der Schule bin, habe ich, erst im Osten, dann im Westen ganz brav Rentenbeiträge eingezahlt und der Kerl offeriert mir meine Therapie als "Geschenk", das mir die Rentenversicherung in ihrer unendlichen Güte zukommen läßt. Ein unangenehmes Zusammentreffen. Ich habe übrigens erstaunlicherweise nicht die Beherrschung verloren, sondern bin einfach gegangen und habe dann mehr Trainingseinheiten bekommen. Wäre ich um einiges älter oder weniger aufmüpfig, wie wäre das gelaufen?

Demut ist ein Wort, das mir jetzt öfters durchs Hirn schießt. Demut, sagt Wiki, ist die in die Einsicht in die Notwendigkeit und den Willen zum Hinnehmen der Gegebenheiten begründete Ergebenheit. Klingt edel, aber meint, glaube ich, auch die Einsicht, dass es mir im Vergleich zu vielen anderen Menschen verflixt gut geht. Drei Wochen in einem Haus mit Menschen, deren Leiden und Krankheiten, meine Hüfte zu einer Harmlosigkeit machen. Mir wird es wahrscheinlich in einigen Wochen richtig gut gehen, ihnen nicht. Also rege ich mich ab und versuche, demütig zu sein.


Freitag, 22. Juli 2022

Patientenimpressionen 2

Drei Wochen zuhause bis zur Reha meine zwei roten Krücken und ich. Neue Bewegungsabläufe, neue Langsamkeit, neue Bedachtsamkeit, immer eins nach dem anderen, alles durchgeplant und in realisierbare Einzelaktionen aufgeteilt. Dazu die ständige Innenbeobachtung, wo tut was weh und warum, ist es die Hüfte, bitte nur die nicht, nein, es ist nur die Narbe oder einer der vielen Muskeln, die Neues lernen müssen. 

Bisher hatte ich keine Ahnung was meine Lymphen überhaupt so machen, jetzt lerne ich sie kennen, Knie dick, Wade dick, Fuß dick und alle 15 Minuten pullern, Brennnesseltee (Drei "n"!), Lymphdrainage, Kneippgüsse - ich werde zu einer Ansammlung von Heilbehandlungen. 

Da laufe ich 63 Jahre durch die Gegend und mein freundlicher Körper macht was ich will, macht mit, was ich ihm auferlege, antue und plötzlich sagt eben dieser Körper, jetzt bin ich dran, kümmere dich um mich. Er hat jedes Recht dazu, trotzdem hat er mich mit seinen Forderungen überrascht. 

Die Regeln, nicht die Beine übereinanderschlagen, nicht das operierte Bein nach außen drehen, zwischen Oberkörper und Bein muß stets ein Winkel von mindestens 90 Grad bleiben, das ist wie Tanzen mit strengen Vorgaben. Ich stelle fest, dass ich versuche innerhalb dieser Einschränkungen eine gewisse Eleganz zu erreichen, die sich sofort in Luft auflöst, wenn mir was runterfällt. Dann hilft nur noch meine schicke Greifzange oder, wenn die es nicht schafft, warte ich auf den nächsten Besuch, der aufhebt, was ich fallen gelassen habe. Was habe ich für liebenswürdige Freunde! 

Oder, der Weg von mir zur Physio ist kurz, vielleicht normalerweise 1500 Schritte, in etwa 10 Minuten, bestückt mit Krücken zu Beginn 30, jetzt 20 Minuten und ich bin stolz wie ein Marathonläufer, wenn ich wieder daheim bin -und - ich schaue viel mehr als sonst auf den Boden, damit die Krücken nicht in Löcher stockern. 

Soviel Selbstbetrachtung, -beschäftigung, obwohl unbedingt nötig, wirkt trotzdem irgendwie egozentrisch auf mich, arbeiten geht nicht, Intelligentes lesen auch nicht, nur gesund werden ist die Aufgabe.

Dienstag, 19. Juli 2022

Patientenimpressionen 1

Ich humple schon seit langem und als jetzt das andere, das gesunde linke Bein, angefangen hat, sich wegen Überlastung zu beschweren, mußte ich, wohl oder übel, ins Krankenhaus. Meine erste Operation!

"Ein Streifen verrutscht. Halb so schlimm", sagt Dr. Walterfrosch. "kleine Operation, Tiger geheilt." Eine Operation ist, wenn der kleine Tiger eine wohltuende Spritze bekommt, dann schläft und einen schönen blauen Traum hat. Wacht auf, Operation vorbei, Tiger geheilt. Wohltuende kleine Spritze, blauer Traum, Operation vorbei, nix gemerkt, total komplett gesund geheilt. (Janosch)

Die Präparation: Verrückt, Menschen schneiden in Dein Fleisch, sägen ein Stück Knochen ab, stecken eine Konstruktion aus Titan und Kunststoff in dich und nähen dann das Ganze wieder zu. Vorher wurdest du geröntgt, kernspintomographiert, elektrokardiogrammt und sonst noch so Einiges. Du humpelst von Labor zu Labor, sitzt, wartest, siehst andere Kranke und viel Kränkere (Den Anblick von sehr alten Menschen, die in Krankenhausgängen auf Tragen liegen, finde ich entsetzlich traurig.) und du phantasierst dir mögliche imaginäre Schrecklichkeiten zusammen. Natürlich hast du dich vorher informiert, gegoogelt, (Sollte man nur in Maßen tun!) Freunde und Bekannte befragt, aber ... mein Hirn hat einen perversen Spaß daran, sich auszumalen, was alles schief gehen könnte.

Damit sie nicht das falsche Bein aufschneiden!  
 

Die Operation: Nüchtern bleiben (in neuer Bedeutung), "rückenfreies" Nachthemd anziehen, auf einer Trage herumgeschoben werden durch lange, leicht abgeschrammte Gänge vollgestellt mit hochmoderner Technik, der Anästhesist sagt Hallo, der Lagerungsassistent wechselt Nettigkeiten, der Operateur wischt vorbei, Spritze, schlafen, kein Traum.

Die Nachsorge: Wach werden, Aua, Schmerzmittel, schlafen, dämmern, pullern auf einem Schieber (unbequemer, demütigender Horror), Pappstulle mit Pappkäse und Pappbierschinken. Schlafen. Tag 2 aufstehen, selbstständig pinkeln, die Hüfte hält, das Pappessen wiederholt sich. Tag 3 den Flur runter und rauf an Krücken (Meine sind rot, habe ich mir zur Stimmungsaufhellung gekauft.)  schreiten, die Hüfte hält und die Schwestern sind zum überwiegenden Teil sehr lieb, auch unter Stress, die Pappe bleibt Pappe, sogar Schafskäse kann wie Pappe schmecken. Am Tag 4 ich darf runter in den Hof rauchen. Vor einem übergroßen Rauchverbotsschild versammeln sich Kranke und Pfleger und paffen um die Wette. Einer hat zwei gebrochene Arme, ein anderer trägt drei Fläschchen mit verschieden farbigen Flüssigkeiten, die aus ihm herauslaufen, mit sich herum, Rollstühle, Gehhilfen, Krücken, alles vertreten. Wie vorm Späti, nur ohne Bier. Man kommt schnell ins Gespräch, ich sehe ein Video, auf dem Leute mit Baseballschlägern auf einen Mann einprügeln, es ist der mit den eingegipsten Armen. Keiner hat ihm geholfen, als er blutend auf dem Bürgersteig lag, bis auf eine ältere türkische Frau, die ihr Kopftuch abnahm und damit seine Vene abgebunden hat. Er nennt sie jetzt "Mama". Was mag die Vorgeschichte sein.

Wie unterstützend, schützend und tröstend Freundschaften sind, wird einem wohl nie deutlicher, als zu solcher Zeit, wenn man eingeschränkt und rekonvaleszent auf Zuspruch und Hilfe angewiesen ist, ein Kokon von Wärme, Snacks, Aufmunterung und blöden Witzen.

Bis heute tut immer mal was anderes mehr oder weniger weh, aber nicht die neue Hüfte. Wünscht mir Glück!