Meine Spieler, hier bei den Volksschauspielen in Ötigheim, sind IT-Experten, Referatsleiter, Hotelfachkräfte, Köche, Krankenschwestern, Hausfrauen, Ingeneure im Kernkraftwerk, Rentner und Zollbeamte, sie arbeiten hart und kommen dann zur Probe.
Jeder, der mitmachen will, darf das auch, so ist hier die Regel. Finde ich gut, bedeutet aber auch, dass der Chor mal aus 40 und ein anderes Mal aus 90 Sängern besteht, weil die andern keine Zeit haben, Rollenträger, so werden hier die Darsteller genannt, wegen runden Geburtstagen oder anderweitigen Verpflichtungen mal nicht anwesend sind und die Pferde samt Reitern in manchen Proben nur imaginiert vorbeireiten, weil ihre realen Vertreter an einem Springreitturnier teilnehmen. Andererseits habe ich fast immer zwischen fünf und fünfzehn superlustige Kinder zur spielerischen Verfügung.
Auch ist das tägliche Leben hier, in diesem Dorf in Baden-Württemberg ganz anders organisiert, als ich es kenne. Man ist Mitglied im Fussballverein, dem ÖFC, der gerade vier Tage lang sein 100-jähriges Bestehen feiert oder in einer der örtlichen Tanzgruppen, man mischt mit im Karnevalsverein, oder in einer der Chorgruppe, manche sind sogar Mitglied in mehreren dieser Vereine. Sie sprechen den Etjer Dialekt, nahezu unverständlich für eine Person aus Berlin, Zugereiste, solche aus Dörfern der näheren Umgebung sprechen anders und es braucht Zeit, bis sie sich als dazugehörig empfinden können. Man kennt sich, man ist sich freundschaftlich verbundenen in kleineren Gruppen, man ist fest verankert, aufgehoben, im Guten wie im Schlechten.
Heute Nacht auf dem Dorffest um 2 Uhr, nach der Beleuchtungsprobe, unter schwer ertragbarer Beschallung mit Mallorca-Pop, war klar, wer nach Hause gebracht werden mußte und wer es allein schaffen würde.
Ich lerne zauberhafte Menschen kennen. Freundlich, lustig und sozial. Sie leben anders als ich. Ich bin Großstädter, für mich ist das hier Exotik, aber wer bin ich, über irgendetwas zu urteilen?
Ich habe mich trotz grauenhafter Musik sehr gut amüsiert, habe gelacht, getanzt und Blutwurz getrunken.
Die Pflanzenart Blutwurz (Potentilla erecta), auch Dilledapp, Durmentill, Natter(n)wurz, Rotwurz, Ruhrwurz, Siebenfinger oder Tormentill genannt, gehört zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae) ...
im Bayerischen Wald, wird aus Blutwurz ein Likör oder Schnaps hergestellt, der als Digestif gereicht wird, schreibt Wiki
Heute Abend gehen wir wieder in die Disco
Wochenende voll normal
Wenn keine Kohle ab ins Dispo
Doch das ist uns scheissegal
Denn wenn der DJ wieder gar nicht geht
Ohoheyo
Und wieder mal die Mukke leise dreht
Ohoheyo
Dann hab ich für ihn eine Frage parat
Ohoheyo
Und hoff das er sie auch beantworten mag
Wie heißt die Mutter von Niki Lauda?
Mama Laudaaa, Mama Laudaaa
Wie heißt die Mutter von Niki Lauda?
Mama Laudaaa, Mama Laudaaa
Mach mal lauter!
Sonntag, 2. Juni 2019
Freitag, 24. Mai 2019
Mischpoche - Andreas Mühe
Ein Mann hat einen Vater, der hatte drei Ehefrauen und mit ihnen fünf Kinder. Der Mann will seine Geschichte, das Gewebe seiner Familie untersuchen, vielleicht um etwas über sich selbst zu begreifen. Einige seiner Vorfahren sind am Leben, andere sind tot, manche sind früher, als üblicherweise erwartbar, aus dem Leben gegangen. Eine Familienaufstellung mit Menschen und Wachspuppen.
Als ich zum ersten Mal von diesem Vorhaben gehört habe, war ich schockiert. In einer Ausstellung von Werken des Photographen hing, irgendwie alles beherrschend, ein Bild seines Vaters Ulrich Mühe, als Nachbau. Fast lebensecht.
Wenn ich mir vorstelle, meine sicher auch nicht unkomplizierte Familiengeschichte öffentlich zu machen, sie mit Hilfe meiner Kunst zu untersuchen, wird mir ganz blümerant. Wie könnte ich diese Menschen, die ich in ihrer ganzen Anstrengendheit, ihrer letztendlich unerklärbaren Widersprüchlichkeit liebe, veröffentlichen, ohne ihnen Vereinfachung, also Gewalt anzutun?
Ich habe Ulli Mühe etwas gekannt, nicht intim, aber in Zuneigung, er war, in meinen Augen, unfassbar begabt, lustig, ambitioniert, direkt, verborgen, zynisch und zart.
Andreas Mühe habe ich, durch seine Bilder, letztes Jahr kennengelernt. Saugwirkung hatten sie. Sie zwangen mich zu schauen, zu staunen. Merkel und Kohl, anders als bekannt, deutsche Männer in deutscher Landschaft, deutsche Häuser - Faszination.
Heute habe ich seine "Mischpoche"-Austellung gesehen. Viele verstörende kleine Bilder, einige größere schwarz-weiß im Spotlight, aber dann sehe ich die zwei zentralen großformatigen Arbeiten und erkalte.
Sich "nackt machen" ist furchtbar gefährlich, weil man nicht alles in der Hand haben kann, was dann zu sehen sein wird.
Mühe erschafft mit seinen Vorarbeiten eine Erwartung, die er nicht einlöst. Zwei große Photographien ohne Krisen. Zwei Ausweichmanöver. Völlig verständlich. Aber weil er seinen Titel wählte, Mischpoche, hat er in mir eine Erwartung geweckt, und der waren diezentralen Bilder nicht gewachsen.
Jiddisch ist ein tückischer Dialekt. Seine Worte bedeuten nicht immer das gleiche, je nachdem wer sie verwendet.
Mischpoche - deine Familie, mit all ihren schmutzigen Ecken und ihrer Liebe. Etwas, das Du dringend benötigst, selbst wenn Du sie erwürgen möchtest. Das wäre meine Definition.
Selbstentblößung ist trendy. Aber Herr Mühe ist, so habe ich es empfunden, die letzte Kurve nicht gefahren . Entweder / Oder. Ich will nicht darüber reden. Er will es und traut sich dann doch nicht.
WIKI: Mischpoke, auch Mischpoche oder Muschpoke, ist ein auf das hebräische מִשְׁפָּחָה ([miʃpa'χa] ‚Familie‘) zurückgehender Jiddismus in der Bedeutung ‚Familie, Gesellschaft, Sippschaft‘, der Anfang des 19. Jahrhunderts in der abwertenden Bedeutung ‚Gesindel, Diebesbande‘ in die deutsche Umgangssprache übernommen wurde. Während die Bezeichnung im Jiddischen wertneutral verwendet wird, hat das Wort im Deutschen häufig eine abwertende Bedeutung. Der Duden, der den Begriff 1941 aufnahm, definiert Mischpoke heute als salopp abwertend in der Bedeutung „jemandes Familie, Verwandtschaft“ und „üble Gesellschaft, Gruppe von unangenehmen Leuten“
Als ich zum ersten Mal von diesem Vorhaben gehört habe, war ich schockiert. In einer Ausstellung von Werken des Photographen hing, irgendwie alles beherrschend, ein Bild seines Vaters Ulrich Mühe, als Nachbau. Fast lebensecht.
Wenn ich mir vorstelle, meine sicher auch nicht unkomplizierte Familiengeschichte öffentlich zu machen, sie mit Hilfe meiner Kunst zu untersuchen, wird mir ganz blümerant. Wie könnte ich diese Menschen, die ich in ihrer ganzen Anstrengendheit, ihrer letztendlich unerklärbaren Widersprüchlichkeit liebe, veröffentlichen, ohne ihnen Vereinfachung, also Gewalt anzutun?
Ich habe Ulli Mühe etwas gekannt, nicht intim, aber in Zuneigung, er war, in meinen Augen, unfassbar begabt, lustig, ambitioniert, direkt, verborgen, zynisch und zart.
Andreas Mühe habe ich, durch seine Bilder, letztes Jahr kennengelernt. Saugwirkung hatten sie. Sie zwangen mich zu schauen, zu staunen. Merkel und Kohl, anders als bekannt, deutsche Männer in deutscher Landschaft, deutsche Häuser - Faszination.
Heute habe ich seine "Mischpoche"-Austellung gesehen. Viele verstörende kleine Bilder, einige größere schwarz-weiß im Spotlight, aber dann sehe ich die zwei zentralen großformatigen Arbeiten und erkalte.
Sich "nackt machen" ist furchtbar gefährlich, weil man nicht alles in der Hand haben kann, was dann zu sehen sein wird.
Mühe erschafft mit seinen Vorarbeiten eine Erwartung, die er nicht einlöst. Zwei große Photographien ohne Krisen. Zwei Ausweichmanöver. Völlig verständlich. Aber weil er seinen Titel wählte, Mischpoche, hat er in mir eine Erwartung geweckt, und der waren diezentralen Bilder nicht gewachsen.
Jiddisch ist ein tückischer Dialekt. Seine Worte bedeuten nicht immer das gleiche, je nachdem wer sie verwendet.
Mischpoche - deine Familie, mit all ihren schmutzigen Ecken und ihrer Liebe. Etwas, das Du dringend benötigst, selbst wenn Du sie erwürgen möchtest. Das wäre meine Definition.
Selbstentblößung ist trendy. Aber Herr Mühe ist, so habe ich es empfunden, die letzte Kurve nicht gefahren . Entweder / Oder. Ich will nicht darüber reden. Er will es und traut sich dann doch nicht.
WIKI: Mischpoke, auch Mischpoche oder Muschpoke, ist ein auf das hebräische מִשְׁפָּחָה ([miʃpa'χa] ‚Familie‘) zurückgehender Jiddismus in der Bedeutung ‚Familie, Gesellschaft, Sippschaft‘, der Anfang des 19. Jahrhunderts in der abwertenden Bedeutung ‚Gesindel, Diebesbande‘ in die deutsche Umgangssprache übernommen wurde. Während die Bezeichnung im Jiddischen wertneutral verwendet wird, hat das Wort im Deutschen häufig eine abwertende Bedeutung. Der Duden, der den Begriff 1941 aufnahm, definiert Mischpoke heute als salopp abwertend in der Bedeutung „jemandes Familie, Verwandtschaft“ und „üble Gesellschaft, Gruppe von unangenehmen Leuten“
Game of Thrones und Avengers - SPOILER - alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
Vorausgeschickt: ich bin ein Trash-Junkie. Superhelden-Filme, Phantasy-Serien, Science-Fiction-Bücher, wenn sie nicht nur kurzschlüssig sadistische Gewaltphantasien, billigen Eskapismus oder vermummten Patriotismus bieten, sind mir ein tiefes Vergnügen.
Als kleines Kind habe ich "Reise in die Urzeit" gesehen, einen zauberhaften tschechischen Film und war verzaubert. Das war lange Zeit vor Greenscreen und digitalen Wundertricks. "Die Reise zum Mond" von Georges Méliès, "Tarantula", die Erstverfilmung "Der Fliege", "Die Reise zum Mittelpunktder Erde", alles, was Asimov geschrieben hat, Arthur C. Clarke, und und und dann mit 20 die drei Bände vom "Herrn der Ringe" mit den hunderten Seiten von Anhang und dem Simarillon - zwei Wochen lag der letzte Band hoch oben auf meinem Kleiderschrank, weil ich das Ende ahnte, aber noch nicht zu ertragen vermochte.
1
Game of Thrones in seiner letzten Staffel, die größte Schlacht geschlagen, mehr Teilnehmer haben überlebt, als erwartet.
Wer soll den Thron besteigen? Wer wird den Thron besteigen?
Über welche Leichen muß er oder sie dazu klimmen?
Wird der Thron ihn oder sie bis zur Unkenntlichkeit verändern?
2
Ich vermute, es wird ein "Herr der Ringe" - Ende geben, nicht happy, nicht katastrophal, so dazwischen. Sauron tot und die Elben gehen fort, wir Übrigen muddeln einfach weiter vor uns hin. Mittelerde mit mittelguten Menschen halt.
3
GoT, letzte Episode: der Thron wurde vom letztüberlebenden Drachen zerschmolzen, dann trug er seine Toten fort, der Wiederauferstandene zieht in die Kälte, allerdings mit hoffnungsvollem einzelnen Grashalm, König der sechs Reiche ist jetzt ein esoterischer Krüppel, seine rechte Hand ein hochintelligenter Zwerg, die Minister sind alles erst vor kurzem zu Ehren Gekommene, die vielmißbrauchte Frau regiert ihr Nordreich. Wie erwartet kein Happy End, aber das bestmögliche wohl.
Mein Lieblingsstelle war die Reaktion auf den Vorschlag, man könnte es doch mit Demokratie versuchen. (Morgen ist Europawahl!)
Klar ist einiges ziemlich unlogisch gelöst, geschenkt.
Aber, wie erzählt wurde, dass Unterdrückung, Verletzung, Mißbrauch Menschen nicht einfach besser machen, ja, dass es sogar eine Unverschämtheit ist, von Opfern auch noch übermenschliche Güte zu verlangen, das hat mir gefallen, das konnte ich verstehen.
3
Die Avengers haben gegen Thanos gesiegt. Und nun? Wenn die bösen, großen Feinde geschlagen sind, müssen sie sich mit sich selbst beschäftigen.
Das hat mir auch gefallen.
4
Mir wird abverlangt, viele Erzählstränge im Kopf zu behalten. Die Motive der vielen agierenden Figuren changieren zwischen weiß, schwarz und grau, und ich kann mich nicht auf simple, gradlinige Verhaltensmuster verlassen. Man läßt mir Zeit. Shakespeare hatte Worte, diese Filme haben Bilder.
5
Game of Thrones verbirgt einen Teil seiner Geschichte in unterbeleuchteten Schlachtszenen, die Avengers sehen entweder erschreckend ausgezehrt aus wie Iron Man oder weichgezeichnet wie Captain America in der entscheidenden Sekunde ihres Todes. Frauen sind stark und solidarisch. Und manchmal keineswegs solidarisch. Beides mag ich.
Irgendwann müssen unsere Helden aufhören heldisch zu sein und das Leben muß weitergehen.
6
Trump ist scheinbar blöde, aber sehr effektiv. Ein böser Narziss, der exzellent, außergewöhnlich gut lügt. Ein Superheld der modernen Art.
https://www.nzz.ch/international/steve-bannon-im-interview-bruessel-wird-zu-stalingrad-ld.1481934?mktcid=nled&mktcval=107_2019-05-16&kid=_2019-5-15&fbclid=IwAR1QIXLowm3MvvGZ7rDmsAw3i2GSwOWOy0WX9t4_SQ2bVYfs1J056Bmsxbo
Als kleines Kind habe ich "Reise in die Urzeit" gesehen, einen zauberhaften tschechischen Film und war verzaubert. Das war lange Zeit vor Greenscreen und digitalen Wundertricks. "Die Reise zum Mond" von Georges Méliès, "Tarantula", die Erstverfilmung "Der Fliege", "Die Reise zum Mittelpunktder Erde", alles, was Asimov geschrieben hat, Arthur C. Clarke, und und und dann mit 20 die drei Bände vom "Herrn der Ringe" mit den hunderten Seiten von Anhang und dem Simarillon - zwei Wochen lag der letzte Band hoch oben auf meinem Kleiderschrank, weil ich das Ende ahnte, aber noch nicht zu ertragen vermochte.
1
Game of Thrones in seiner letzten Staffel, die größte Schlacht geschlagen, mehr Teilnehmer haben überlebt, als erwartet.
Wer soll den Thron besteigen? Wer wird den Thron besteigen?
Über welche Leichen muß er oder sie dazu klimmen?
Wird der Thron ihn oder sie bis zur Unkenntlichkeit verändern?
2
Ich vermute, es wird ein "Herr der Ringe" - Ende geben, nicht happy, nicht katastrophal, so dazwischen. Sauron tot und die Elben gehen fort, wir Übrigen muddeln einfach weiter vor uns hin. Mittelerde mit mittelguten Menschen halt.
3
GoT, letzte Episode: der Thron wurde vom letztüberlebenden Drachen zerschmolzen, dann trug er seine Toten fort, der Wiederauferstandene zieht in die Kälte, allerdings mit hoffnungsvollem einzelnen Grashalm, König der sechs Reiche ist jetzt ein esoterischer Krüppel, seine rechte Hand ein hochintelligenter Zwerg, die Minister sind alles erst vor kurzem zu Ehren Gekommene, die vielmißbrauchte Frau regiert ihr Nordreich. Wie erwartet kein Happy End, aber das bestmögliche wohl.
Mein Lieblingsstelle war die Reaktion auf den Vorschlag, man könnte es doch mit Demokratie versuchen. (Morgen ist Europawahl!)
Klar ist einiges ziemlich unlogisch gelöst, geschenkt.
Aber, wie erzählt wurde, dass Unterdrückung, Verletzung, Mißbrauch Menschen nicht einfach besser machen, ja, dass es sogar eine Unverschämtheit ist, von Opfern auch noch übermenschliche Güte zu verlangen, das hat mir gefallen, das konnte ich verstehen.
3
Die Avengers haben gegen Thanos gesiegt. Und nun? Wenn die bösen, großen Feinde geschlagen sind, müssen sie sich mit sich selbst beschäftigen.
Das hat mir auch gefallen.
4
Mir wird abverlangt, viele Erzählstränge im Kopf zu behalten. Die Motive der vielen agierenden Figuren changieren zwischen weiß, schwarz und grau, und ich kann mich nicht auf simple, gradlinige Verhaltensmuster verlassen. Man läßt mir Zeit. Shakespeare hatte Worte, diese Filme haben Bilder.
5
Game of Thrones verbirgt einen Teil seiner Geschichte in unterbeleuchteten Schlachtszenen, die Avengers sehen entweder erschreckend ausgezehrt aus wie Iron Man oder weichgezeichnet wie Captain America in der entscheidenden Sekunde ihres Todes. Frauen sind stark und solidarisch. Und manchmal keineswegs solidarisch. Beides mag ich.
Irgendwann müssen unsere Helden aufhören heldisch zu sein und das Leben muß weitergehen.
6
Trump ist scheinbar blöde, aber sehr effektiv. Ein böser Narziss, der exzellent, außergewöhnlich gut lügt. Ein Superheld der modernen Art.
Steve Bannon, übergewichtig, schlau, skrupellos, flexibel, ergebnisorientiert. Ein gefährlichr Mann, denke ich. |
Freitag, 10. Mai 2019
Freilichttheater - ein Riesenpuzzle
Etwa 40 Rollenträger, 90 Statisten, hier Volk genannt, ein Chor mit 120 Sängern, ein Jugendchor mit fast 40, zwei Tanzgruppen, eine Gauklertruppe, ein Zupforchester, ein Stuntpferd, 14 Reit- und Kutschpferde, ein Esel, drei Ziegen, ein Hund, zwei Kutschen, ein Schlitten, ein Streitwagen, Pyrotechnik, Wind- und Schneemaschinen, ein luftbetriebenes Seeungeheuer, elf Bilderrahmen, eine halbe Erde plus 500 Kostüme, inclusive Perücken und falschen Bärten
- das alles sind Teile des Puzzles, das zusammengesetzt werden will, damit Ende Juni viele Tausende Menschen, die Abenteuer des Barons Münchhausen auf der Bühne der Volksschauspiele in Ötigheim erleben können. Es wird acht Vorstellungen bei hellem Tageslicht und vier in abendlich-beleuchteter Atmosphäre geben.
Abendproben sind unter der Woche, meist die einzig möglichen, weil außer dem Darsteller des Münchhausen, alle Mitwirkenden Amateure sind und also tagsüber arbeiten. Arbeiten in unterschiedlichsten Bereichen, als Zollbeamte, Krankenschwestern, Hoteliers, Steuerberater, Kernkraftwerker, IT-Spezialisten, Bankangestellte, Lehrer usw. und dann kommen sie vom Dienst und proben. Haushalt, Familie und all das läuft auch noch nebenbei.
Manche, die meisten, sind wach und spiellustig und energiegeladen, andere beflissen, einige müde, wenige faul. Viele Mitspieler haben vor 40, 50 Jahren begonnen an den Aufführungen teilzunehmen, andere sind nahezu jungfräulich. Alt, jung, extrovertiert und schüchtern, mit schneller Auffassungsgabe und gutem Gedächtnis und langsam und vergesslich, alle Varianten gibt es.
An einem regnerischen Abend stehen sieben Rollenträger aka Darsteller auf der gigantischen Bühne, 150 Meter breit und mit Schloß, See, Gebirge, Haus und Rasen bestückt und werfen sich Sätze zu, die Erich Kästner 1942 geschrieben hat. Er hatte seit 1933, als auch seine Bücher verbrannt worden waren, Schreib- und Publikationsverbot und durft nun mit einer Sondererlaubnis von Goebbels das Drehbuch für einen Aufmunterungsfilm der UFA mit Hans Albers in der Hauptrolle schreiben. Was für ein hartes Dilemma! Und er mußte unter einem Pseudonym schreiben: Bertolt Bürger. Irrsinn. Die Belagerung Stalingrads durch die deutsche Armee stand kurz vor der Niederlage und Kästner muß ein heiteres Drehbuch verfassen. Die Schizophrenie der Situation macht den Text besonders.
Meist fehlen zwei oder drei Spieler aus dienstlichen oder persönlichen Gründen, das Volk kommt hin- und wieder, die Pferde etc. auch. Die technischen Gewerke sind Zauberer der besten Art, kommen aber erst gegen Ende zum Einsatz.
Also muß man sich Vieles vorstellen, die Effekte, die vollständige Besetzung, die Tierdarsteller, mal wird es kunstvoll beleuchtet sein, mal einfach sommerlich hell, mal regnerisch, mal sonnendurchflutet. Mein Kopf raucht, aber auf gute Art.
Wie erschafft man Winter in gleißendem Sonnenlicht? Wie wird es stockdunkel um 3 Uhr nachmittag?
Ich liebe es. Das ist Theater pur. Im Globe muß es ähnlich gelaufen sein, ohne Lichteffekte, aber mit Imagination.
Noch sechs Wochen. Ich bin so gespannt.
- das alles sind Teile des Puzzles, das zusammengesetzt werden will, damit Ende Juni viele Tausende Menschen, die Abenteuer des Barons Münchhausen auf der Bühne der Volksschauspiele in Ötigheim erleben können. Es wird acht Vorstellungen bei hellem Tageslicht und vier in abendlich-beleuchteter Atmosphäre geben.
Abendproben sind unter der Woche, meist die einzig möglichen, weil außer dem Darsteller des Münchhausen, alle Mitwirkenden Amateure sind und also tagsüber arbeiten. Arbeiten in unterschiedlichsten Bereichen, als Zollbeamte, Krankenschwestern, Hoteliers, Steuerberater, Kernkraftwerker, IT-Spezialisten, Bankangestellte, Lehrer usw. und dann kommen sie vom Dienst und proben. Haushalt, Familie und all das läuft auch noch nebenbei.
Manche, die meisten, sind wach und spiellustig und energiegeladen, andere beflissen, einige müde, wenige faul. Viele Mitspieler haben vor 40, 50 Jahren begonnen an den Aufführungen teilzunehmen, andere sind nahezu jungfräulich. Alt, jung, extrovertiert und schüchtern, mit schneller Auffassungsgabe und gutem Gedächtnis und langsam und vergesslich, alle Varianten gibt es.
An einem regnerischen Abend stehen sieben Rollenträger aka Darsteller auf der gigantischen Bühne, 150 Meter breit und mit Schloß, See, Gebirge, Haus und Rasen bestückt und werfen sich Sätze zu, die Erich Kästner 1942 geschrieben hat. Er hatte seit 1933, als auch seine Bücher verbrannt worden waren, Schreib- und Publikationsverbot und durft nun mit einer Sondererlaubnis von Goebbels das Drehbuch für einen Aufmunterungsfilm der UFA mit Hans Albers in der Hauptrolle schreiben. Was für ein hartes Dilemma! Und er mußte unter einem Pseudonym schreiben: Bertolt Bürger. Irrsinn. Die Belagerung Stalingrads durch die deutsche Armee stand kurz vor der Niederlage und Kästner muß ein heiteres Drehbuch verfassen. Die Schizophrenie der Situation macht den Text besonders.
Meist fehlen zwei oder drei Spieler aus dienstlichen oder persönlichen Gründen, das Volk kommt hin- und wieder, die Pferde etc. auch. Die technischen Gewerke sind Zauberer der besten Art, kommen aber erst gegen Ende zum Einsatz.
Also muß man sich Vieles vorstellen, die Effekte, die vollständige Besetzung, die Tierdarsteller, mal wird es kunstvoll beleuchtet sein, mal einfach sommerlich hell, mal regnerisch, mal sonnendurchflutet. Mein Kopf raucht, aber auf gute Art.
Wie erschafft man Winter in gleißendem Sonnenlicht? Wie wird es stockdunkel um 3 Uhr nachmittag?
Ich liebe es. Das ist Theater pur. Im Globe muß es ähnlich gelaufen sein, ohne Lichteffekte, aber mit Imagination.
Noch sechs Wochen. Ich bin so gespannt.
Samstag, 4. Mai 2019
Gelbwesten, AfDler, Brexeteers und andere Irritationen
Gelbwesten, AfD, Brexeteers und die Europawahl
...Wenn die klassischen Formen der sozialpolitischen Auseinandersetzung nicht mehr funktionieren, dann entstehen eben andere, die radikaler und unvorhersehbarer sind. Aber das ist das Werk unseres neoliberalen Regimes. (Louis)
Zu bestimmten, den genau richtigen Zeitpunkten stolpere ich in Bücher. Bücher, die ich dringend benötige, auch wenn das ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wußte.
Sie werfen sich mir in den Weg und verlangen, gelesen zu werden.
Und jede neue Produktion beginnt damit, dass ich Bücher sammle, manche zum Thema, manche drumherum, einige völlig abwegig. Verschieden viele, je nach Stück. Bei "Sie können Gott zu mir sagen" wurde es ein laufender Meter. Jetzt ist es "Hase Hase" und in diesem Herbst werde ich "Die Tage der Commune" inszenieren, eins von Brechts zärtlichsten Stücken, in dem die Familie Cabot, mehr oder weniger zufällig, Teil eines Aufstandes wird, einer Revolte gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sie blüht auf und wird dann binnen Kurzem vollständig vernichtet. Es wird sicher einiges an Lektüre zusammenkommen.
... ebenfalls sehr wichtig und bewegend ist die Tatsache, dass die Herrschenden sich fürchten. Sie haben Angst, und das ist wundervoll. Die Gewalt und die Zerstörungen machen der herrschenden Klasse Angst, sie teilen endlich die Erfahrung, die das Leben von so vielen Menschen permanent beherrscht.
https://www.republik.ch/2019/01/12/die-herrschenden-haben-angst-und-das-ist-wundervoll
Also: Charles Townshend schreibt über Terrorismus, Florian Grams betrachtet die Pariser Commune aus neo-marxistischer Sicht, C.G. Jungs Archetypen sind immer wichtig. Proudhon, Marx, Zeitdokumente, die Brüder Goncourt, Rimbaud, ...
Aber auch Didier Eribon und Édouard Louis, die über ihre Kindheit in Arbeiterfamilien, ihren harterkämpften Ausbruch aus den ihnen unausweichlich erscheinenden engen Lebenswegen, ihre persönlichen Siege und schlußendlich über den Preis, den sie dafür gezahlt haben, schreiben. Zwei erwachsene Männer, Schriftsteller, Lehrer treffen auf ihre Väter, nun alt, Arbeiter, ohne Schulabschluß, zornig ob ihrer unerfüllten Träume, zerstört durch harte Arbeit und hartes Leben. Welche Möglichkeiten sind da unwiderruflich verloren gegangen. Jetzt schreibt Eribon über seine Mutter.
Wer sie beleidigt, beleidigt meinen Vater ...
Als ich die ersten Bilder der Gelbwesten sah, empfand ich einen Schock, der schwer zu beschreiben ist. Auf den Fotos zu den vielen Artikeln sah man Körper, die im medialen und öffentlichen Raum fast immer unsichtbar bleiben. Leidende Körper. Körper, die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung durch die Herrschenden verwüstet sind, die gezeichnet sind von räumlicher und sozialer Ausgrenzung. Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände.
Der Mauerfall und meiner völligen Vorahnungslosigkeit bezüglich der Wiedervereinigung zweier einander mir gänzlich fremd scheinder Länder, hat bei mir 1990 zu einem erschrocken beschämten Rückzug aus der Politik geführt. Meine augenblickliche Lektüre repolitisiert mich. Macht mich wacher. Wach sein ist gut, aber was sehe ich, aufgeweckt? Esoterisches Geschwafel, Bösartigkeit verschiedenster Art, Empathiemangel, Hilflosigkeit, Hass, Wut, Identitätsgerangel.
Auf der einen Seite irritiert mich das ungenaue, verallgemeinernde Gerede über weiße Privilegien, auf der anderen, begreife ich, dass ich ein Besitzer eben dieser Privilegien bin.
What the fuck? Worüber reden wir überhaupt? Wer bin ich? Wofür bin ich? Für wen? Und warum?
Und dann begann ich über die anstehende Europawahl nachzudenken und fiel in mich zusammen, wie eine durchlöcherte Luftmatratze. Ich habe den Wahlomat zur Europawahl getestet, und er empfiehlt mir Volt zu wählen. What the Fuck? Von der Partei habe ich noch nie ein Wort gehört. Nachgeguckt, steht ganz unten auf der Liste. Klingt nett. Die Werbung ist liebenswürdig, handgemacht und aufmunternd nichtssagend. Vier Tierschutzparteien gibt es und eine für Gesundheit, eine für Liebe und eine für Frauen. Und welche ganz rechts, ganz links, ganz irgendwas. Manche sind so klein, dass man seinen Wahlzettel genausogut als Grußkarte verschicken könnte, die Großen sind so verfettet und ausgehöhlt, dass sie eigentlich nur noch PD oder U heißen sollten und keiner eine Karte von denen kriegen mag. Was wählen? Regen oder Traufe? Verfaulte Äpfel oder unreife Papayas? Chancenlos oder die Chance nicht verdienend?
Was wählen? Die verflixte Demokratie verlangt mir Teilnahme ab. Ich muß mich informieren, muß nachdenken, muß mich entscheiden.
Die beste Ausrede ist immer, hat ja alles keinen Sinn, macht ja eh keinen Unterschied. Aber für diese Ausrede habe ich zu lang in einem Land gelebt, in dem eine Partei immer fast neunundneunzig (in Zahlen 99) Prozent aller Stimmen "gewann".
Ich leide keinen Mangel, aber viele andere tun es. Mangel an Geld, an Hoffnung, Zuversicht. Und einige auch Mangel an Hirn, Anstand und Mitgefühl. Aber das sind halt auch meine Mitbürger, berechtigt zu wählen, selbst wenn ich denke, sie sind zu ignorant und faul, um zwischen Nektar und Deck zu unterscheiden.
Was wählen?
https://www.voltdeutschland.org/partei
"Ich leide", kann man auf ganz verschiedene Weisen sagen. Eine soziale Bewegung ist der Moment einer Möglichkeit, dass Leidende etwas anderes sagen als: "Ich leide unter der Einwanderung und weil meine Nachbarin Sozialhilfe erhält." Dass sie sagen: "Ich leide unter denjenigen, die regieren. Ich leide am Klassensystem. Ich leide unter Emmanuel Macron und Édouard Philippe." Im Moment der sozialen Bewegung wanken alte Sprachmuster, kann die Sprache selbst subvertiert werden. Genau das sieht man seit einigen Tagen. Das Vokabular der Gelbwesten ändert sich. Anfangs hörte man nur von Benzinpreisen, manchmal auch von "Transferempfängern". Jetzt ändert sich der Ton. Es geht um Ungleichheit, höhere Löhne, Gerechtigkeit. (Louis)
https://www.zeit.de/kultur/2018-12/gelbwesten-frankreich-gesellschaft-sozialitaet-klassen-gewalt-edouard-louis
...Wenn die klassischen Formen der sozialpolitischen Auseinandersetzung nicht mehr funktionieren, dann entstehen eben andere, die radikaler und unvorhersehbarer sind. Aber das ist das Werk unseres neoliberalen Regimes. (Louis)
Zu bestimmten, den genau richtigen Zeitpunkten stolpere ich in Bücher. Bücher, die ich dringend benötige, auch wenn das ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wußte.
Sie werfen sich mir in den Weg und verlangen, gelesen zu werden.
Und jede neue Produktion beginnt damit, dass ich Bücher sammle, manche zum Thema, manche drumherum, einige völlig abwegig. Verschieden viele, je nach Stück. Bei "Sie können Gott zu mir sagen" wurde es ein laufender Meter. Jetzt ist es "Hase Hase" und in diesem Herbst werde ich "Die Tage der Commune" inszenieren, eins von Brechts zärtlichsten Stücken, in dem die Familie Cabot, mehr oder weniger zufällig, Teil eines Aufstandes wird, einer Revolte gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sie blüht auf und wird dann binnen Kurzem vollständig vernichtet. Es wird sicher einiges an Lektüre zusammenkommen.
... ebenfalls sehr wichtig und bewegend ist die Tatsache, dass die Herrschenden sich fürchten. Sie haben Angst, und das ist wundervoll. Die Gewalt und die Zerstörungen machen der herrschenden Klasse Angst, sie teilen endlich die Erfahrung, die das Leben von so vielen Menschen permanent beherrscht.
https://www.republik.ch/2019/01/12/die-herrschenden-haben-angst-und-das-ist-wundervoll
Also: Charles Townshend schreibt über Terrorismus, Florian Grams betrachtet die Pariser Commune aus neo-marxistischer Sicht, C.G. Jungs Archetypen sind immer wichtig. Proudhon, Marx, Zeitdokumente, die Brüder Goncourt, Rimbaud, ...
Aber auch Didier Eribon und Édouard Louis, die über ihre Kindheit in Arbeiterfamilien, ihren harterkämpften Ausbruch aus den ihnen unausweichlich erscheinenden engen Lebenswegen, ihre persönlichen Siege und schlußendlich über den Preis, den sie dafür gezahlt haben, schreiben. Zwei erwachsene Männer, Schriftsteller, Lehrer treffen auf ihre Väter, nun alt, Arbeiter, ohne Schulabschluß, zornig ob ihrer unerfüllten Träume, zerstört durch harte Arbeit und hartes Leben. Welche Möglichkeiten sind da unwiderruflich verloren gegangen. Jetzt schreibt Eribon über seine Mutter.
Édouard Louis und Didier Eribon |
Als ich die ersten Bilder der Gelbwesten sah, empfand ich einen Schock, der schwer zu beschreiben ist. Auf den Fotos zu den vielen Artikeln sah man Körper, die im medialen und öffentlichen Raum fast immer unsichtbar bleiben. Leidende Körper. Körper, die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung durch die Herrschenden verwüstet sind, die gezeichnet sind von räumlicher und sozialer Ausgrenzung. Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände.
Der Mauerfall und meiner völligen Vorahnungslosigkeit bezüglich der Wiedervereinigung zweier einander mir gänzlich fremd scheinder Länder, hat bei mir 1990 zu einem erschrocken beschämten Rückzug aus der Politik geführt. Meine augenblickliche Lektüre repolitisiert mich. Macht mich wacher. Wach sein ist gut, aber was sehe ich, aufgeweckt? Esoterisches Geschwafel, Bösartigkeit verschiedenster Art, Empathiemangel, Hilflosigkeit, Hass, Wut, Identitätsgerangel.
Auf der einen Seite irritiert mich das ungenaue, verallgemeinernde Gerede über weiße Privilegien, auf der anderen, begreife ich, dass ich ein Besitzer eben dieser Privilegien bin.
What the fuck? Worüber reden wir überhaupt? Wer bin ich? Wofür bin ich? Für wen? Und warum?
Und dann begann ich über die anstehende Europawahl nachzudenken und fiel in mich zusammen, wie eine durchlöcherte Luftmatratze. Ich habe den Wahlomat zur Europawahl getestet, und er empfiehlt mir Volt zu wählen. What the Fuck? Von der Partei habe ich noch nie ein Wort gehört. Nachgeguckt, steht ganz unten auf der Liste. Klingt nett. Die Werbung ist liebenswürdig, handgemacht und aufmunternd nichtssagend. Vier Tierschutzparteien gibt es und eine für Gesundheit, eine für Liebe und eine für Frauen. Und welche ganz rechts, ganz links, ganz irgendwas. Manche sind so klein, dass man seinen Wahlzettel genausogut als Grußkarte verschicken könnte, die Großen sind so verfettet und ausgehöhlt, dass sie eigentlich nur noch PD oder U heißen sollten und keiner eine Karte von denen kriegen mag. Was wählen? Regen oder Traufe? Verfaulte Äpfel oder unreife Papayas? Chancenlos oder die Chance nicht verdienend?
Was wählen? Die verflixte Demokratie verlangt mir Teilnahme ab. Ich muß mich informieren, muß nachdenken, muß mich entscheiden.
Die beste Ausrede ist immer, hat ja alles keinen Sinn, macht ja eh keinen Unterschied. Aber für diese Ausrede habe ich zu lang in einem Land gelebt, in dem eine Partei immer fast neunundneunzig (in Zahlen 99) Prozent aller Stimmen "gewann".
Ich leide keinen Mangel, aber viele andere tun es. Mangel an Geld, an Hoffnung, Zuversicht. Und einige auch Mangel an Hirn, Anstand und Mitgefühl. Aber das sind halt auch meine Mitbürger, berechtigt zu wählen, selbst wenn ich denke, sie sind zu ignorant und faul, um zwischen Nektar und Deck zu unterscheiden.
Was wählen?
https://www.voltdeutschland.org/partei
"Ich leide", kann man auf ganz verschiedene Weisen sagen. Eine soziale Bewegung ist der Moment einer Möglichkeit, dass Leidende etwas anderes sagen als: "Ich leide unter der Einwanderung und weil meine Nachbarin Sozialhilfe erhält." Dass sie sagen: "Ich leide unter denjenigen, die regieren. Ich leide am Klassensystem. Ich leide unter Emmanuel Macron und Édouard Philippe." Im Moment der sozialen Bewegung wanken alte Sprachmuster, kann die Sprache selbst subvertiert werden. Genau das sieht man seit einigen Tagen. Das Vokabular der Gelbwesten ändert sich. Anfangs hörte man nur von Benzinpreisen, manchmal auch von "Transferempfängern". Jetzt ändert sich der Ton. Es geht um Ungleichheit, höhere Löhne, Gerechtigkeit. (Louis)
https://www.zeit.de/kultur/2018-12/gelbwesten-frankreich-gesellschaft-sozialitaet-klassen-gewalt-edouard-louis
Donnerstag, 2. Mai 2019
Der Funktionär - „Ja, es war eine Illusion, aber ich möchte den Glauben nicht aufgeben.“
Klaus Gysi war dreimal verheiratet und diesen Ehen entsprangen sieben Kinder oder waren es acht? Wikipedia nennt nur zwei, Gregor und Gabriele. Wie unaufmerksam.
Klaus Gysi war Kommunist, oder Mitglied kommunistischer Organisationen, seitdem er mit 16 Jahren die Tötung eines streikenden Arbeiters durch die Berliner Polizei aus dem Fenster seiner elterlichen Wohnung beobachtet hatte. Eine Anekdote, die sich im Lauf der Jahre in eine Saulus/Paulus Erweckungsgeschichte verwandelte. Was sicher als tiefes Betroffenheitserlebnis begann, verbog sich, so wirkt es auf mich, zur Ausrede für jeden eingegangenen, eigentlich unerträglichen und unentschuldbaren Kompromiss.
1940, als Kommunist mit jüdischen Vorfahren nach Frankreich geflohen, kehrt er auf Befehl der Partei, mit seiner ersten Frau Irene nach Berlin zurück und überlebte, wie auch immer, die schwarzen Jahre.
Klaus Gysi hat ein schönes Gesicht mit sinnlichem Mund und intelligenten Augen. Und dann sehe ich ihn in Sendungen des Fernsehens der DDR leere, dumme Worthülsen plappern, die Haltung ist intelektuell, der Inhalt nicht, er ist hohl, falsch, unwahr.
Er war Leiter des Aufbau-Verlages nach Jankas Verhaftung, später Kulturminister - eine Karriere, zwar mit Absturzgefährdungen, aber eben doch eine Karriere, in der DDR, durch dick und immer dünner.
"Die Entwicklung des sozialistischen Menschen steht im Mittelpunkt unserer Arbeit." Solcher Mist in gutformulierten Varianten in Gesprächsrunden über viele Jahre. "Wie gut sich die Menschen entwickelt haben." Gysi ist Ulbrichts Liebling. "Wir arbeiten an einem Konzept für die Unterstützung der Entwicklung der Menschen." Gysi gerät, nach dem Sturz Ulbrichts in Schwierigkeiten. Unter Honecker wird er Botschafter in Italien, dann Staatssekretär für Kirchenfragen. Er hat die geladenen Kirchenvertreter scheinbar oft so zugetextet, dass sie vergaßen, ihre Anliegen vorzutragen.
Ein leiser, fast schmerzhaft spracharmer Film, Photos von Andreas Goldstein aus den 80ern und 90ern, manche unscharf, Ausschnitte aus Propaganda - aka Gesprächs-Sendungen des Fernsehens der DDR horrender Art wechseln sich ab, darunter ein wenig zu monoton und gelegentlich weinerlich Goldsteins Stimme...
Brasch, Gysi, Goldstein und und, eine Generation, mit bewunderungswürdigen Absichten angetreten, von den Zeitläuften gebeutelt und erschüttert, überlebt habend durch Aufgabe, all dessen, was sie ausmachte. „Ja, es war eine Illusion, aber ich möchte den Glauben nicht aufgeben.“ Was für ein schrecklicher Satz. Lieber die Lüge weiterglauben, als die Niederlage einzugestehen.
Über die Opfer die eine solche Lebenslüge forderte, spricht der Film nicht.
Ein sehr trauriger Film.
http://www.taz.de/!5584814/
Klaus Gysi war Kommunist, oder Mitglied kommunistischer Organisationen, seitdem er mit 16 Jahren die Tötung eines streikenden Arbeiters durch die Berliner Polizei aus dem Fenster seiner elterlichen Wohnung beobachtet hatte. Eine Anekdote, die sich im Lauf der Jahre in eine Saulus/Paulus Erweckungsgeschichte verwandelte. Was sicher als tiefes Betroffenheitserlebnis begann, verbog sich, so wirkt es auf mich, zur Ausrede für jeden eingegangenen, eigentlich unerträglichen und unentschuldbaren Kompromiss.
1940, als Kommunist mit jüdischen Vorfahren nach Frankreich geflohen, kehrt er auf Befehl der Partei, mit seiner ersten Frau Irene nach Berlin zurück und überlebte, wie auch immer, die schwarzen Jahre.
Klaus Gysi hat ein schönes Gesicht mit sinnlichem Mund und intelligenten Augen. Und dann sehe ich ihn in Sendungen des Fernsehens der DDR leere, dumme Worthülsen plappern, die Haltung ist intelektuell, der Inhalt nicht, er ist hohl, falsch, unwahr.
Er war Leiter des Aufbau-Verlages nach Jankas Verhaftung, später Kulturminister - eine Karriere, zwar mit Absturzgefährdungen, aber eben doch eine Karriere, in der DDR, durch dick und immer dünner.
"Die Entwicklung des sozialistischen Menschen steht im Mittelpunkt unserer Arbeit." Solcher Mist in gutformulierten Varianten in Gesprächsrunden über viele Jahre. "Wie gut sich die Menschen entwickelt haben." Gysi ist Ulbrichts Liebling. "Wir arbeiten an einem Konzept für die Unterstützung der Entwicklung der Menschen." Gysi gerät, nach dem Sturz Ulbrichts in Schwierigkeiten. Unter Honecker wird er Botschafter in Italien, dann Staatssekretär für Kirchenfragen. Er hat die geladenen Kirchenvertreter scheinbar oft so zugetextet, dass sie vergaßen, ihre Anliegen vorzutragen.
Ein leiser, fast schmerzhaft spracharmer Film, Photos von Andreas Goldstein aus den 80ern und 90ern, manche unscharf, Ausschnitte aus Propaganda - aka Gesprächs-Sendungen des Fernsehens der DDR horrender Art wechseln sich ab, darunter ein wenig zu monoton und gelegentlich weinerlich Goldsteins Stimme...
Brasch, Gysi, Goldstein und und, eine Generation, mit bewunderungswürdigen Absichten angetreten, von den Zeitläuften gebeutelt und erschüttert, überlebt habend durch Aufgabe, all dessen, was sie ausmachte. „Ja, es war eine Illusion, aber ich möchte den Glauben nicht aufgeben.“ Was für ein schrecklicher Satz. Lieber die Lüge weiterglauben, als die Niederlage einzugestehen.
Über die Opfer die eine solche Lebenslüge forderte, spricht der Film nicht.
Ein sehr trauriger Film.
http://www.taz.de/!5584814/
Dienstag, 2. April 2019
Über die Schönheit ein Essay von Susan Sonntag
Über die Schönheit
Neun Thesen - statt einer Definition
von Susan Sontag
1. Als Papst Johannes Paul II. im April zu den sexuellen Übergriffen katholischer Priester in den USA endlich Stellung nahm, sagte er vor den versammelten amerikanischen Kardinälen: „Ein großes Kunstwerk kann man verunstalten, doch seine Schönheit bleibt bestehen; und jede intellektuell redliche Kritik muss die Wahrheit dieses Satzes anerkennen. “Ist der Vergleich, den der Papst hier zwischen der katholischen Kirche und einem großen – also auch schönen – Kunstwerk zieht, nicht völlig verfehlt? Vielleicht nicht. Denn so abwegig er zu sein scheint, er gestattet es dem Papst, aus den abscheulichenVerfehlungen etwas zu machen, über das wir hinwegsehen können, das wir – wie die Kratzer auf einer alten Stummfilmkopie oder das Craquelé auf einem alten Gemälde – automatisch ausblenden. Der Papst liebt hehre Gedanken. Und als Begriff ist Schönheit seit eh und je ein probates Mittel, um Werturteilen Nachdruck zu verleihen. Dauer indes gehört nicht gerade zu den augenfälligen Merkmalen der Schönheit. Oft empfindet, wer Schönes betrachtet, jene Trauer, die uns in Shakespeares Sonetten begegnet. Traditionelle Feste zur Feier der Schönheit, zum Beispiel das Kirschblütenfest in Japan, sind unverkennbar von Schwermut umweht. Die erregendste Schönheit ist zugleich die flüchtigste, und es bedurfte etlicher Basteleien und Begriffsverrenkungen, um aus der Schönheit etwas Unvergängliches zu machen. Dabei erwies sich die Idee der Schönheit stets als so faszinierend, so stark, dass es einer Verschwendung gleichgekommen wäre, den Begriff allein zum Lob äußerlicher, oberflächlicher Schönheit zu benutzen. Ziel war, Raum zu schaffen für verschiedene Arten vonSchönheit, die sich, ihrem Wert und ihrer Unverwüstlichkeit entsprechend, in eine Rangordnung bringen ließen. Dabei wurde den metaphorischenSpielarten wie „geistige Schönheit“, „spirituelleSchönheit“ der Vorrang gegenüber all jenem eingeräumt, was die Umgangssprache als schön preist –nämlich das, was sinnliche Freude macht.
Die weniger „erhabene“ Schönheit von Gesicht und Körper ist nach wie vor der Schauplatz, wo wir das Schöne am häufigsten suchen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sich der Papst auf die Schönheit in diesem Sinne beruft, wenn er angesichts der sexuellen Belästigung von Kindern durch Geistliche und deren Vertuschung nach entlastenden Formulierungen sucht. Als besser geeignet erscheint da die „höhere“ Schönheit der Kunst. Denn auch wenn die Kunst eine Sache der Oberfläche und der sinnlichen Empfänglichkeit zu sein scheint, hat man ihr dennoch die Ehrenbürgerschaft im Bereich der „inneren“ (im Gegensatz zur „äußeren“) Schönheit angetragen. Schönheit, so scheint es, ist unwandelbar – zumindest wenn sie als Kunst daherkommt, also feste Form angenommen hat. Denn die Schönheit als ewige Idee, wird am ehesten in der Kunst verkörpert. Schönheit (wenn man das Wort in diesem Sinne verwenden will) liegt in der Tiefe, nicht an der Oberfläche; manchmal ist sie verborgen und gerade nicht offensichtlich; sie ist tröstlich, nicht verstörend; sie ist unzerstörbar wie in der Kunst, und nicht kurzlebig wie in der Natur. Schönheit – in ihrer erhabenen Spielart – ist dauerhaft.
2. Die beste Theorie der Schönheit ist ihre Geschichte. Über diese Geschichte nachzudenken heißt: zu untersuchen, wie bestimmte Gesellschaften mit der Schönheit und ihrem Begriff umgegangen sind. Manchmal werden Gesellschaften von ihren Vorderleuten regelrecht darauf eingeschworen, sich einer für verderblich erachteten Flut neuer Schönheitsideale entgegenzustellen. Sie haben kein Interesse daran, den Schutzwall zu schwächen, den ihnen ein auf Anpreisung und Tröstung zielender Begriff von Schönheit bietet. Es überrascht nicht, dass dem Papst und der auf Bewahrung und Selbsterhaltung bedachten Institution, für die er spricht, ein derart auf Verklärung bedachtes Schönheitsideal so willkommen ist wie die Idee des Guten. Umgekehrt war es unvermeidlich, dass gerade die Schönheit sofort in Misskredit geriet, als vor fast hundert Jahren die auf dem Gebiet der „schönen“ Künste einflussreichen Kreise ihre drastischen Erneuerungprojekte in Angriff nahmen. Schönheit musste den Machern und Verkündern dieses Neuen als konservativer Maßstab erscheinen; Gertrude Stein meinte, wer ein Kunstwerk „schön“ nenne, erkläre es für tot. Schön bedeutet seither „bloß schön“ – es gibt kein schaleres, spießigeres Kompliment. Anderswo – wie denn auch nicht? – blieb die Schönheit allerdings unangefochten. Als der notorische Schönheitsliebhaber Oscar Wilde in „Der Verfall des Lügens“ schrieb: „Kein halbwegs kultivierter Mensch spricht heute noch von der Schönheit eines Sonnenuntergangs. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode“ – da verfinsterten sich die Sonnenuntergänge zwar kurzfristig, erholten sich jedoch rasch von dieser Attacke. Nicht so die „Schönen Künste“, als ihnen die Forderung nach Modernität entgegenschallte. Dass die Schönheit aus dem Katalog der Wertmaßstäbe für die Kunst verschwunden ist, bedeutet ja nicht, dass niemand mehr an die Schönheit glaubt. Es bedeutet bloß: Niemand glaubt mehr an so etwas wie Kunst.
3. Auch als Schönheit noch ein unumstrittener Maßstab für den Wert von Kunst war, definierte man sie am liebsten indirekt, auf Umwegen. So brachte Lessing mit seiner Gleichsetzung von Schönheit und Harmonie eine zweite allgemeine Idee dessen, was vorzüglich oder erstrebenswert sei, ins Spiel. Da eine strenge Definition von Schönheit offenbar nicht existierte, nahm man an, es müsse, zumindest was die Kunst angeht, ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Fähigkeit für die Wahrnehmung der Schönheit (das heißt, des Werts) geben, den „Geschmack“; und außerdem einen Kanon von Werken, die von Leuten mit „gutem“ Geschmack für wertvoll befunden wurden. Denn in der Kunst, so glaubte man, fiel Schönheit – anders als im Leben – nicht notwendigerweise jedem ins Auge. Mit dem Geschmack verband sich allerdings das Problem, dass er auf privaten, unmittelbaren, widerruflichen Haltungen zur Kunst gründete. Mochten noch so viele ein Urteil teilen – die Übereinstimmung blieb stets begrenzt. Um diesem Mangel abzuhelfen, entwickelte Kant die Vorstellung von einer besonderen Fertigkeit, der „Urteilskraft“, die auf klar umrissenen allgemeinen und stets gültigen Prinzipien beruhen sollte; der Geschmack und die Vorlieben, die vor dieser Urteilskraft Bestand hatten, sollten Gemeinbesitz allersein. Aber auch der Kantschen Urteilskraft gelang es nicht, den „Geschmack“ nachprüfbar abzusichern und ihn auf diese Weise gewissermaßen zu demokratisieren. Die Schwachstelle: Prinzipiengeleitete Urteile lassen sich auf bedeutende Kunstwerke nur schwer anwenden, da sie mit ihnen nur sehr schwach und indirekt verbunden sind – anders als der geschmeidigere empirische Geschmack. Dem allerdings fehlt eine zuverlässige Legitimation heute noch mehr als im ausgehenden 18. Jahrhundert. Wessen Geschmack soll maßgeblich sein? Wer hat das Sagen? Mit dem Aufkommen des Relativismus im Bereich der Kultur gerieten die alten Rangordnungen immer mehr unter Druck, und die Definitionen von Schönheit wurden immer inhaltsärmer. Für Paul Valéry bestand das Wesen der Schönheit schließlich darin, dass sie sich nicht definieren ließ; Schönheit sei geradezu das „Unsagbare“.Noch einmal: In diesem Versagen des Schönheitsbegriffs spiegelt sich der Ansehensverlust, den die Urteilskraft selbst als interesselose oder objektive, nicht irgendwelchen privaten Interessen oder Zwecken dienstbare Instanz erleidet. Es spiegelt sich darin auch, wie bestimmte bipolare Diskurse innerhalb der Kunst in Misskredit geraten. Wer nicht bereit ist, etwas hässlich zu nennen, der kann auch nichts als schön bezeichnen, einerseits. Andererseits entstehen heute immer mehr Tabus, die es verbieten, etwas als hässlich zu bezeichnen. Zu alledem wächst der Widerstand gegen die Vorstellung von „gutem Geschmack“, das heißt gegen die Dichotomie von gutem und schlechtem Geschmack – außer wenn es darum geht, die Niederlage des Snobismus und den Triumph dessen zu feiern, was er einst herablassend als schlechten Geschmack abgetan hat. Die Vorstellung von gutem Geschmack gilt heute sogar als noch rückständiger als die Idee der Schönheit. Die strenge, schwierige „Moderne“ in Kunst und Literatur wirkt altmodisch – wie eine Verschwörung von Snobs. Innovation bedeutet mittlerweile nur noch Lockerheit – die populäre Kunst gibt grünes Licht für alles und jedes. Im kulturellen Klima der letzten Jahre, das die konsumorientierte Kunst begünstigt, hat das Schöne nur die Wahl, als Selbstverständlichkeit oder als Anmaßung empfunden zu werden. So wird gerade da, wo wir absurderweise von Kulturkämpfen sprechen, die Schönheit regelmäßig zum Prügelknaben gemacht.
4. Einst lagen die Stärke und der Reiz der Schönheit schlicht darin, dass sie manchen Dingen eignete und anderen nicht: Sie war ein Unterscheidungskriterium. Schönheit gehörte zur Familie jener Begriffe, die Rang begründen. Und fügte sich von daher gut in eine Gesellschaftsordnung, die sich für Standes- und Klassenunterschiede wie für hierarchische Verhältnisse nicht entschuldigen zu müssen glaubte – und die das Recht, andere auszuschließen, als selbstverständlich in Anspruch nahm. Was einst ein Vorzug gewesen war, wurde mit der Zeit zur Belastung. Früher schien der Begriff der Schönheit verletzlich, weil er zu allgemein, zu locker, zu durchlässig war; nun zeigte sich, dass er zu vieles ausschloss. Diskriminieren, die Fähigkeit, Unterschiede zu machen und zu erkennen, war einst ein positiv besetzter Begriff; er verwies auf kultivierte Urteilsfähigkeit, auf hohe Maßstäbe und hohe Ansprüche. Später verkehrte er sich dann ins Negative, bedeutete nun Vorurteil, Dünkel, Blindheit gegenüber allem, was mit dem Eigenen nicht identisch war. Der kräftigste und erfolgreichste Angriff gegen die Schönheit wurde im Bereich der Kunst geführt: Schönheit und das Interesse an ihr seien restriktiv oder, im Zeitjargon, elitär. Unsere Empfehlungen können daher viel mehr einschließen, wenn wir nicht mehr sagen, etwas sei „schön“, sondern: es sei „interessant“. Wenn Leute ein Kunstwerk „interessant“ nennen, bedeutet das natürlich nicht unbedingt, dass sie es auch mögen (und schon gar nicht, dass sie es schön finden). Es bedeutet meistens nur, dass sie glauben, sie sollten es mögen. Oder zumindest, dass sie es „irgendwie“ mögen, obwohl es nicht schön ist. Zuweilen allerdings erspart das Wort „interessant“ aber doch nur die banale Feststellung, etwas sei schön. Die Fotografie war die erste Kunstform, in der „das Interessante“ triumphierte – von Anfang an: Die fotografische Sehweise machte buchstäblich aus Allem und Jedem einen möglichen Gegenstand für die Kamera. Das Schöne war so viel thematischem Raum nicht gewachsen, und geriet schon deshalb als Maßstab aus der Mode. Über die Aufnahme eines Sonnenuntergangs, eines schönen Sonnenuntergangs, sagte nun jeder, der über einen gewissen Sinn für sprachliches Raffinement verfügte: „Ja, dieses Foto ist interessant.“
5. Also gut: Was ist eigentlich interessant? Vor allem das, was zuvor nicht als schön (oder gut) galt; hier kommt ein Tabu ins Spiel. Die Kranken sind interessant, wie Nietzsche bemerkt hat; die Bösen ebenfalls. Das heißt: die Bewunderung gilt nun dem Originellen, nicht dem Wahrhaftigen; sie gilt der Grobheit, der Frechheit, der Normüberschreitung, nicht dem Respekt. Als Wertmaßstab fördert „das Interessante“ die Vorliebe für den Zusammenprall, nicht für die Harmonie; sein Gegenteil ist „das Langweilige“. Der Liberalismus sei langweilig, schrieb Carl Schmitt 1932 in „Der Begriff desPolitischen“ (und trat im Jahr darauf der NSDAP bei). Einer Politik, die liberale Grundsätze befolgt, fehlt es an Dramatik, an Stimmung, an Konflikt, während eine starke, autokratische Politik – auch wo sie in den Kriegf ührt – rasend „interessant“ ist. Das Interessante als Wertmaßstab begegnet also den Konsequenzen von Handeln oder von Kunst mit Geringschätzung. Wahrheit kommt dabei als Gesichtspunkt nicht einmal in Betracht. Das Interessante ist ein verbraucherorientiertes, auf die Ausweitung seines Geltungsbereichs bedachtes Konzept: Je mehr Dinge interessant werden, desto größer ihr Markt. Das „Langweilige“ steht für eine Leere, die auf eben dies Gegenmittel verweist: die leere, wahllos repetierte Beteuerung des „Interessanten“ – eine besonders unschlüssige Art von Realitätswahrnehmung.
6. Schönheit kann ein Ideal anschaulich machen, als etwas Vollkommenes. Sie kann aber auch auf Grund ihrer Identifikation mit Frauen (genauer gesagt: mit der Frau) die bekannte Ambivalenz auslösen, die auf die uralte Herabsetzung des Weiblichen zurückgeht. Vieles von dem, was die Schönheit in Misskredit bringt, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen den Geschlechtern verstehen. Auch Misogynie mag zuweilen im Spiel sein, wenn es darum geht, Schönheit ins Metaphorische und damit über die Sphäre des „bloß“ Weiblichen, des Unernsten, des Trügerischen hinaus zu „heben“. Frauen werden ihrer Schönheit wegen zwar angebetet. Doch wegen der Sorgfalt, die sie auf die Herstellung oder Bewahrung dieser Schönheit verwenden, werden sie zugleich mit Herablassung gestraft. Schönheit ist „Theater“, es geht um Gesehen- und Bewundertwerden, und mit dem Wort Schönheit assoziiert man Schönheitsindustrie, Schönheitssalons, Schönheitsprodukte und das ganzeTheater weiblicher Oberflächlichkeit ebenso leicht wie die Schönheit der Kunst oder der Natur. Wie sonst sollte man die Assoziation der Schönheit – das heißt: der Frauen – mit der Dummheit erklären? Wer sich um die eigene Schönheit kümmert, läuft Gefahr, dass man ihm Narzissmus und Oberflächlichkeit vorwirft. Man denke an all die Synonyme für Schönheit, angefangen bei „niedlich“ und „hübsch“, die erst transponiert werden müssen, ehe sie sich auf Männer anwenden lassen. Auch wenn sich Wörter wie „stattlich“oder „gut aussehend“ nicht anders als das Wort „schön“ auf die äußere Erscheinung beziehen, wirken sie nüchterner, weniger überschwänglich.
7. Im Allgemeinen hält man Schönheit für eine ganz und gar „ästhetische“ Kategorie, wodurch sie nach Meinung vieler auf Kollisionskurs mit dem Ethischen gerät. Doch selbst in ihrer unmoralischen Spielart kommt die Schönheit nie nackt daher; in die Zuschreibung von Schönheit mischen sich stets auch moralische Wertvorstellungen. Das Ästhetische und das Ethische waren ursprünglich keineswegs Gegensatzpole, wie Kierkegaard und Tolstoi behaupteten, sondern das Ästhetische selbst galt als quasi-moralisches Projekt. Seit Platon taucht immer wieder die Frage nach dem angemessenen Verhältnis des Guten zum Schönen auf, das sich aus dem Wesen der Schönheit selbst ergeben soll. Die übliche Art, Urteile über das Schöne als moralische Urteile zu etablieren, folgt dem alten Verfahren, das die Schönheit in ein binäres Konzept verwandelt, sie also in eine „innere“ und eine „äußere“, eine „höhere“ und eine„niedere“ Schönheit aufspaltet. Aus der Sicht Nietzsches oder Oscar Wildes mag das unangemessen sein, aber mir scheint es unvermeidlich. Und die Weisheit, die einem aus einer intensiven, lebenslangen Beschäftigung mit dem Ästhetischen zufließt, ist, so behaupte ich, durch keine andere Form von Ernsthaftigkeit zuersetzen. Die verschiedenen Definitionen von Schönheit kommen ja einer plausiblen Bestimmung von Tugend und erfüllter Humanität mindestens so nah wie alle Versuche, das Gute auf dem direkten Weg zu definieren.
8. Der Schönheitsbegriff gehört zur Geschichte der Idealisierung, die ihrerseits in die Geschichte des Trostes gehört. Aber Schönheit tröstet nicht immer. Die Schönheit von Gesicht und Gestalt quält, wühlt auf, unterjocht; sie ist herrisch – und weckt den Wunsch nach Beherrschung: Menschliche wie künstlich gemachte Schönheit lösen Besitzphantasien aus. Unser Modell vom interesselosen Wohlgefallen knüpft dagegen an die Schönheit der Natur – einer fern liegenden, allumfassenden, nicht zu besitzenden Natur. Im russischen Winter des Jahres 1942 schrieb ein deutscher Soldat in einem Brief: „Das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe, nur ausuneigennützigen Empfindungen bestehend, ohne kitschiges Drumherum. Ich war allein unter einem riesigen, mit Sternen übersäten Himmel, und ich kann mich erinnern, wie mir an der eisigen Wange eine Träne herunterlief, keine Schmerz- und keine Freudenträne, sondern eine Träne des Gefühls, ausgelöst durch dieses innige Erleben...“ Anders als die oft flüchtige Schönheit ist die Fähigkeit, sich von der Schönheit überwältigen zulassen, erstaunlich robust. Sie widersteht gröbsten Ablenkungen; der Krieg vermag sie so wenig auszulöschen wie die sichere Aussicht auf den eigenenTod.
9. Die Schönheit der Kunst steht, Hegel zufolge, über der Naturschönheit, weil sie von Menschen gemacht und ein Werk des Geistes ist. Aber auch die Wahrnehmung von Naturschönheit geht auf die Traditionen von Bewusstsein und Wahrnehmung, auf Kultur und, mit Hegel zu reden, auf Geist zurück. Die Reaktionen auf die Schönheit in der Kunst und die auf Naturschönheit stehen in einer Wechselbeziehung. Die Kunst lehrt uns nicht nur, die Natur auch gezielt wahrzunehmen, (wie Wilde es im Hinblick auf Dichtung und Malerei formulierte – heute setzt vor allem die Fotografie die Maßstäbe der Naturschönheit). Sondern das Schöne erinnert uns auch an die Natur als solche, an das, was jenseits des Menschlichen und des Gemachten liegt; sie weckt und vertieft damit unser Bewusstsein von der Fülle der Wirklichkeit, die uns umgibt: der unbelebten ebenso wie der belebten. Ein erfreuliches Nebenprodukt dieser Einsicht, wenn es denn eine Einsicht ist: Schönheit gewinnt so ihre Festigkeit zurück, ihre Unausweichlichkeit als Urteilsmaßstab, dessen jeder Mensch bedarf. Nur so kann er begreifen, was ihn anzieht und mit Bewunderung erfüllt. Bloß konkurrierende Begriffe wirken dagegen lächerlich. Stellen Sie sich vor, jemand würde sagen: „Dieser Sonnenuntergang isti nteressant.“
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Neun Thesen - statt einer Definition
von Susan Sontag
1. Als Papst Johannes Paul II. im April zu den sexuellen Übergriffen katholischer Priester in den USA endlich Stellung nahm, sagte er vor den versammelten amerikanischen Kardinälen: „Ein großes Kunstwerk kann man verunstalten, doch seine Schönheit bleibt bestehen; und jede intellektuell redliche Kritik muss die Wahrheit dieses Satzes anerkennen. “Ist der Vergleich, den der Papst hier zwischen der katholischen Kirche und einem großen – also auch schönen – Kunstwerk zieht, nicht völlig verfehlt? Vielleicht nicht. Denn so abwegig er zu sein scheint, er gestattet es dem Papst, aus den abscheulichenVerfehlungen etwas zu machen, über das wir hinwegsehen können, das wir – wie die Kratzer auf einer alten Stummfilmkopie oder das Craquelé auf einem alten Gemälde – automatisch ausblenden. Der Papst liebt hehre Gedanken. Und als Begriff ist Schönheit seit eh und je ein probates Mittel, um Werturteilen Nachdruck zu verleihen. Dauer indes gehört nicht gerade zu den augenfälligen Merkmalen der Schönheit. Oft empfindet, wer Schönes betrachtet, jene Trauer, die uns in Shakespeares Sonetten begegnet. Traditionelle Feste zur Feier der Schönheit, zum Beispiel das Kirschblütenfest in Japan, sind unverkennbar von Schwermut umweht. Die erregendste Schönheit ist zugleich die flüchtigste, und es bedurfte etlicher Basteleien und Begriffsverrenkungen, um aus der Schönheit etwas Unvergängliches zu machen. Dabei erwies sich die Idee der Schönheit stets als so faszinierend, so stark, dass es einer Verschwendung gleichgekommen wäre, den Begriff allein zum Lob äußerlicher, oberflächlicher Schönheit zu benutzen. Ziel war, Raum zu schaffen für verschiedene Arten vonSchönheit, die sich, ihrem Wert und ihrer Unverwüstlichkeit entsprechend, in eine Rangordnung bringen ließen. Dabei wurde den metaphorischenSpielarten wie „geistige Schönheit“, „spirituelleSchönheit“ der Vorrang gegenüber all jenem eingeräumt, was die Umgangssprache als schön preist –nämlich das, was sinnliche Freude macht.
Die weniger „erhabene“ Schönheit von Gesicht und Körper ist nach wie vor der Schauplatz, wo wir das Schöne am häufigsten suchen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sich der Papst auf die Schönheit in diesem Sinne beruft, wenn er angesichts der sexuellen Belästigung von Kindern durch Geistliche und deren Vertuschung nach entlastenden Formulierungen sucht. Als besser geeignet erscheint da die „höhere“ Schönheit der Kunst. Denn auch wenn die Kunst eine Sache der Oberfläche und der sinnlichen Empfänglichkeit zu sein scheint, hat man ihr dennoch die Ehrenbürgerschaft im Bereich der „inneren“ (im Gegensatz zur „äußeren“) Schönheit angetragen. Schönheit, so scheint es, ist unwandelbar – zumindest wenn sie als Kunst daherkommt, also feste Form angenommen hat. Denn die Schönheit als ewige Idee, wird am ehesten in der Kunst verkörpert. Schönheit (wenn man das Wort in diesem Sinne verwenden will) liegt in der Tiefe, nicht an der Oberfläche; manchmal ist sie verborgen und gerade nicht offensichtlich; sie ist tröstlich, nicht verstörend; sie ist unzerstörbar wie in der Kunst, und nicht kurzlebig wie in der Natur. Schönheit – in ihrer erhabenen Spielart – ist dauerhaft.
2. Die beste Theorie der Schönheit ist ihre Geschichte. Über diese Geschichte nachzudenken heißt: zu untersuchen, wie bestimmte Gesellschaften mit der Schönheit und ihrem Begriff umgegangen sind. Manchmal werden Gesellschaften von ihren Vorderleuten regelrecht darauf eingeschworen, sich einer für verderblich erachteten Flut neuer Schönheitsideale entgegenzustellen. Sie haben kein Interesse daran, den Schutzwall zu schwächen, den ihnen ein auf Anpreisung und Tröstung zielender Begriff von Schönheit bietet. Es überrascht nicht, dass dem Papst und der auf Bewahrung und Selbsterhaltung bedachten Institution, für die er spricht, ein derart auf Verklärung bedachtes Schönheitsideal so willkommen ist wie die Idee des Guten. Umgekehrt war es unvermeidlich, dass gerade die Schönheit sofort in Misskredit geriet, als vor fast hundert Jahren die auf dem Gebiet der „schönen“ Künste einflussreichen Kreise ihre drastischen Erneuerungprojekte in Angriff nahmen. Schönheit musste den Machern und Verkündern dieses Neuen als konservativer Maßstab erscheinen; Gertrude Stein meinte, wer ein Kunstwerk „schön“ nenne, erkläre es für tot. Schön bedeutet seither „bloß schön“ – es gibt kein schaleres, spießigeres Kompliment. Anderswo – wie denn auch nicht? – blieb die Schönheit allerdings unangefochten. Als der notorische Schönheitsliebhaber Oscar Wilde in „Der Verfall des Lügens“ schrieb: „Kein halbwegs kultivierter Mensch spricht heute noch von der Schönheit eines Sonnenuntergangs. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode“ – da verfinsterten sich die Sonnenuntergänge zwar kurzfristig, erholten sich jedoch rasch von dieser Attacke. Nicht so die „Schönen Künste“, als ihnen die Forderung nach Modernität entgegenschallte. Dass die Schönheit aus dem Katalog der Wertmaßstäbe für die Kunst verschwunden ist, bedeutet ja nicht, dass niemand mehr an die Schönheit glaubt. Es bedeutet bloß: Niemand glaubt mehr an so etwas wie Kunst.
3. Auch als Schönheit noch ein unumstrittener Maßstab für den Wert von Kunst war, definierte man sie am liebsten indirekt, auf Umwegen. So brachte Lessing mit seiner Gleichsetzung von Schönheit und Harmonie eine zweite allgemeine Idee dessen, was vorzüglich oder erstrebenswert sei, ins Spiel. Da eine strenge Definition von Schönheit offenbar nicht existierte, nahm man an, es müsse, zumindest was die Kunst angeht, ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Fähigkeit für die Wahrnehmung der Schönheit (das heißt, des Werts) geben, den „Geschmack“; und außerdem einen Kanon von Werken, die von Leuten mit „gutem“ Geschmack für wertvoll befunden wurden. Denn in der Kunst, so glaubte man, fiel Schönheit – anders als im Leben – nicht notwendigerweise jedem ins Auge. Mit dem Geschmack verband sich allerdings das Problem, dass er auf privaten, unmittelbaren, widerruflichen Haltungen zur Kunst gründete. Mochten noch so viele ein Urteil teilen – die Übereinstimmung blieb stets begrenzt. Um diesem Mangel abzuhelfen, entwickelte Kant die Vorstellung von einer besonderen Fertigkeit, der „Urteilskraft“, die auf klar umrissenen allgemeinen und stets gültigen Prinzipien beruhen sollte; der Geschmack und die Vorlieben, die vor dieser Urteilskraft Bestand hatten, sollten Gemeinbesitz allersein. Aber auch der Kantschen Urteilskraft gelang es nicht, den „Geschmack“ nachprüfbar abzusichern und ihn auf diese Weise gewissermaßen zu demokratisieren. Die Schwachstelle: Prinzipiengeleitete Urteile lassen sich auf bedeutende Kunstwerke nur schwer anwenden, da sie mit ihnen nur sehr schwach und indirekt verbunden sind – anders als der geschmeidigere empirische Geschmack. Dem allerdings fehlt eine zuverlässige Legitimation heute noch mehr als im ausgehenden 18. Jahrhundert. Wessen Geschmack soll maßgeblich sein? Wer hat das Sagen? Mit dem Aufkommen des Relativismus im Bereich der Kultur gerieten die alten Rangordnungen immer mehr unter Druck, und die Definitionen von Schönheit wurden immer inhaltsärmer. Für Paul Valéry bestand das Wesen der Schönheit schließlich darin, dass sie sich nicht definieren ließ; Schönheit sei geradezu das „Unsagbare“.Noch einmal: In diesem Versagen des Schönheitsbegriffs spiegelt sich der Ansehensverlust, den die Urteilskraft selbst als interesselose oder objektive, nicht irgendwelchen privaten Interessen oder Zwecken dienstbare Instanz erleidet. Es spiegelt sich darin auch, wie bestimmte bipolare Diskurse innerhalb der Kunst in Misskredit geraten. Wer nicht bereit ist, etwas hässlich zu nennen, der kann auch nichts als schön bezeichnen, einerseits. Andererseits entstehen heute immer mehr Tabus, die es verbieten, etwas als hässlich zu bezeichnen. Zu alledem wächst der Widerstand gegen die Vorstellung von „gutem Geschmack“, das heißt gegen die Dichotomie von gutem und schlechtem Geschmack – außer wenn es darum geht, die Niederlage des Snobismus und den Triumph dessen zu feiern, was er einst herablassend als schlechten Geschmack abgetan hat. Die Vorstellung von gutem Geschmack gilt heute sogar als noch rückständiger als die Idee der Schönheit. Die strenge, schwierige „Moderne“ in Kunst und Literatur wirkt altmodisch – wie eine Verschwörung von Snobs. Innovation bedeutet mittlerweile nur noch Lockerheit – die populäre Kunst gibt grünes Licht für alles und jedes. Im kulturellen Klima der letzten Jahre, das die konsumorientierte Kunst begünstigt, hat das Schöne nur die Wahl, als Selbstverständlichkeit oder als Anmaßung empfunden zu werden. So wird gerade da, wo wir absurderweise von Kulturkämpfen sprechen, die Schönheit regelmäßig zum Prügelknaben gemacht.
4. Einst lagen die Stärke und der Reiz der Schönheit schlicht darin, dass sie manchen Dingen eignete und anderen nicht: Sie war ein Unterscheidungskriterium. Schönheit gehörte zur Familie jener Begriffe, die Rang begründen. Und fügte sich von daher gut in eine Gesellschaftsordnung, die sich für Standes- und Klassenunterschiede wie für hierarchische Verhältnisse nicht entschuldigen zu müssen glaubte – und die das Recht, andere auszuschließen, als selbstverständlich in Anspruch nahm. Was einst ein Vorzug gewesen war, wurde mit der Zeit zur Belastung. Früher schien der Begriff der Schönheit verletzlich, weil er zu allgemein, zu locker, zu durchlässig war; nun zeigte sich, dass er zu vieles ausschloss. Diskriminieren, die Fähigkeit, Unterschiede zu machen und zu erkennen, war einst ein positiv besetzter Begriff; er verwies auf kultivierte Urteilsfähigkeit, auf hohe Maßstäbe und hohe Ansprüche. Später verkehrte er sich dann ins Negative, bedeutete nun Vorurteil, Dünkel, Blindheit gegenüber allem, was mit dem Eigenen nicht identisch war. Der kräftigste und erfolgreichste Angriff gegen die Schönheit wurde im Bereich der Kunst geführt: Schönheit und das Interesse an ihr seien restriktiv oder, im Zeitjargon, elitär. Unsere Empfehlungen können daher viel mehr einschließen, wenn wir nicht mehr sagen, etwas sei „schön“, sondern: es sei „interessant“. Wenn Leute ein Kunstwerk „interessant“ nennen, bedeutet das natürlich nicht unbedingt, dass sie es auch mögen (und schon gar nicht, dass sie es schön finden). Es bedeutet meistens nur, dass sie glauben, sie sollten es mögen. Oder zumindest, dass sie es „irgendwie“ mögen, obwohl es nicht schön ist. Zuweilen allerdings erspart das Wort „interessant“ aber doch nur die banale Feststellung, etwas sei schön. Die Fotografie war die erste Kunstform, in der „das Interessante“ triumphierte – von Anfang an: Die fotografische Sehweise machte buchstäblich aus Allem und Jedem einen möglichen Gegenstand für die Kamera. Das Schöne war so viel thematischem Raum nicht gewachsen, und geriet schon deshalb als Maßstab aus der Mode. Über die Aufnahme eines Sonnenuntergangs, eines schönen Sonnenuntergangs, sagte nun jeder, der über einen gewissen Sinn für sprachliches Raffinement verfügte: „Ja, dieses Foto ist interessant.“
5. Also gut: Was ist eigentlich interessant? Vor allem das, was zuvor nicht als schön (oder gut) galt; hier kommt ein Tabu ins Spiel. Die Kranken sind interessant, wie Nietzsche bemerkt hat; die Bösen ebenfalls. Das heißt: die Bewunderung gilt nun dem Originellen, nicht dem Wahrhaftigen; sie gilt der Grobheit, der Frechheit, der Normüberschreitung, nicht dem Respekt. Als Wertmaßstab fördert „das Interessante“ die Vorliebe für den Zusammenprall, nicht für die Harmonie; sein Gegenteil ist „das Langweilige“. Der Liberalismus sei langweilig, schrieb Carl Schmitt 1932 in „Der Begriff desPolitischen“ (und trat im Jahr darauf der NSDAP bei). Einer Politik, die liberale Grundsätze befolgt, fehlt es an Dramatik, an Stimmung, an Konflikt, während eine starke, autokratische Politik – auch wo sie in den Kriegf ührt – rasend „interessant“ ist. Das Interessante als Wertmaßstab begegnet also den Konsequenzen von Handeln oder von Kunst mit Geringschätzung. Wahrheit kommt dabei als Gesichtspunkt nicht einmal in Betracht. Das Interessante ist ein verbraucherorientiertes, auf die Ausweitung seines Geltungsbereichs bedachtes Konzept: Je mehr Dinge interessant werden, desto größer ihr Markt. Das „Langweilige“ steht für eine Leere, die auf eben dies Gegenmittel verweist: die leere, wahllos repetierte Beteuerung des „Interessanten“ – eine besonders unschlüssige Art von Realitätswahrnehmung.
6. Schönheit kann ein Ideal anschaulich machen, als etwas Vollkommenes. Sie kann aber auch auf Grund ihrer Identifikation mit Frauen (genauer gesagt: mit der Frau) die bekannte Ambivalenz auslösen, die auf die uralte Herabsetzung des Weiblichen zurückgeht. Vieles von dem, was die Schönheit in Misskredit bringt, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen den Geschlechtern verstehen. Auch Misogynie mag zuweilen im Spiel sein, wenn es darum geht, Schönheit ins Metaphorische und damit über die Sphäre des „bloß“ Weiblichen, des Unernsten, des Trügerischen hinaus zu „heben“. Frauen werden ihrer Schönheit wegen zwar angebetet. Doch wegen der Sorgfalt, die sie auf die Herstellung oder Bewahrung dieser Schönheit verwenden, werden sie zugleich mit Herablassung gestraft. Schönheit ist „Theater“, es geht um Gesehen- und Bewundertwerden, und mit dem Wort Schönheit assoziiert man Schönheitsindustrie, Schönheitssalons, Schönheitsprodukte und das ganzeTheater weiblicher Oberflächlichkeit ebenso leicht wie die Schönheit der Kunst oder der Natur. Wie sonst sollte man die Assoziation der Schönheit – das heißt: der Frauen – mit der Dummheit erklären? Wer sich um die eigene Schönheit kümmert, läuft Gefahr, dass man ihm Narzissmus und Oberflächlichkeit vorwirft. Man denke an all die Synonyme für Schönheit, angefangen bei „niedlich“ und „hübsch“, die erst transponiert werden müssen, ehe sie sich auf Männer anwenden lassen. Auch wenn sich Wörter wie „stattlich“oder „gut aussehend“ nicht anders als das Wort „schön“ auf die äußere Erscheinung beziehen, wirken sie nüchterner, weniger überschwänglich.
7. Im Allgemeinen hält man Schönheit für eine ganz und gar „ästhetische“ Kategorie, wodurch sie nach Meinung vieler auf Kollisionskurs mit dem Ethischen gerät. Doch selbst in ihrer unmoralischen Spielart kommt die Schönheit nie nackt daher; in die Zuschreibung von Schönheit mischen sich stets auch moralische Wertvorstellungen. Das Ästhetische und das Ethische waren ursprünglich keineswegs Gegensatzpole, wie Kierkegaard und Tolstoi behaupteten, sondern das Ästhetische selbst galt als quasi-moralisches Projekt. Seit Platon taucht immer wieder die Frage nach dem angemessenen Verhältnis des Guten zum Schönen auf, das sich aus dem Wesen der Schönheit selbst ergeben soll. Die übliche Art, Urteile über das Schöne als moralische Urteile zu etablieren, folgt dem alten Verfahren, das die Schönheit in ein binäres Konzept verwandelt, sie also in eine „innere“ und eine „äußere“, eine „höhere“ und eine„niedere“ Schönheit aufspaltet. Aus der Sicht Nietzsches oder Oscar Wildes mag das unangemessen sein, aber mir scheint es unvermeidlich. Und die Weisheit, die einem aus einer intensiven, lebenslangen Beschäftigung mit dem Ästhetischen zufließt, ist, so behaupte ich, durch keine andere Form von Ernsthaftigkeit zuersetzen. Die verschiedenen Definitionen von Schönheit kommen ja einer plausiblen Bestimmung von Tugend und erfüllter Humanität mindestens so nah wie alle Versuche, das Gute auf dem direkten Weg zu definieren.
8. Der Schönheitsbegriff gehört zur Geschichte der Idealisierung, die ihrerseits in die Geschichte des Trostes gehört. Aber Schönheit tröstet nicht immer. Die Schönheit von Gesicht und Gestalt quält, wühlt auf, unterjocht; sie ist herrisch – und weckt den Wunsch nach Beherrschung: Menschliche wie künstlich gemachte Schönheit lösen Besitzphantasien aus. Unser Modell vom interesselosen Wohlgefallen knüpft dagegen an die Schönheit der Natur – einer fern liegenden, allumfassenden, nicht zu besitzenden Natur. Im russischen Winter des Jahres 1942 schrieb ein deutscher Soldat in einem Brief: „Das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe, nur ausuneigennützigen Empfindungen bestehend, ohne kitschiges Drumherum. Ich war allein unter einem riesigen, mit Sternen übersäten Himmel, und ich kann mich erinnern, wie mir an der eisigen Wange eine Träne herunterlief, keine Schmerz- und keine Freudenträne, sondern eine Träne des Gefühls, ausgelöst durch dieses innige Erleben...“ Anders als die oft flüchtige Schönheit ist die Fähigkeit, sich von der Schönheit überwältigen zulassen, erstaunlich robust. Sie widersteht gröbsten Ablenkungen; der Krieg vermag sie so wenig auszulöschen wie die sichere Aussicht auf den eigenenTod.
9. Die Schönheit der Kunst steht, Hegel zufolge, über der Naturschönheit, weil sie von Menschen gemacht und ein Werk des Geistes ist. Aber auch die Wahrnehmung von Naturschönheit geht auf die Traditionen von Bewusstsein und Wahrnehmung, auf Kultur und, mit Hegel zu reden, auf Geist zurück. Die Reaktionen auf die Schönheit in der Kunst und die auf Naturschönheit stehen in einer Wechselbeziehung. Die Kunst lehrt uns nicht nur, die Natur auch gezielt wahrzunehmen, (wie Wilde es im Hinblick auf Dichtung und Malerei formulierte – heute setzt vor allem die Fotografie die Maßstäbe der Naturschönheit). Sondern das Schöne erinnert uns auch an die Natur als solche, an das, was jenseits des Menschlichen und des Gemachten liegt; sie weckt und vertieft damit unser Bewusstsein von der Fülle der Wirklichkeit, die uns umgibt: der unbelebten ebenso wie der belebten. Ein erfreuliches Nebenprodukt dieser Einsicht, wenn es denn eine Einsicht ist: Schönheit gewinnt so ihre Festigkeit zurück, ihre Unausweichlichkeit als Urteilsmaßstab, dessen jeder Mensch bedarf. Nur so kann er begreifen, was ihn anzieht und mit Bewunderung erfüllt. Bloß konkurrierende Begriffe wirken dagegen lächerlich. Stellen Sie sich vor, jemand würde sagen: „Dieser Sonnenuntergang isti nteressant.“
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