Donnerstag, 22. September 2016

Penthesilea 6 - Krieg & Grammatik

Seit Tagen grüble ich über die ver-rückte Grammatik des Herrn Kleist. Warum reden sich Figuren beim größten deutschen Sprachkünstler immer wieder in die völlige Unverständlichkeit? Viele freundliche Menschen haben versucht Antworten zu finden. Kleistsche Eklipsen, der possessive Dativ, die Weiterentwicklung der deutschen Grammatik in den letzten 200 Jahren. Alles hilfreich, nichts klärend. 

Es bleiben, wie irritierende Nußstücken in Zahnlücken, unter anderem, Dative, die keinen Sinn machen, bzw. die Zuordnung von Freund und Feind dem Zuhörenden unmöglich machen. 

Was für ein Haß den Priamiden längst
Entbrannt sei in der Griechen Brust...


Jetzt hat die Freundin einer Freundin mir in wenigen Worten klargemacht, dass mein grammatikalisches Problem, genau das zentrale Problem des Stückes trifft.
Der Krieg "infiziert" alles, auch die Sprache. Wer wessen Feind ist zweitrangig, Herr Kleist verwirrt die Possesivbeziehungen absichtsvoll, weil Tötungswut sich alles und jedes aneignet, um es zu vernichten.
"Die Sprache ein Schlachtfeld und daraus folgt die Auflösung des Possesiven."


In Abwandlung eines Gedichtes von Gertrude Stein: Der Feind ist ein Feind ist ein Feind ist der Feind.
Wenn Hass und Liebe ununterscheidbar werden, muß auch die Grammatik dem erliegen. Was brüllen, bläken, schreien, hecheln, kreischen wir, wenn wir gänzlich außer uns sind? 


Sprache, unsere so sehr verletzliche Ortung in der Zivilisation.


http://videos.huffingtonpost.de/politik/in-heidenau-du-fotze-nazi-goere-poebelt-gegen-merkel_id_4909778.html 

Allein die Tonhöhe ist unfaßbar!

 
Dich, Mars, dich ruf ich jetzt, dich Schrecklichen,
Dich, meines Hauses hohen Gründer, an!
Oh! – – deinen erznen Wagen mir herab:
Wo du der Städte Mauern auch und Thore
Zermalmst, Vertilgergott, gekeilt in Straßen,
Der Menschen Reihen jetzt auch niedertrittst;
Oh! – – deinen erznen Wagen mir herab:
Daß ich den Fuß in seine Muschel setze,
Die Zügel greife, durch die Felder rolle,
Und wie ein Donnerkeil aus Wetterwolken,
Auf dieses Griechen Scheitel niederfalle!
Du ganzer Schreckenspomp des Kriegs, dich ruf' ich,
Vernichtender, entsetzlicher, herbei!


 
Henriette Vogel
an Heinrich von Kleist


Berlin, November 1811
Mein Heinrich, mein Süßtönender, mein Hyazinthenbeet, mein Wonnemeer, mein Morgen- und Abendrot, meine Äolsharfe, mein Tau, mein Friedensbogen, mein Schoßkindchen, mein liebstes Herz, meine Freude im Leid, meine Wiedergeburt, meine Freiheit, meine Fessel, mein Sabbath, mein Goldkelch, meine Luft, meine Wärme, mein Gedanke, mein teurer Sünder, mein Gewünschtes hier und jenseit, mein Augentrost, meine süßeste Sorge, meine schönste Tugend, mein Stolz, mein Beschützer, mein Gewissen, mein Wald, meine Herrlichkeit, mein Schwert und Helm, meine Großmut, meine rechte Hand, mein Paradies, meine Träne, meine Himmelsleiter, mein Johannes, mein Tasso, mein Ritter, mein Graf Wetter, mein zarter Page, mein Erzdichter, mein Kristall, mein Lebensquell, meine Rast, meine Trauerweide, mein Herr Schutz und Schirm, mein Hoffen und Harren, meine Träume, mein liebstes Sternbild, mein Schmeichelkätzchen, meine sichre Burg, mein Glück, mein Tod, mein Herzensnarrchen, meine Einsamkeit, mein Schiff, mein schönes Tal, meine Belohnung, mein Werther, meine Lethe, meine Wiege, mein Weihrauch und Myrrhen, meine Stimme, mein Richter, mein Heiliger, mein lieblicher Träumer, meine Sehnsucht, meine Seele, meine Nerven, mein goldner Spiegel, mein Rubin, meine Syringsflöte, meine Dornenkrone, mein tausend Wunderwerke, mein Lehrer und mein Schüler, wie über alles Gedachte und zu Erdenkende lieb ich dich.

Meine Seele sollst du haben.
 

Mittwoch, 21. September 2016

Auch Eleanor Rigby wurde nicht gerettet.

Bis auf "The Long and Winding Road" vielleicht das traurigste der Beatles-Lieder, nur hier wird der Melodie nicht erlaubt, die müde Resignation zu unterstützen, nein, sie klingt munter, abgehackt, uneins mit sich selbst.
Eine Putzfrau auf einer Hochzeit nachdem die Gäste längst gegangen sind, ein nächtens seine Strümpfe stopfender Pfarrer. Die beiden werden einander schließlich treffen, aber zu spät. 
Was hab ich für ein Glück - jemanden schert es, ob es mir gut geht.
  
 
ELEANOR RIGBY


Ah look at all the lonely people
Ah look at all the lonely people

Ach schau dir all die einsamen Leute an
Ach schau dir all die einsamen Leute an

Eleanor Rigby, picks up the rice
In the church where a wedding has been
Lives in a dream
Waits at the window, wearing the face
That she keeps in a jar by the door
Who is it for?

Eleanor Rigby, hebt den Reis auf
In der Kirche wo eine Hochzeit stattgefunden hat
Lebt in einem Traum
Wartet am Fenster, mit dem Gesicht
Dass sie in einem Glas an der Tür aufbewahrt
Für wen?

All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?
 
All die einsamen Leute
Wo kommen die alle her?
All die einsamen Leute
Wohin gehören die alle?

Father McKenzie, writing the words
Of a sermon that no one will hear
No one comes near
Look at him working, darning his socks
In the night when there's nobody there
What does he care?
 
Vater McKenzie, schreibt die Wörter
Einer Predigt, die niemand hören wird
Keiner kommt 
Schau wie er arbeitet, stopft seine Socken
In der Nacht wenn da niemand da ist
Warum kümmert es ihn?
 
All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?

All die einsamen Leute
Wo kommen die alle her?
All die einsamen Leute
Wohin gehören die alle?

Ah look at all the lonely people
Ah look at all the lonely people

Ach schau dir all die einsamen Leute an
Ach schau dir all die einsamen Leute an

Eleanor Rigby, died in the church
And was buried along with her name
Nobody came
Father McKenzie, wiping the dirt
From his hands as he walks from the grave
No one was saved.
 
Eleanor Rigby, starb in der Kirche
Und wurde mitsamt ihres Namens begraben
Niemand kam
Vater McKenzie, wischt den Dreck
Von seinen Händen während er vom Grab weggeht
Niemand wurde gerettet.
 
All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?
 
All die einsamen Leute
Wo kommen die alle her?
All die einsamen Leute
Wo gehören die alle hin?

Lennon/McCartney 1966 LP "Revolver"
Wobei McCartney wohl die Hauptarbeit geleistet hat.

"Den Namen Rigby habe ich von einem Laden in Bristol. Ich lief eines Tages in Bristol herum und sah einen Laden namens Rigby. Ich glaube, Eleanor geht auf die Schauspielerin Eleanor Bron zurück, mit der wir im Spielfilm Help! zusammen gearbeitet hatten. Ich suchte einen Namen, der natürlich klang. Eleanor Rigby klang natürlich."
Paul McCartney, Playboy, 1984






 
Oder anders gesagt,
von Rainer Maria Rilke aus dem Buch der Bilder:

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen ...

Dienstag, 20. September 2016

Penthesilea 5 - Verse

Penthesileaeine Tragödie in Blankversen, d.h. ungereimten fünffüßigen Jamben. Der Urfaust des postpubertären Goethe ist teilweise in Blankvers geschrieben und doch so ganz anders. Kleist ufert aus. Sätze strecken sich über halbe Seiten, Satzstellungen sind scheinbar irrwitzig versetzt, Satzzeichen dienen als Hilfszeichen, Silbengewichte verschieben den Sinn. Gradliniges Sprechen ist so rar, dass es geradezu irritiert. Unter enormem Druck stehende Menschen versuchen verzweifelt ihrer sich widersprechenden Gedanken/Gefühle Herr zu werden und ihre Sprache spiegelt ihre innere Verwirrung. Ihre Bemühung um Klarheit, Entschiedenheit zerbirst an der Unfassbarkeit ihrer Gefühle. Ambivalenz als Sicherheitsrisiko. Die politische Realität erlaubt keinen Zweifel. Die Sprache stolpert, stürzt im Kampf um die reine poetische Schönheit in die Katastrophe. Jeder Gedankenstrich, ein Versuch der Rettung.


Penthesilea.
Wie ist mir?



Prothoe.

                        Wohl denk' ich – nicht?

Penthesilea.

                                                                        Zum Entzücken!

O sagt mir! – Bin ich in Elisium?


Prothoe.
Nicht, meine beste Königinn, nicht, nicht.
Es ist die Welt noch, die gebrechliche,
Auf die nur fern die Götter niederschaun.

Vers m. ‘rhythmisch gegliederte, oft mit Reim versehene Zeile einer Dichtung, Bibelstelle’, ahd. fers (9. Jh.), mhd. vers, entlehnt aus lat. versus ‘Linie, Strich, Reihe, Zeile, Verszeile’, mlat. ‘(gesungener) Abschnitt eines Psalms’, eigentl. ‘das Umwenden der Erde durch den Pflug und die dadurch entstandene Furche’, zu lat. vertere (versum) ‘kehren, wenden, drehen’. Im allgemeinen Sprachgebrauch steht Vers vielfach im Sinne von Strophe.
Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache 

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Ein Jambischer Gesang reimet sich besser zu frölichen als zu trawrigen Sachen.
Enoch Hanmann 1645

Der Jambus ist zu ernst-haften liedern und gedichten mehr 
als zu schertz- und lustspielen brauchbar,  
des mänlichen Ganges wegen.
Philipp von Zesen 1641

Der Jambus ist das einzige, wahre, echte, natürliche, heroische Metrum unserer Sprache.
Bürger: An einen Freund über seine teutsche Ilias. In: Der Teutsche Merkur 1776

Der Jambus (griechisch ἴαμβος, ïambos; lateinisch iambus; Plural Jamben) ist in der quantitierenden (silbenmessenden) antiken Verslehre ein aus zwei Verselementen bestehender Versfuß, bei dem einem Breve (kurz/leicht) ein Longum (lang/schwer) folgt, notiert als ◡—. Sein metrisches Gegenstück ist der Trochäus (—◡).

Wikipedia - Über den Jambus 

Heine über Verse 

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Der fünffüssige Jambus - idealerweise zehn Silben - leicht und schwer, kurz und lang - dann der Zeilensprung am Satzende, nach einem Komma, Doppelpunkt oder Semikolon. Oder als Enjambement stutzend den vorherigen Satzteil konternd, umlenkend oder verstärkend. Eine wundervolle Welt von Möglichkeiten. Bei guten Versen erübrigt sich das Betonen von Einzelworten, weil sich Sinn durch Rhytmus, Hebung / Senkung, Zeilensprung und Satzzeichen wie von allein ergibt.

Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muss, in Versen wenigstens anfänglich konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird.
Friedrich Schiller: Brief an Goethe vom 24. November 1797

Enjambement von französisch enjamber ‚überschreiten‘, ‚überspringen‘, ein Zeilensprung oder Verssprung tritt in einer Folge von Versen dann auf, wenn eine Satz- oder Sinneinheit über das Ende eines Verses hinaus auf den folgenden Vers übergreift.


Wikipedia.- Über das Enjambement 

Kleist (hat) in seiner Penthesilea das Thema der Gewalt noch einmal gesteigert: sowohl materiell, weil hier ein Kannibalismus aus Liebe den Endpunkt bildet, als auch formal, weil er sich in das Korsett des Blankverses begibt, des ungereimten fünfhebigen Jambus. Aber sehen wir, was er aus diesem Formzwang macht: Er nutzt ihn als Mittel der Kompression, so, wie ein Motor das Treibstoffgemisch verdichtet, um es zur Explosion zu bringen. 
Ulrich Greiner in Der Zeit
 
http://www.zeit.de/2011/02/Kleist-Greiner/seite-2

Was mir die Göttliche begehrt, das weiß ich:
Brautwerber schickt sie mir, gefederte,
Genug in Lüften zu, die ihre Wünsche
Mit Todgeflüster in das Ohr mir raunen.
Im Leben keiner Schönen war ich spröd;
Seid mir der Bart gekeimt, ihr lieben Freunde,
Ihr wißt's, zu Willen jeder war ich gern:
Und wenn ich dieser mich gesperrt bis heute,
Beim Zevs, des Donners Gott, geschah's, weil ich
Das Plätzchen unter Büschen noch nicht fand,
Sie ungestört, ganz wie ihr Herz es wünscht,
Auf Küßen heiß von Erz im Arm zu nehmen.
Kurz, geht: ins Griechenlager folg' ich euch;
Die Schäferstunde bleibt nicht lang mehr aus:
Doch müßt ich auch durch ganze Monden noch,
Und Jahre, um sie frein: den Wagen dort
Nicht ehr zu meinen Freunden will ich lenken,
Ich schwör's, und Pergamos nicht wiedersehn,
Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht,
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.


Meine gestrige Frage genauer wiederholt:

Was für ein Haß den Priamiden längst
Entbrannt sei in der Griechen Brust...


Die Zeilen meinen, dass den Griechen ein Hass gegen die Priamiden in der Brust entbrannt ist. Ein Hass auf/gegen, aber ohne die richtende Präposition. Anstattdessen ein für unser heutiges Ohr verwirrender Dativ.
 

Gibt es dafür eine grammatikalische Erklärung?

Sonntag, 18. September 2016

Chemitz - Der Nischel von Karl Marx

"Proletarier aller Länder entschuldigt mich!"

Wie ein getauftes jüdisches Kind aus Trier als monströse Bronzeplastik in einer mitteldeutschen Stadt endet.

Stadt mit Köpfchen
Bis 2007 Wahlspruch der Stadt Chemnitz, von 1953 bis 1990 unter dem Namen Karl-Marx-Stadt verzeichnet


 Die zweitgrößte Portraitbüste der Welt, geschaffen von
Lew Kerbel, hergestellt in Leningrad, zusammengestzt in der DDR.

"Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen." 
Debatten über Pressefreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen.

 Gewicht 40 Tonnen

"Der Koran und die auf ihm fußende muselmanische Gesetzgebung reduzieren Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige. Der Ungläubige ist 'harby', d.h. der Feind. Der Islam ächtet die Nation der Ungläubigen und schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen." 
Die Kriegserklärung - Zur Geschichte der orientalischen Frage, Marx-Engels-Werke.

Höhe 7,10 Meter (mit Sockel über 13 Meter)

Wiki sagt: Nischel ist der lokale Spitzname für das Denkmal und leitet sich aus der mitteldeutschen Bezeichnung für Kopf bzw. Schädel ab. Das Areal mit dem Monument wurde darum im Volksmund auch „Schädelstätte“ genannt.

5. Mai 1818: Karl Marx wird als drittes von neun Kindern des Rechtsanwalts Heinrich Marx aka Hirsch Mordechai und dessen Frau Henriette geb. Pressburg in Trier geboren. Sowohl väterlicher wie auch mütterlicherseits stammt die Familie Marx von Rabbinerfamilien ab. Kurz vor Karls Geburt ist sein Vater zum Protestantismus übergetreten, um seinen Beruf als Rechtsanwalt weiter ausüben zu können. 
 
Wiki schreibt: Studenten der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz (Österreich) und des Fachbereiches Angewandte Kunst Schneeberg der Westsächsischen Hochschule Zwickau planten am Originalstandort in Zusammenarbeit mit der Neuen Sächsischen Galerie Chemnitz eine temporäre Einhausung des Monuments und Begehbarmachung des Kopfes von innen. Das Kunstprojekt unter dem Titel „Temporary Museum of Modern Marx" wurde am 17. Juni 2008 – eine Anspielung auf die Ereignisse vom 17. Juni 1953 – gestartet und war bis zum 31. August 2008 – eine Anspielung auf den 31. August 1990 als Datum der Unterzeichnung des deutsch-deutschen Einigungsvertrags – zugänglich.

Bertolt Brecht Das Manifest der Kommunistischen Partei
Versfassung 

...
Riesige Krisen, in zyklischer Wiederkehr, gleichend enormen / Unsichtbar tappenden Händen, ergreifen den Handel und drosseln / Schüttelnd in schweigender Wut Produktionsstätten, Märkte und Heime. / [...] Wenn das Erzeugnis jedoch nur gebraucht und nicht auch gekauft wird / Weil das Verdienst des Erzeugers zu klein ist – und macht man ihn größer / Lohnt es sich nicht mehr, das Zeug zu erzeugen – wozu dann noch Hände / Mieten? [...] nur: wo dann hin mit der Ware? Und also / [...] Alles ins Feuer geopfert, den Gott des Profits zu erweichen! / [...] Aber ihr Gott des Profits ist mit Blindheit geschlagen. Die Opfer / Kann er nicht sehn. Er ist unwissend. Ratend den Gläubigen, murmelt / Unverständliches er. Die Gesetze der Wirtschaft enthüllen sich / Wie der Schwerkraft Gesetze, wenn über den Köpfen das Haus uns / Krachend zusammenfällt.
...

(GA 5, Das Manifest, 126-28)

Penthesilea 4 - English is a very nice language, but...

Ich liebe die deutsche Sprache. Liebe, liebe, liebe sie.
Sie ist manchmal ungelenk, umständlich, sie eignet sich nicht wirklich gut zum Reimen und nur in Meisterhand für loses Witzeln und das, was die Engländer "puns" nenen.
ABER sie kann vibrieren, flattern, fließen, stolpern und marschieren, ermöglicht plötzliche unerwartete Wendungen durch großen Abstand zwischen Hilfsverb und Verb. Beginnt mit "Wir haben...", es folgen alle nur möglichen Schrecklichkeiten, und endet mit dem harmlosen Verb "durchwandert". Die Spannung, das Suspense, das "in Unsicherheit schweben" hängt dann an dieser Konstruktion des zerrissenen Verbes. 
Sie kann mit nationalistischen Ehrgeiz daherstampfen und gänzlich irden, irdisch klingen. Jiddische, französische, lateinische Wörter sind bei ihr eingezogen und manchmal nicht mehr als Migranten erkennbar.
Sie ist im Besitz von merkwürdigen Wörtern, Wörtern, die ihre Partner verloren haben (unwirsch), Wörtern, die sich verbandelt haben (Wahnsinn), Wörter, die so klingen, wie das, was sie meinen (Matsch).
Sie erlaubt Pathos und Kühle, Doppeldeutigkeit und Rotzfrechheit.

Spricht man sich SCHAF - KUH - ZIEGE vor, erschaffen Laut und Lippenstellung die Tiere. Oder RISS. 

Und sie kann auch sowas: Donaudampfschiffahrtskapitänspatent.

Mark Twain über "Die schreckliche deutsche Sprache"

http://www.viaggio-in-germania.de/twain-schreckliche-dt-sprache.pdf


Und eine Frage!!!!

Bei Kleist stoßen ich öfter auf Satzkonstruktionen folgender Art:

Erbittert hat es, Göttern mich und Menschen
In unbegriff'ner Leidenschaft empört.


oder

Ich jetzt, wie wir Argiver hoch erfreut,
Auf eine Feindinn des Dardanervolks zu stoßen;
Was für ein Haß den Priamiden längst
Entbrannt sei in der Griechen Brust,
wie nützlich,
So ihr, wie uns, ein Bündniß würde sein;
Und was der Augenblick noch sonst mir beut:

oder

Sich muß, wem sie die Freundin sei, erklären;

oder

Was geht dem Volke der Pelide an?

Ist das ein possessiver Dativ, oder was ist es? Das heißt, eine Wortgruppe oder Wort im Dativ, die/das den Besitz/die Zugehörigkeit anzeigt. Wir würden heute doch ´gegen´mit folgendem Akkusativ verwenden, oder in anderen Fällen den Genitiv?

 

Freitag, 16. September 2016

Auch das Schreckliche ist Teil von mir: DELETE – LÖSCHEN


„Du kannst jemanden aus deiner Erinnerung löschen, 
ihn aus deinem Herzen zu löschen, ist eine andere Geschichte.“

ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND 
ODER
VERGISS MICH NICHT?

Ein Film von Michel Gondry aus dem Jahr 2004.

Wenden wir uns wieder einmal der deutschen Filmtitel-Verhunzung zu.
„Vergiss mich nicht“ ist die deutsche Übersetzung für folgende Vorgabe:
„Eternal sunshine of the spotless mind“. Einleuchtend. „Ewiger Sonnenschein auf fleckenlosem Geist“ meint ja nahezu das gleiche. Der eine Titel ist hilfreiche Gebrauchsanweisung für Begriffsstutzige, die sonst vielleicht den entscheidenden
dramaturgischen Punkt übersehen, der andere Über-Titel und poetische Erweiterung.

Alexander Pope schrieb 1817 in seiner Versepistel „Eloise & Abelard“:

How happy is the blameless vestal’s lot!
The world forgetting, by the world forgot.
Eternal sunshine of the spotless mind!
Each pray’r accepted, and each wish resign’d.

Das Glück ist der unbefleckten Nonne hold!
Die Welt vergessend, als die Welt sie vergessen wollt.
Ewiger Sonnenschein auf fleckenlosem Geist ungestört!
Jedes Gebet angenommen, und jeder Wunsch unerhört.

Diese Worte sind verzweifelter Hohn, der bebend lobt, was gefürchtet wird. 


Der Drehbuchautor Charlie Kaufmann hat eine Liebesgeschichte über die Macht unserer Erinnerungen geschrieben. Eine Firma bietet die Vernichtung unerträglich schmerzender, scheinbar beendeter Liebesgeschichten an. Eine partielle emotionale Lobotomie sozusagen. Erinnerungen an Liebesleiden werden gelöscht, ergo Erinnerung an Liebe wird gelöscht. Als die Liebenden dies begreifen, suchen sie in ihren Gehirnen verzweifelt nach einem sicheren Versteck vor dem um sich greifenden Vergessen.
Erinnerungen mögen gleichermaßen wunderbar oder niederschmetternd sein, aber ohne sie sind wir verloren. Verlieren wir sie, verlieren wir uns. Wir sind die Summe auch unserer Niederlagen.
Eine Science-Fiction-Psychodrama-Komödie, die mein Herz berührt.
Jim Carey ohne grimassierende Manierismen, Kate Winslet brillant, die wild wechselnde Farbe ihrer Haare Wegweiser, in der durch die Zeiten einer Liebe springenden Geschichte.  Kirsten Dunst, Mark Ruffalo, Elijah Wood und Tom Wilkinson sind enorm hilfreich.

Das End-Titel-Lied der Korgis.

Change your heart, look around you
I need your love like the sunshine
And everybody’s gotta learn sometime

Donnerstag, 15. September 2016

Der erste Kuss - Jugendweihe

1972

WIKI GIBT DIE DEFINITIONEN:

Die Jugendweihe ist eine festliche Initiation, die den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter kennzeichnen soll. Sie findet meist im Alter von 14 Jahren statt. 

Initiation bezeichnet die Einführung eines Anwärters in eine Gemeinschaft, seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand, vom Kind zum Erwachsenen. Die sozialgeschichtlich wichtigste Initiation ist die Pubertäts- und Stammesinitiation der Stammesgesellschaft. Sie entstammt also der archaischen Vergangenheit.


Dass die Jugendweihe zum staatssozialistischen Fest avancierte, war in Moskau beschlossen worden. Im Mai 1953 fasste das Politbüro der KPdSU einen Beschluss über „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR", der auch eine sozialistische Alternative zur Konfirmation vorsah. Mit gewaltigem Druck wurde die formal aufgebaute Jugendweihe durch ihre zeitliche Nähe zu Ostern und Pfingsten und ihrer pseudosakralen Inhalte zu einem vordergründigen Gegenentwurf zur evangelischen Konfirmation und der katholischen Firmung etabliert ... Sie sollte eine Konkurrenz zur Konfirmation sein und war ein Instrument zur Erziehung der Jugend im Sinne marxistisch-leninistischer Weltanschauung der SED-Ideologie.


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DIES SIND MEINE ERINNERUNGEN:

Jugendweihe in der DDR - eine hochstilisierte, völlig sinnentleerte Feier. Zur geistigen Vorbereitung für die zu gestaltende sozialistische Persönlichkeit absolvierten wir, 14-jährig, unzählige pädagogische Jugendstunden. 
Eine, ein Pflichtbesuch im KZ Sachsenhausen, bleibt schockierende Erinnerung bis zum heutigen Tag. Graue Baracken, Namenlosigkeit, Haare, Haut, Nutzbarmachung, unmenschliches Nippes, Öfen, Koffer, Tod.

Am Tag der Feier selbst trug mein Vater das obligate feierliche Gedicht vor.

Zweites kophtisches Gedicht


Geh! Gehorche meinen Winken, 
Nutze deine jungen Tage, 
Lerne zeitig klüger sein! 
Auf des Glückes großer Waage 
Steht die Zunge selten ein. 
Du mußt steigen oder sinken, 
Du mußt herrschen und gewinnen 
Oder dienen und verlieren, 
Leiden oder triumphieren, 
Amboß oder Hammer sein.

Johann Wolfgang von Goethe, allerdings unterschrieben mit GÖTHE
(Kophta, ein sich in geheimnisvolles Dunkel hüllender, wundertätiger Weiser aus Ägypten. So beschreibt es Wiki.)
 


Zwischenbemerkung: der Vater übt das Gedicht, die kleine Schwester wandert durchs Wohnzimmer und sie beantwortet die implizierte Frage von "Amboss oder Hammer" mit dem entschiedenen Satz: "Ich werde Krankenschwester." - Sie ist es nicht geworden.

Der Tag des Festes: ich, verkleidet in zeitgemäßes Supermini, weißes Leinen mit Bauernstickerei. Ein noch nicht Ganz-Frauen-Wesen, dünn und ungelenk, die nicht sehr hohen Absätze meiner Schuhe machten meinen Gang staksig, im Gegensatz zum üblichen Schlurfen.

Den öffentlichen Teil absolvierten wir im Kino "International", beginnend mit öder Rede und gefolgt von dem schon erwähnten Gedichtsvortrag. Dann legten wir ein Gelöbnis ab, unser Leben dem Schutz und der Stärkung des Sozialismus zu widmen und abschließend wurde uns das überaus gräßliche Buches "Weltall, Erde, Mensch" übergeben - die ganze große, irre Welt bis zur Unkenntlichkeit eingepresst gemäß der Vorgaben unseres sozialistischen deutschen Staates.
Nichts von alldem begriff ich zu jener Zeit.

Danach Familienfeier im Künstlerclub "Die Möwe". Alte, uralte Leute, noch älter, als ich es jetzt bin, schenken mit Barchentunterwäsche und Emailleschmuck, die offizielle Geliebte meines Vaters erscheint in durchsichtigem Kleid und kleinstem Slip, was zu bedrohlicher Atemnot bei den uralten männlichen Verwandten führt. Ich bekomme einen Kassettenrecorder! Glück in Form eines rechteckigen Kastens aus Plaste. (Plaste und Elaste sind aus Zschkopau, aber der Recorder war aus dem Westen.) Es feiert so vor sich hin. 
 
Das Ziel all meiner pubertären Träume, ein 11 Jahre älterer Mann ist freundlcherweise gekommen und bringt mich nächtens nach Hause. 

Er lehrt mich meinen ersten Kuss. 

Es regnet. Es ist schön. Seine Zunge verwirrt mich. 

Es regnet noch immer. 

Meine Zähne fest zusammen gepresst, nein, doch nicht. 

Jetzt ist es noch schöner.

Mittwoch, 14. September 2016

Theater hat auch einen gewöhnlichen Probentag

Welcome, Gutentag, Bienvenue - Verehrter Herr Heinrich von Kleist! 
Heil dir, du Siegerinn! Überwinderinn! 
Des Rosenfestes Königinn! Triumph dir! 
Penthesilea!

Bronze Statuette der Amazonen Königin Penthesilea, die von Achilles getötet wird 
Ny Carlsberg Glyptotek, Copenhagen

Betrachtung über jeden Probenbeginn:

In einer neuen Produktion treffen völlig Fremde aufeinander und, im diesem besten Falle, auf einen wahren Dichter. 

Einige kennen sich aus vorherigen Arbeiten, einige glauben, sich zu kennen, die restlichen stoßen aufeinander, unbekannt & Überraschungen, solche oder solche, versprechend. 

Etwas, das die schon bekannt geglaubten, unter guten Bedingungen, allerdings auch bieten können.

Einer/Eine tritt an mit perfekt studiertem Text und muß sich nun unter größten Anstrengungen aus den Fesseln dieser ersten, unwahren Sicherheit befreien. Betonungen, einmal trainiert, bestehen auf Wiederholung, Melodien übermächtigen neue Gedanken. Das Mysterium verweigert (zunächst) den Zugang.

Einer/Eine schwimmt, paddelt, hechelt durch halberinnerte Wortfetzen, verheddert sich, verhakelt sich und schwitzt. Das Gesicht rot, die Beine schwer, die Arme unnütz. Alle denkbaren Möglichkeiten auf einmal, verhindern (erstmal) jegliche Entscheidung.

Einer/ Eine tastet, unterspielt, tändelt und ahnt, dass da noch Gewaltiges auf ihn zukommt. Das Vorspiel als Schutzschild und Möglichkeit der Annäherung. Irgendwann wird der große Sprung unvermeidlich werden. "Der Sprung macht die Erfahrung, nicht der Schritt." (H. Müller) 

Dazwischen ich, ein Gemisch aus ihnen allen, mit meinem Plan, einem Plan, der sich jederzeit als unpassend, unrealisierbar erweisen kann. 

Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.


b.b. 

Ich fürchte und ich liebe es. 


P.S. Albtraum.
Eine/Eine, die unangenehmen Ausnahme, bieten wenig, erwarten nichts. Pflichtübung. Dienst. Wenn begabt, wird er/sie sich irgendwie eintakten, wenn nicht, ist er/sie der Dorn in Auge, Ohr und Herz. Dressur ist nötig und schmerzhaft.

Montag, 12. September 2016

Der Korinthenkacker

DER KORINTHENKACKER

Das Wort hab ich zufällig grad gelesen. Ewig her, dass es mir untergekommen ist. Schönes Wort. Bildstark. 
Ein Korinthenkacker ist einer, der solche perfekte Genauigkeit anstrebt, dass er den Wald vor Präzisionlust nicht mehr sieht. Nicht das Thema ist wichtig, nur die Einzelheiten und wenn er mit seinen Pitzelkritiken Recht hat, ist er glücklich und vergißt völlig, worum es eigentlich ging. Lieber eine staubige Korinthe als einen Sack saftiger Trauben.
Manchmal ist ein Korinthenkacker auch nur einer, der Umleitungsschilder wahllos aufstellt, weil ihm der Weg wichtiger ist als das Ziel.

Um Korinthen zu kacken, muß man doll drücken, der Mund wird ganz klein, eng und schrumpelig, viel Anstrengung mit nur kleinem verdörrten Ergebnissen, Korinthen eben. Allerdings sind sie, die Korinthen, sehr kräftig im Geschmack.

Korinthen wurden nach der griechischen Hafenstadt Korinth benannt und werden aus der Rebsorte Korinthiaki, auch Schwarze Korinthe, hergestellt. Es handelt sich um die kleinste Rosinen-Art... sagt Wiki


Synonyme für den Kacker von Korinthen laut Thesaurus:
Formalist · Kleingeist · Kleinigkeitskrämer · Kleinkarierter · Krämerseele · Pedant · Dippelschisser (ugs.) · Erbsenzähler (ugs.) · Fliegenbeinzähler (ugs.) · I-Tüpferlreiter (ugs., österr.) · Kleinkrämer (ugs.) · Prinzipienreiter (ugs.) · Tüpflischisser (ugs., schweiz.)
 
Krümelkacker und Pingelfritz gibt es auch noch! Und im Englischen nitpicker, was soviel wie Läusezähler heißt, einer der Läuse einzeln sammelt.
Besserwisser & Rechthaber kacken manchmal Korinthen, aber nur  als Mittel um ihr eigentlich ersehntes Ziel zu erreichen. Klugscheißer dagegen, scheißen alles, Rosinen, Korinthen, Sultaninen und jedes vorstellbare Obst, mit Namen und Erntezeit und Rezeptvorschlägen, einfach um des Vergnügens willen.

 Ein Korinthenkackhaufen


Und ein Gedicht, ein seeeehr langes, dass ich auch seit langer Zeit nicht mehr gelesen habe.

Die Braut von Korinth
 
Nach Korinthus von Athen gezogen
Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt.
Einen Bürger hofft' er sich gewogen;
Beide Väter waren gastverwandt,
Hatten frühe schon
Töchterchen und Sohn
Braut und Bräutigam voraus genannt.

Aber wird er auch willkommen scheinen,
Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft?
Er ist noch ein Heide mit den Seinen,
Und sie sind schon Christen und getauft.
Keimt ein Glaube neu,
Wird oft Lieb' und Treu'
Wie ein böses Unkraut ausgerauft.

Und schon lag das ganze Haus im Stillen,
Vater, Töchter; nur die Mutter wacht;
Sie empfängt den Gast mit bestem Willen,
Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht.
Wein und Essen prangt,
Eh' er es verlangt:
So versorgend wünscht sie gute Nacht.

Aber bei dem wohlbestellten Essen
Wird die Lust der Speise nicht erregt;
Müdigkeit läßt Speis und Trank vergessen,
Daß er angekleidet sich aufs Bette legt;
Und er schlummert fast,
Als ein seltner Gast
Sich zur offnen Tür herein bewegt.

Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer
Tritt, mit weißem Schleier und Gewand,
Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer,
Um die Stirn ein schwarz und goldnes Band.
Wie sie ihn erblickt,
Hebt sie, die erschrickt,
Mit Erstaunen eine weiße Hand.

"Bin ich", rief sie aus, "so fremd im Hause,
Daß ich von dem Gaste nichts vernahm?
Ach, so hält man mich in meiner Klause!
Und nun überfällt mich hier die Scham.
Ruhe nur so fort
Auf dem Lager dort,
Und ich gehe schnell, so wie ich kam."

"Bleibe, schönes Mädchen!" ruft der Knabe,
Rafft von seinem Lager sich geschwind:
"Hier ist Ceres', hier ist Bacchus' Gabe;
Und du bringst den Amor, liebes Kind!
Bist vor Schrecken blaß!
Liebe, komm und laß,
Laß uns sehn, wie froh die Götter sind."

"Ferne bleib', o Jüngling! bleibe stehen;
Ich gehöre nicht den Freuden an.
Schon der letzte Schritt ist, ach! geschehen
Durch der guten Mutter kranken Wahn,
Die genesend schwur:
'Jugend und Natur
Sei dem Himmel künftig untertan.'

"Und der alten Götter bunt Gewimmel
Hat sogleich das stille Haus geleert.
Unsichtbar wird einer nur im Himmel,
Und ein Heiland wird am Kreuz verehrt;
Opfer fallen hier,
Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört."

Und er fragt und wäget alle Worte,
Deren keines seinem Geist entgeht:
Ist es möglich, daß am stillen Orte
Die geliebte Braut hier vor mir steht?
"Sei die Meine nur!
Unsrer Väter Schwur
Hat vom Himmel Segen uns erfleht."

"Mich erhältst du nicht, du gute Seele!
Meiner zweiten Schwester gönnt man dich.
Wenn ich mich in stiller Klause quäle,
Ach! in ihren Armen denk an mich,
Die an dich nur denkt,
Die sich liebend kränkt;
In die Erde bald verbirgt sie sich."

"Nein! bei dieser Flamme sei's geschworen,
Gütig zeigt sie Hymen uns voraus;
Bist der Freude nicht und mir verloren,
Kommst mit mir in meines Vaters Haus.
Liebchen, bleibe hier,
Feire gleich mit mir
Unerwartet unsern Hochzeitschmaus!"

Und schon wechseln sie der Treue Zeichen;
Golden reicht sie ihm die Kette dar,
Und er will ihr eine Schale reichen,
Silbern, künstlich, wie nicht eine war.
"Die ist nicht für mich;
Doch, ich bitte dich,
Eine Locke gib von deinem Haar!"

Eben schlug die dumpfe Geisterstunde,
Und nun schien es ihr erst wohl zu sein.
Gierig schlürfte sie mit blassem Munde
Nun den dunkel blutgefärbten Wein;
Doch vom Weizenbrot,
Das er freundlich bot,
Nahm sie nicht den kleinsten Bissen ein.

Und dem Jüngling reichte sie die Schale,
Der, wie sie, nun hastig lüstern trank.
Liebe fordert er beim stillen Mahle;
Ach, sein armes Herz war liebekrank.
Doch sie widersteht,
Wie er immer fleht,
Bis er weinend auf das Bette sank.

Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder:
"Ach, wie ungern seh' ich dich gequält!
Aber, ach! berührst du meine Glieder,
Fühlst du schaudernd, was ich dir verhehlt.
Wie der Schnee so weiß,
Aber kalt wie Eis,
Ist das Liebchen, das du dir erwählt."

Heftig faßt er sie mit starken Armen,
Von der Liebe Jugendkraft durchmannt:
"Hoffe doch, bei mir noch zu erwarmen,
Wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt!
Wechselhauch und Kuß!
Liebesüberfluß!
Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt?"

Liebe schließet fester sie zusammen,
Tränen mischen sich in ihre Lust;
Gierig saugt sie seines Mundes Flammen,
Eins ist nur im andern sich bewußt.
Seine Liebeswut
Wärmt ihr starres Blut,
Doch es schlagt kein Herz in ihrer Brust.

Unterdessen schleichet auf dem Gange
Häuslich spät die Mutter noch vorbei,
Horchet an der Tür und horchet lange,
Welch ein sonderbarer Ton es sei:
Klag- und Wonnelaut
Bräutigams und Braut
Und des Liebestammelns Raserei.

Unbeweglich bleibt sie an der Türe,
Weil sie erst sich überzeugen muß,
Und sie hört die höchsten Liebesschwüre,
Lieb' und Schmeichelworte, mit Verdruß:
"Still! der Hahn erwacht!" -
"Aber morgen Nacht
Bist du wieder da?" Und Kuß auf Kuß.

Länger hält die Mutter nicht das Zürnen,
Öffnet das bekannte Schloß geschwind:
"Gibt es hier im Hause solche Dirnen,
Die dem Fremden gleich zu Willen sind?"
So zur Tür hinein.
Bei der Lampe Schein
Sieht sie - Gott! sie sieht ihr eigen Kind.

Und der Jüngling will im ersten Schrecken
Mit des Mädchens eignem Schleierflor,
Mit dem Teppich die Geliebte decken;
Doch sie windet gleich sich selbst hervor.
Wie mit Geists Gewalt
Hebet die Gestalt
Lang und langsam sich im Bett' empor.

"Mutter! Mutter!" spricht sie hohle Worte:
"So mißgönnt Ihr mir die schöne Nacht!
Ihr vertreibt mich von dem warmen Orte.
Bin ich zur Verzweiflung nur erwacht?
Ist's Euch nicht genug,
Daß ins Leichentuch,
Daß Ihr früh mich in das Grab gebracht?

"Aber aus der schwerbedeckten Enge
Treibet mich ein eigenes Gericht.
Eurer Priester summende Gesänge
Und ihr Segen haben kein Gewicht;
Salz und Wasser kühlt
Nicht, wo Jugend fühlt;
Ach! die Erde kühlt die Liebe nicht.

"Dieser Jüngling war mir erst versprochen,
Als noch Venus' heitrer Tempel stand.
Mutter, habt Ihr doch das Wort gebrochen,
Weil ein fremd, ein falsch Gelübd' Euch band!
Doch kein Gott erhört,
Wenn die Mutter schwört,
Zu versagen ihrer Tochter Hand.

"Aus dem Grabe werd' ich ausgetrieben,
Noch zu suchen das vermißte Gut,
Noch den schon verlornen Mann zu lieben
Und zu saugen seines Herzens Blut.
Ist's um den gescheh'n,
Muß nach andern geh'n,
Und das junge Volk erliegt der Wut. -

"Schöner Jüngling! kannst nicht länger leben;
Du versiechest nun an diesem Ort.
Meine Kette hab' ich dir gegeben;
Deine Locke nehm' ich mit mir fort.
Sieh sie an genau!
Morgen bist du grau,
Und nur braun erscheinst du wieder dort. -

"Höre, Mutter, nun die letzte Bitte:
Einen Scheiterhaufen schichte du;
Öffne meine bange kleine Hütte,
Bring in Flammen Liebende zur Ruh'!
Wenn der Funke sprüht,
Wenn die Asche glüht,
Eilen wir den alten Göttern zu."
 
Johann Wolfgang von Goethe