Donnerstag, 15. September 2016

Der erste Kuss - Jugendweihe

1972

WIKI GIBT DIE DEFINITIONEN:

Die Jugendweihe ist eine festliche Initiation, die den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter kennzeichnen soll. Sie findet meist im Alter von 14 Jahren statt. 

Initiation bezeichnet die Einführung eines Anwärters in eine Gemeinschaft, seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand, vom Kind zum Erwachsenen. Die sozialgeschichtlich wichtigste Initiation ist die Pubertäts- und Stammesinitiation der Stammesgesellschaft. Sie entstammt also der archaischen Vergangenheit.


Dass die Jugendweihe zum staatssozialistischen Fest avancierte, war in Moskau beschlossen worden. Im Mai 1953 fasste das Politbüro der KPdSU einen Beschluss über „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR", der auch eine sozialistische Alternative zur Konfirmation vorsah. Mit gewaltigem Druck wurde die formal aufgebaute Jugendweihe durch ihre zeitliche Nähe zu Ostern und Pfingsten und ihrer pseudosakralen Inhalte zu einem vordergründigen Gegenentwurf zur evangelischen Konfirmation und der katholischen Firmung etabliert ... Sie sollte eine Konkurrenz zur Konfirmation sein und war ein Instrument zur Erziehung der Jugend im Sinne marxistisch-leninistischer Weltanschauung der SED-Ideologie.


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DIES SIND MEINE ERINNERUNGEN:

Jugendweihe in der DDR - eine hochstilisierte, völlig sinnentleerte Feier. Zur geistigen Vorbereitung für die zu gestaltende sozialistische Persönlichkeit absolvierten wir, 14-jährig, unzählige pädagogische Jugendstunden. 
Eine, ein Pflichtbesuch im KZ Sachsenhausen, bleibt schockierende Erinnerung bis zum heutigen Tag. Graue Baracken, Namenlosigkeit, Haare, Haut, Nutzbarmachung, unmenschliches Nippes, Öfen, Koffer, Tod.

Am Tag der Feier selbst trug mein Vater das obligate feierliche Gedicht vor.

Zweites kophtisches Gedicht


Geh! Gehorche meinen Winken, 
Nutze deine jungen Tage, 
Lerne zeitig klüger sein! 
Auf des Glückes großer Waage 
Steht die Zunge selten ein. 
Du mußt steigen oder sinken, 
Du mußt herrschen und gewinnen 
Oder dienen und verlieren, 
Leiden oder triumphieren, 
Amboß oder Hammer sein.

Johann Wolfgang von Goethe, allerdings unterschrieben mit GÖTHE
(Kophta, ein sich in geheimnisvolles Dunkel hüllender, wundertätiger Weiser aus Ägypten. So beschreibt es Wiki.)
 


Zwischenbemerkung: der Vater übt das Gedicht, die kleine Schwester wandert durchs Wohnzimmer und sie beantwortet die implizierte Frage von "Amboss oder Hammer" mit dem entschiedenen Satz: "Ich werde Krankenschwester." - Sie ist es nicht geworden.

Der Tag des Festes: ich, verkleidet in zeitgemäßes Supermini, weißes Leinen mit Bauernstickerei. Ein noch nicht Ganz-Frauen-Wesen, dünn und ungelenk, die nicht sehr hohen Absätze meiner Schuhe machten meinen Gang staksig, im Gegensatz zum üblichen Schlurfen.

Den öffentlichen Teil absolvierten wir im Kino "International", beginnend mit öder Rede und gefolgt von dem schon erwähnten Gedichtsvortrag. Dann legten wir ein Gelöbnis ab, unser Leben dem Schutz und der Stärkung des Sozialismus zu widmen und abschließend wurde uns das überaus gräßliche Buches "Weltall, Erde, Mensch" übergeben - die ganze große, irre Welt bis zur Unkenntlichkeit eingepresst gemäß der Vorgaben unseres sozialistischen deutschen Staates.
Nichts von alldem begriff ich zu jener Zeit.

Danach Familienfeier im Künstlerclub "Die Möwe". Alte, uralte Leute, noch älter, als ich es jetzt bin, schenken mit Barchentunterwäsche und Emailleschmuck, die offizielle Geliebte meines Vaters erscheint in durchsichtigem Kleid und kleinstem Slip, was zu bedrohlicher Atemnot bei den uralten männlichen Verwandten führt. Ich bekomme einen Kassettenrecorder! Glück in Form eines rechteckigen Kastens aus Plaste. (Plaste und Elaste sind aus Zschkopau, aber der Recorder war aus dem Westen.) Es feiert so vor sich hin. 
 
Das Ziel all meiner pubertären Träume, ein 11 Jahre älterer Mann ist freundlcherweise gekommen und bringt mich nächtens nach Hause. 

Er lehrt mich meinen ersten Kuss. 

Es regnet. Es ist schön. Seine Zunge verwirrt mich. 

Es regnet noch immer. 

Meine Zähne fest zusammen gepresst, nein, doch nicht. 

Jetzt ist es noch schöner.

Mittwoch, 14. September 2016

Theater hat auch einen gewöhnlichen Probentag

Welcome, Gutentag, Bienvenue - Verehrter Herr Heinrich von Kleist! 
Heil dir, du Siegerinn! Überwinderinn! 
Des Rosenfestes Königinn! Triumph dir! 
Penthesilea!

Bronze Statuette der Amazonen Königin Penthesilea, die von Achilles getötet wird 
Ny Carlsberg Glyptotek, Copenhagen

Betrachtung über jeden Probenbeginn:

In einer neuen Produktion treffen völlig Fremde aufeinander und, im diesem besten Falle, auf einen wahren Dichter. 

Einige kennen sich aus vorherigen Arbeiten, einige glauben, sich zu kennen, die restlichen stoßen aufeinander, unbekannt & Überraschungen, solche oder solche, versprechend. 

Etwas, das die schon bekannt geglaubten, unter guten Bedingungen, allerdings auch bieten können.

Einer/Eine tritt an mit perfekt studiertem Text und muß sich nun unter größten Anstrengungen aus den Fesseln dieser ersten, unwahren Sicherheit befreien. Betonungen, einmal trainiert, bestehen auf Wiederholung, Melodien übermächtigen neue Gedanken. Das Mysterium verweigert (zunächst) den Zugang.

Einer/Eine schwimmt, paddelt, hechelt durch halberinnerte Wortfetzen, verheddert sich, verhakelt sich und schwitzt. Das Gesicht rot, die Beine schwer, die Arme unnütz. Alle denkbaren Möglichkeiten auf einmal, verhindern (erstmal) jegliche Entscheidung.

Einer/ Eine tastet, unterspielt, tändelt und ahnt, dass da noch Gewaltiges auf ihn zukommt. Das Vorspiel als Schutzschild und Möglichkeit der Annäherung. Irgendwann wird der große Sprung unvermeidlich werden. "Der Sprung macht die Erfahrung, nicht der Schritt." (H. Müller) 

Dazwischen ich, ein Gemisch aus ihnen allen, mit meinem Plan, einem Plan, der sich jederzeit als unpassend, unrealisierbar erweisen kann. 

Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.


b.b. 

Ich fürchte und ich liebe es. 


P.S. Albtraum.
Eine/Eine, die unangenehmen Ausnahme, bieten wenig, erwarten nichts. Pflichtübung. Dienst. Wenn begabt, wird er/sie sich irgendwie eintakten, wenn nicht, ist er/sie der Dorn in Auge, Ohr und Herz. Dressur ist nötig und schmerzhaft.

Montag, 12. September 2016

Der Korinthenkacker

DER KORINTHENKACKER

Das Wort hab ich zufällig grad gelesen. Ewig her, dass es mir untergekommen ist. Schönes Wort. Bildstark. 
Ein Korinthenkacker ist einer, der solche perfekte Genauigkeit anstrebt, dass er den Wald vor Präzisionlust nicht mehr sieht. Nicht das Thema ist wichtig, nur die Einzelheiten und wenn er mit seinen Pitzelkritiken Recht hat, ist er glücklich und vergißt völlig, worum es eigentlich ging. Lieber eine staubige Korinthe als einen Sack saftiger Trauben.
Manchmal ist ein Korinthenkacker auch nur einer, der Umleitungsschilder wahllos aufstellt, weil ihm der Weg wichtiger ist als das Ziel.

Um Korinthen zu kacken, muß man doll drücken, der Mund wird ganz klein, eng und schrumpelig, viel Anstrengung mit nur kleinem verdörrten Ergebnissen, Korinthen eben. Allerdings sind sie, die Korinthen, sehr kräftig im Geschmack.

Korinthen wurden nach der griechischen Hafenstadt Korinth benannt und werden aus der Rebsorte Korinthiaki, auch Schwarze Korinthe, hergestellt. Es handelt sich um die kleinste Rosinen-Art... sagt Wiki


Synonyme für den Kacker von Korinthen laut Thesaurus:
Formalist · Kleingeist · Kleinigkeitskrämer · Kleinkarierter · Krämerseele · Pedant · Dippelschisser (ugs.) · Erbsenzähler (ugs.) · Fliegenbeinzähler (ugs.) · I-Tüpferlreiter (ugs., österr.) · Kleinkrämer (ugs.) · Prinzipienreiter (ugs.) · Tüpflischisser (ugs., schweiz.)
 
Krümelkacker und Pingelfritz gibt es auch noch! Und im Englischen nitpicker, was soviel wie Läusezähler heißt, einer der Läuse einzeln sammelt.
Besserwisser & Rechthaber kacken manchmal Korinthen, aber nur  als Mittel um ihr eigentlich ersehntes Ziel zu erreichen. Klugscheißer dagegen, scheißen alles, Rosinen, Korinthen, Sultaninen und jedes vorstellbare Obst, mit Namen und Erntezeit und Rezeptvorschlägen, einfach um des Vergnügens willen.

 Ein Korinthenkackhaufen


Und ein Gedicht, ein seeeehr langes, dass ich auch seit langer Zeit nicht mehr gelesen habe.

Die Braut von Korinth
 
Nach Korinthus von Athen gezogen
Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt.
Einen Bürger hofft' er sich gewogen;
Beide Väter waren gastverwandt,
Hatten frühe schon
Töchterchen und Sohn
Braut und Bräutigam voraus genannt.

Aber wird er auch willkommen scheinen,
Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft?
Er ist noch ein Heide mit den Seinen,
Und sie sind schon Christen und getauft.
Keimt ein Glaube neu,
Wird oft Lieb' und Treu'
Wie ein böses Unkraut ausgerauft.

Und schon lag das ganze Haus im Stillen,
Vater, Töchter; nur die Mutter wacht;
Sie empfängt den Gast mit bestem Willen,
Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht.
Wein und Essen prangt,
Eh' er es verlangt:
So versorgend wünscht sie gute Nacht.

Aber bei dem wohlbestellten Essen
Wird die Lust der Speise nicht erregt;
Müdigkeit läßt Speis und Trank vergessen,
Daß er angekleidet sich aufs Bette legt;
Und er schlummert fast,
Als ein seltner Gast
Sich zur offnen Tür herein bewegt.

Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer
Tritt, mit weißem Schleier und Gewand,
Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer,
Um die Stirn ein schwarz und goldnes Band.
Wie sie ihn erblickt,
Hebt sie, die erschrickt,
Mit Erstaunen eine weiße Hand.

"Bin ich", rief sie aus, "so fremd im Hause,
Daß ich von dem Gaste nichts vernahm?
Ach, so hält man mich in meiner Klause!
Und nun überfällt mich hier die Scham.
Ruhe nur so fort
Auf dem Lager dort,
Und ich gehe schnell, so wie ich kam."

"Bleibe, schönes Mädchen!" ruft der Knabe,
Rafft von seinem Lager sich geschwind:
"Hier ist Ceres', hier ist Bacchus' Gabe;
Und du bringst den Amor, liebes Kind!
Bist vor Schrecken blaß!
Liebe, komm und laß,
Laß uns sehn, wie froh die Götter sind."

"Ferne bleib', o Jüngling! bleibe stehen;
Ich gehöre nicht den Freuden an.
Schon der letzte Schritt ist, ach! geschehen
Durch der guten Mutter kranken Wahn,
Die genesend schwur:
'Jugend und Natur
Sei dem Himmel künftig untertan.'

"Und der alten Götter bunt Gewimmel
Hat sogleich das stille Haus geleert.
Unsichtbar wird einer nur im Himmel,
Und ein Heiland wird am Kreuz verehrt;
Opfer fallen hier,
Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört."

Und er fragt und wäget alle Worte,
Deren keines seinem Geist entgeht:
Ist es möglich, daß am stillen Orte
Die geliebte Braut hier vor mir steht?
"Sei die Meine nur!
Unsrer Väter Schwur
Hat vom Himmel Segen uns erfleht."

"Mich erhältst du nicht, du gute Seele!
Meiner zweiten Schwester gönnt man dich.
Wenn ich mich in stiller Klause quäle,
Ach! in ihren Armen denk an mich,
Die an dich nur denkt,
Die sich liebend kränkt;
In die Erde bald verbirgt sie sich."

"Nein! bei dieser Flamme sei's geschworen,
Gütig zeigt sie Hymen uns voraus;
Bist der Freude nicht und mir verloren,
Kommst mit mir in meines Vaters Haus.
Liebchen, bleibe hier,
Feire gleich mit mir
Unerwartet unsern Hochzeitschmaus!"

Und schon wechseln sie der Treue Zeichen;
Golden reicht sie ihm die Kette dar,
Und er will ihr eine Schale reichen,
Silbern, künstlich, wie nicht eine war.
"Die ist nicht für mich;
Doch, ich bitte dich,
Eine Locke gib von deinem Haar!"

Eben schlug die dumpfe Geisterstunde,
Und nun schien es ihr erst wohl zu sein.
Gierig schlürfte sie mit blassem Munde
Nun den dunkel blutgefärbten Wein;
Doch vom Weizenbrot,
Das er freundlich bot,
Nahm sie nicht den kleinsten Bissen ein.

Und dem Jüngling reichte sie die Schale,
Der, wie sie, nun hastig lüstern trank.
Liebe fordert er beim stillen Mahle;
Ach, sein armes Herz war liebekrank.
Doch sie widersteht,
Wie er immer fleht,
Bis er weinend auf das Bette sank.

Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder:
"Ach, wie ungern seh' ich dich gequält!
Aber, ach! berührst du meine Glieder,
Fühlst du schaudernd, was ich dir verhehlt.
Wie der Schnee so weiß,
Aber kalt wie Eis,
Ist das Liebchen, das du dir erwählt."

Heftig faßt er sie mit starken Armen,
Von der Liebe Jugendkraft durchmannt:
"Hoffe doch, bei mir noch zu erwarmen,
Wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt!
Wechselhauch und Kuß!
Liebesüberfluß!
Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt?"

Liebe schließet fester sie zusammen,
Tränen mischen sich in ihre Lust;
Gierig saugt sie seines Mundes Flammen,
Eins ist nur im andern sich bewußt.
Seine Liebeswut
Wärmt ihr starres Blut,
Doch es schlagt kein Herz in ihrer Brust.

Unterdessen schleichet auf dem Gange
Häuslich spät die Mutter noch vorbei,
Horchet an der Tür und horchet lange,
Welch ein sonderbarer Ton es sei:
Klag- und Wonnelaut
Bräutigams und Braut
Und des Liebestammelns Raserei.

Unbeweglich bleibt sie an der Türe,
Weil sie erst sich überzeugen muß,
Und sie hört die höchsten Liebesschwüre,
Lieb' und Schmeichelworte, mit Verdruß:
"Still! der Hahn erwacht!" -
"Aber morgen Nacht
Bist du wieder da?" Und Kuß auf Kuß.

Länger hält die Mutter nicht das Zürnen,
Öffnet das bekannte Schloß geschwind:
"Gibt es hier im Hause solche Dirnen,
Die dem Fremden gleich zu Willen sind?"
So zur Tür hinein.
Bei der Lampe Schein
Sieht sie - Gott! sie sieht ihr eigen Kind.

Und der Jüngling will im ersten Schrecken
Mit des Mädchens eignem Schleierflor,
Mit dem Teppich die Geliebte decken;
Doch sie windet gleich sich selbst hervor.
Wie mit Geists Gewalt
Hebet die Gestalt
Lang und langsam sich im Bett' empor.

"Mutter! Mutter!" spricht sie hohle Worte:
"So mißgönnt Ihr mir die schöne Nacht!
Ihr vertreibt mich von dem warmen Orte.
Bin ich zur Verzweiflung nur erwacht?
Ist's Euch nicht genug,
Daß ins Leichentuch,
Daß Ihr früh mich in das Grab gebracht?

"Aber aus der schwerbedeckten Enge
Treibet mich ein eigenes Gericht.
Eurer Priester summende Gesänge
Und ihr Segen haben kein Gewicht;
Salz und Wasser kühlt
Nicht, wo Jugend fühlt;
Ach! die Erde kühlt die Liebe nicht.

"Dieser Jüngling war mir erst versprochen,
Als noch Venus' heitrer Tempel stand.
Mutter, habt Ihr doch das Wort gebrochen,
Weil ein fremd, ein falsch Gelübd' Euch band!
Doch kein Gott erhört,
Wenn die Mutter schwört,
Zu versagen ihrer Tochter Hand.

"Aus dem Grabe werd' ich ausgetrieben,
Noch zu suchen das vermißte Gut,
Noch den schon verlornen Mann zu lieben
Und zu saugen seines Herzens Blut.
Ist's um den gescheh'n,
Muß nach andern geh'n,
Und das junge Volk erliegt der Wut. -

"Schöner Jüngling! kannst nicht länger leben;
Du versiechest nun an diesem Ort.
Meine Kette hab' ich dir gegeben;
Deine Locke nehm' ich mit mir fort.
Sieh sie an genau!
Morgen bist du grau,
Und nur braun erscheinst du wieder dort. -

"Höre, Mutter, nun die letzte Bitte:
Einen Scheiterhaufen schichte du;
Öffne meine bange kleine Hütte,
Bring in Flammen Liebende zur Ruh'!
Wenn der Funke sprüht,
Wenn die Asche glüht,
Eilen wir den alten Göttern zu."
 
Johann Wolfgang von Goethe

Sonntag, 11. September 2016

Kai Löffelberg photographiert einen Schrottplatz in Ghana

Die Elektromülldeponie Agbogbloshie

Nach Schätzungen der UN fallen weltweit jedes Jahr zwischen 20 und 50 Millionen Tonnen Elektromüll an.

© Kai Loeffelben/laif

Agbogbloshie ist ein Stadtteil von Accra, einer Stadt mit mehr als 2 Millionen Einwohnern, in Ghana.
In Agbogbloshie leben etwa 40 000 Menschen, die meisten vom Ausschlachten von Elektroschrott, der illegal aus Europa hergeschafft wird, obwohl das Baseler Übereinkommen von 1989 es verbietet, Elektroschrott in Länder zu exportieren, die nicht Mitglied der OECD sind. 
In Agbogbloshie gewinnen sie Eisen, Aluminium, Kupfer aus nicht mehr ganz neuen Computern, Tastaturen, Monitoren, Druckern, Fernsehern, DVD-Spielern, Kühlschränken, Flachbildschirmen, ....

Bei der nicht organisierten und vollkommen unsachgemäßen Trennung der Wertstoffe – u. a. mit Hilfe von offenen Feuern – entstehen hochgiftige Dämpfe aus den Bauteilen. Aufgrund dessen wurde der Ort 2013 von der Umweltorganisation Blacksmith Institute zu einem der am schlimmsten verseuchten Orte der Welt gewählt. 
Wiki
 
Die Arbeiter schmelzen Plastikverkleidungen von Kabeln und Platinen, um an die begehrten Rohstoffe zu kommen. Die Reste verbrennen sie, dabei dient ihnen Isolierschaum aus Kühlschranktüren als Brennmaterial. Es entstehen gefährliche Gifte, die höchst krebserregend sind. Die Liste reicht von Blei und Cadmium bis Quecksilber und Chrom. Täglich atmen die Menschen, meist Kinder und Jugendliche, die giftigen Dämpfe ein.
planet wissen 

http://www.zeit.de/2014/31/elektroschrott-ghana-afrika-accra/komplettansicht

http://www.planet-wissen.de/kultur/afrika/ghana/pwiegiftigerelektromuell100.html 

LISTE DER AM STÄRKSTEN VERSCHMUTZTEN ORTE 

UNICEF Photo des Jahres 2011
© Kai Loeffelben/laif 

Den Jungen hat Kai Löffelbein mehrere Tage lang gesucht. Er hat ihn nie wiedergesehen, seinen Namen kennt er nicht.

© Kai Loeffelben/laif 

"Andere Journalisten sprachen von Agbogbloshie immer als 'Vorhof zur Hölle', erst als ich ankam, verstand ich, was sie meinten." 
Kai Löffelberg

© Kai Loeffelben/laif 

 

Berlin in einer Spätsommernacht - Es gibt nur ein ökonomisches System in der Welt, und das ist der Kapitalismus.

Es gibt nur ein ökonomisches System in der Welt, und das ist der Kapitalismus.
Margarete Thatcher

Berlin ist nicht wie Italien. Nicht strahlend lichtüberflutet, wohlig warm, durchwirkt von sommergeschwängerter Luft. Nicht. Keineswegs.
Kaum steigt die Temperatur über 18 Grad spielen wir Berliner leicht übertrieben, es sei Sommer, zu wenig Kleidung, zu gute Laune, Cafestühle überfluten alle Bürgersteige, die Endlichkeit der warmen Tage erzeugt Übereifer. Jetzt trinken wir Kaltgetränke, jetzt mögen wir ungekochte Vorspeisen. Minze und Basilikum haben Hoch-Zeit. Berlin hat Sommer, wie Kinder Schokolade haben, zu viel auf einmal, zu kurz und danach hat man Bauchschmerzen. Sommer, ein rares SuperSonderAngebot, ein Bonus für brave Berliner.

Die Touristen sind eine ganz eigene Armee mit anderen Regeln.

Wir wissen, dies ist auf Zeit und ist bald, sehr bald vorbei. Grau und kühl ist der Normalzustand. Dreckig bleibts. Egal. Es ist herrlich.

 Im Hinterhof, da wo ich wohne, 
wenig Platz, Kneipe, DJ-Musik, Efeu, viele Leute und ein Kino. 

 Kleidsames Grünzeug

Mein Abend begann schrecklich. Keine Details. 
Eine präzise Redewendung benennt den Zustand pathologischer, bedauernswerter Eitelkeit auf den Punkt: jemand hat seinen Kopf so tief im eigenen Arsch, dass er seine Wiirkung auf andere nicht mehr bemerken kann, denn dort, im Arsch, ist es dunkel, sehr dunkel. Having ones head up ones arse.
Zur Erholung ein Spaziergang, an der Spree. Gegenüber des Bodemuseums wird getanzt, eng getanzt, die Generationen, ein seltener Vorgang, mischen sich.
Würden doch diese Sommernächte ewig dauern. Aber könnten wir sie dann noch so geniessen?

Democracy is the worst form of government, except for all the others.
Winston Churchill 

Nachtkino. "High Rise" im Central. Am unsanierten zweiten Hinterhof, auf dem gefeiert wird, ein schönes Kino, klein & leicht versifft. Gutes Programm und die ganze Woche durch Spätvorstellungen.

HIGH RISE
Ein Film von Ben Wheatley.
Tom Hiddelston wieder einmal, wie schon in der Hochpolierten-Le Carré Verfilmung  "The Nightmanager", in hautengen, zu gut gutsitzenden Anzügen. Nur trägt er sie hier, im zweiten Teil, blutfleckig, mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Die Zeit, der Stil ist irgendwie in den Siebzigern, die Autos verraten es uns, die graue abgeknickte Betonstruktur des Titel-Hochhauses, das für ein idealistisches soziales Experiment, das aus dem Ruder läuft, steht.

 Hiddleston, hier ohne Anzug

Tom Hiddleston, heute einer der aussichtsreicheren Kandidaten für den nächsten Bond-Job, spielt diese Rolle, als hätte er eine eingebaute, stufenlose Regelung für Grade der Kultiviertheit. Anfangs fügt sich seine lange, dünne Figur wie ein weiteres vertikales Baumerkmal in die Geometrie des Hochhauses. (Zeit online)
Ein anstrengender Film. Unerbittlich und doch auch kindlich. Wütende Kapitalismuskritik, toll photographiert, zu absichtsvoll, und unbedingt zu lang. Ich habe verstanden, lang bevor der Film zum Ende kommt.

Die englische Elite hat einen Plan, einen wohlgemeinten. Es soll alles besser werden für die britischen Bürger. Dazu braucht es lediglich ein neues gesellschaftliches Ordnungssystem. Also wagt man mit dem Einverständnis aller ein soziales Experiment, eine Utopie der Selbstversorgung. Und dann geht alles schief. Nicht erfüllte Versprechen werden zu Enttäuschung, Enttäuschung zu Wut, Wut zu Revolution, Revolution zu Anarchie. Am Ende bleibt den Überlebenden nur die Asche dieses Traums, um etwas Neues zu beginnen. Spiegel online
Klassenkampf. Was für ein erstaunlich archaisches Wort, würde man fast denken. 

http://www.spiegel.de/kultur/kino/high-rise-mit-tom-hiddleston-sex-gewalt-und-eine-dose-hundefutter-a-1099966.html 

„High-Rise“ ist sehr erwachsenes Kino, fernab der unzähligen Feelgoodmovies, die derzeit für die Generation 50+ produziert werden. Inspirierend unangenehm und sogar – im Hinblick auf die viel diskutierte Identitätskrise der Mittelschicht – sehr aktuell. Keineswegs nur was für Leute, die in jenen Siebzigern selber jung waren. Tagesspiegel

There is only one economic system in the world, and that is capitalism. The difference lies in whether the capital is in the hands of the State or whether the greater part of it is in the hands of people outside of State control. Where there is State capitalism there will never be political freedom. Where there is private capitalism there may not be political freedom, but there cannot be political freedom without it. 
Margaret Thatcher House of Commons Speech Source:Hansard HC [921/16-48]

Donnerstag, 8. September 2016

Theaterwohnung 11 - Der Charme der Sechziger - Sächsische Erinnerungen

Wiedereinmal eine neue Theaterwohnung, nur 10 Minuten Fußweg vom hiesigen Schauspielhaus entfernt, in einem ein Altneubau in einer Gegend voller Altneubauten, ganze Strassenzüge leerstehend in Erwartung der kommenden Sanierung - ein Bäcker, eine Kneipe für die ansässigen rechten Biertrinker, ein Versicherungs-und Reisebüro, das 2x2 Stunden am Tag geöffnet hat, außer Mittwoch und Freitag, da sind es nur 1x2 und ein überfülltes EDEKA am Ende der Strasse.

Im Stockwerk über mir eine Familie, die trampelt und kreischt, schreit, brüllt, Türen schlägt. Ich höre Kinderweinen. Höre ich Schläge? Soll ich die Polizei rufen? 
Das Problem ist bekannt, sagen andere Mieter. Und? 
Der Hausvater telefoniert seit Stunden auf der Strasse, Hoodie, Basecap und fleckig chlorgebleichte Jeans, von der Art, wie sie DDR-Bürger kurz nach der Wende trugen. Die Damen der Familie traf ich heute morgen, gehüllt in Kopftuch und kurvenbetonende hautenge Kleider aus dunklen elastischen Stoffen. Die Kinder sind süß und wirken traurig.

Die Wohnung selbst ist renoviert, hell und sehr sauber. Ohne jede besondere Eigenschaft, wie üblich charakterfrei. Bei meinem Einzug: ein Bügel und auf dem Jeansstoff-Sofabezug einige verdächtige weißliche Flecken. Aber es gibt Wlan - 5 Gigabite - Luxus! Und, ein weiteres aber, jeder in diesem Theater ist hilfsbereit und freundlich.
Übrigens der Fernseher zeigt nur Programme, die hier terrestrisch zu empfangen sind, absurde Erinnerungen an das "Tal der Ahnungslosen", keine Privatsender, nur 3sat, arte, ZDF-Neo - ich weiß jetzt viel mehr über assyrische Könige und die Bedeutung der Entdeckung der schwarzen Materie für die Theorie des Multiversums.
 

Eine merkwürdige Stadt. In den letzten Kriegstagen zur "toten Stadt" gebombt, in der DDR-Zeit, unter dem propagandistischen Decknamen Karl-Marx-Stadt, pragmatisch lieblos wiederaufgebaut, findet man, überraschend, hier und da, wunderschöne Altbauten, manche aufgeputzt, andere, sich mit letzter Kraft an ihrer ehemaligen Schönheit festklammernd.

Chemnitz ist Sachsens Paris

Und gut, dass ich eine Schwäche für die breiten Varianten des Sächsischen habe, ich nenne sie die proletarischen, im maulfaulen Kontrast zum residenzbewußten, überartikulierten, konsonantenscharfen Dresdnerisch. In Dresden kriegte ich, weil ich irgendwann in einem DEFA-Film mitgespielt hatte, noch nach 1989 Bückware im Buchladen, in Leipzig schenkten mir die Techniker freundlich ein Wörterbuch des Sächsischen zur ersten Premiere. Sicher, Dresden war immer eine tolle Theaterstadt, aber soviel Neo-Barock lähmt nun mal meine Zuneigung.

Sächsisches Wörterbuch 

Erstaunlich viele Theatererinnerungen verbinden sich mir dieser Stadt - Chemnitz - ein Workshop in den Achtzigern, Ulli Mühe in einer frühen Inszenierung von Castorf, ich glaube, es war der "Auftrag". Eine Courageinszenierung, in der im Prolog ein schwitzender Schauspieler vergeblich versuchte einen Falken und eine Taube, die ein Regieeinfall ihm in die Hände gezwungen hatte, unter Kontrolle zu bringen. Der Falke gierte, die Taube schiß in panischer Angst, der Brechttext bibberte dazwischen. Steins sagenhaftes Gastspiel mit den "Sommergästen" seiner Schaubühne 1978 habe ich verpaßt, Ende der 90er aber hier inszeniert, Hacks nach Offenbach, "Die Schöne Helena", eine gute Erinnerung, gefeiert wurde im "Shalom" einer jüdischen Kneipe mit koscherer Küche und wöchentlicher Klezmer-Disco, die es nicht mehr gibt. Warum wohl?

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http://www.bild.de/regional/chemnitz/chemnitz-politik-und-wirtschaft/nazi-attacken-shalom-wirt-zieht-weg-22964886.bild.html

Gerhard Meyer - Vater des Ensembles

Die Liste der Schauspieler und Regisseure, die er entdeckt, gefordert und gefördert hat, liest sich wie ein Who is Who der Theater, Film- und Fernsehlandschaft: Jutta Wachowiak, Christian Grashof, Michael Gwisdek, Jörg Gudzuhn, Peter Sodann, Ulrich Mühe, Corinna Harfouch, Thomas Langhoff, Frank Castorf oder Hasko Weber. Von 1966 bis 1990 machte er als Generalintendant der Städtischen Theaters Karl-Marx-Stadt besonders die Schauspielbühne zur Talentschmiede: Gerhard Meyer, vor 100 Jahren – am 29. Dezember 1915 – in Chemnitz geboren, am 21. Juni 2002 in seiner Heimatstadt verstorben. Ehrenmitglied der Theater Chemnitz ist er auch posthum, um sein Andenken zu bewahren.


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DER 5. MÄRZ 1945 

Der abendliche Angriff dauerte 31 Minuten, zerstörte 80 Prozent der Innenstadt und nahm über 2.100 Menschen das Leben. "Ein grauenvoller Nachtangriff auf Chemnitz. Der Himmel blutrot von der brennenden Stadt. Unaufhörlich Einschläge", schrieb Irene Pornitz in ihr Tagebuch.
683 Flugzeugen der Typen Lancaster und Halifax der britischen Armee flogen den Angriff; zwischen 21.37 und 22.08 Uhr warfen sie zielgenau zunächst 413 Luftminen mit rund 800 t ab und dann 859 t Brandbomben und schließlich 1112 t Sprengbomben.

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DAS LUTHERVIERTEL VON CHEMNITZ laut Wiki

Namensgebend ist die Lutherkirche...
Entstanden im Zuge der gründerzeitlichen Stadterweiterung ist das Gebiet geprägt durch eine Karreestruktur mit mehrgeschossiger Blockrandbebauung aus der vorletzten Jahrhundertwende und den 1920er-Jahren sowie offeneren Strukturen, welche in den 1950er-Jahren im Zuge des Wiederaufbaus nach den starken Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges gebildet wurden.
Zwischen 1991 und 2001 verlor der Stadtteil 2968 Einwohner (ca. 35 %; Stadtdurchschnitt 17,6 %). Der Wohnungsleerstand beträgt fast 35 % (Stadtdurchschnitt: ca. 23 %).
Aufgrund seiner baulichen Strukturen, der guten verkehrlichen Infrastruktur und seiner innenstadtnahen Lage (ca. 10–20 Minuten Fußweg durch den Park der Opfer des Faschismus zur Innenstadt) erachtet die Stadt Chemnitz das Lutherviertel insgesamt als einen potentiell sehr attraktiven Wohnstandort. Es soll daher der Stadtteil durch verschiedene Projekte in den nächsten Jahren gefördert werden, unter anderem durch die Entlastung vom Durchgangsverkehr, den Bau eines Radweges vom Lutherviertel zum Campus der Technischen Universität an der Reichenhainer Straße und eine Verbesserung des Wohnumfeldes durch eine Vergrößerung der Grün- und Freiflächen.

Montag, 5. September 2016

Penthesilea 3 - Sprache ist Tat

ZÄRTLICHEN HERZEN GEFÜHLVOLL GEWEIHT!
MIT HUNDEN ZERREISST SIE,
WELCHEN SIE LIEBET, UND ISST, HAUT UND HAARE, IHN AUF." 

Was mache ich mit solch einer Widmung? 
Wir machen uns die Liebe passend, alltagstauglich. Parship und Tinder und unzählige halbehrliche Artikel und Romane verkaufen sie uns als sanftes Allheilmittel für unser alltägliches Unglück. Aber wenn sie uns trifft, ist sie anders, rücksichtslos, unbequem, glorios, maßlos und angsteinflößend. Sie ist das Größte und das Härteste. 

Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single auf Parship.
Leider nur einer, der Geliebte veliebt sich wohl nicht.

Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte / und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, / hätte aber die Liebe nicht, / nützte es mir nichts. 
Brief des dogmatischen Mistkerls Paulus an die Korinther
Selbst Paulus, der dogmatische Prediger, wird poetisch, wenn er über die Liebe spricht. Er verachtet Frauen, er verachtet sein früheres Selbst, aber selbst er kennt seine eigene Schwäche.

LOVE IS ALL YOU NEED
John Lennon

FREEDOM'S JUST ANOTHER WORD FOR NOTHING LEFT TO LOSE.
Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, nichts mehr verlieren zu
können.
 
Me and Bobby McGee
DIE LIEBE IST EINE KATASTROPHE

Die Liebe kennt keine Grenzen, keine Rücksicht, kein Verbot. 
Sie kennt kein ABER.

Die PENTHESILEA wurde von Kleist im Laufe des Jahres 1807 geschrieben, unterwegs, er begann mit dem Schreiben in Königsberg, schrieb weiter in Berlin, sogar in französischer Gefangenschaft im Fort de Joux und in Châllons-sur-Marne schrieb er weiter, dann, nach seiner Entlassung, beendete er sein Werk in Dresden.
Er bietet es Goethe 1808 kniefällig zur Beurteilung an: "Ich habe deinen Willen nicht befolgt und deine Gebote nicht gehalten, indem ich Greuelbilder aufstellte und die Zahl der Schandgötzen vermehrte. - Jetzt aber beuge ich das Knie meines Herzens, indem ich deine Gnade erflehe". Goethe mochte Kleist nicht. Seine "Iphigenie" überbrückte heilend den Abgrund zwischen barbarischer Lust und aufgeklärter Ratio, Penthesilea springt in denselben Abgrund und reißt Achilles mit sich.

Kleist beschreibt es selbst so: "es ist wahr, mein innerstes Wesen liegt darin, der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele", nur das sein Schmutz eigentlich sein Schmerz war, sein Herausgeber Ludwig Tieck, gab  hier einem durchaus nachvollziehbaren Freudschen Versprecher, Mißversteher Raum.

Es ist für Kleists Rezeption bezeichnend, dass sein erster Herausgeber Ludwig Tieck das Wort "Schmutz" durch "Schmerz" ersetzte, Schmerz meiner Seele. Schmutzig durfte Literatur nicht sein, oder, wie Goethe höflich schrieb, um sich Kleist vom Leib zu halten: "Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden." Jedenfalls im 19. Jahrhundert finde ich nichts, was gerade auch die Gewalt des Sexuellen so rückhaltlos und drastisch bezeichnet wie Kleists "Penthesilea", und selbst aus den vergangenen Jahrzehnten würden mir eher Beispiele aus dem Film einfallen als aus der Literatur. Eher muss man zurückgehen, um etwas Vergleichbares zu finden, zur antiken Tragödie natürlich, an die Kleist so viel anders, so viel überzeugender als die deutsche Klassik anknüpft: Dort hat er es ja her, das Motiv des Gott-Essens genauso wie die tödliche Liebe der Götter.


Aber nicht nur dort. Bestimmt nicht zufällig vergleicht Kleist den liebenden Achill mit Christus: "Ach, diese blutgen Rosen! / Ach, dieser Kranz von Wunden um sein Haupt!" Auch versieht er das Verschlingen gegen Ende der Tragödie mit deutlichen Anspielungen auf das Abendmahl, das Verzehren des Fleisches, das Trinken des Blutes. Von der Germanistik weniger beachtet als seine Bezüge zur griechischen Tragödie, versteht Kleist die Liebe so biblisch, dass er auf der Kirchenkanzel einen Skandal auslösen würde. Schließlich gibt es in der Bibel nicht nur das Hohelied des Salomo, das Gott und das Volk Israel in eine wundersam zärtliche, dabei unverhüllt erotische Beziehung setzt. Es gibt, wahrscheinlich repräsentativer für das Alte Testament, auch das Buch Hosea, in dem Gott als der Liebende vor Eifersucht so fürchterlich wütet, dass er das Volk als seine Geliebte mehr als nur züchtigt, sondern sie vor den Augen ihrer Liebhaber nackt auszieht und sich an ihr vergeht: "Niemand soll sie aus meiner Hand erretten", brüllt der liebende Gott, und die Menschen stammeln nach der Vergewaltigung bestimmt nicht aus Verliebtheit: "Kommt, wir wollen wieder zum Herrn; denn er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen; er hat uns geschlagen, er wird uns auch verbinden."

Solche Verhältnisse der Liebe, die die Bibel vor zwei- bis dreitausend Jahren festhielt, sind realer, erfahrungsgesättigter als alle Romanzen, die seither geschrieben wurden - nicht bloß schmerzlich, sondern schmutzig. Der Gott der Bibel ist nicht lieb, er ist cholerisch, zornig, rachsüchtig und mordend, er ist großmütig, erbarmend, zärtlich und beschützend, er ist rasend, der Gott der Bibel, nicht weniger als Penthesilea und Achill ist er rasend vor Liebe. Und auch die Menschen der Bibel lieben nicht wie im Vorabendprogramm, sondern ohne Maß; sie verschreiben sich ihrem Herrn buchstäblich mit Haut und Haaren, sind hier unterwürfig, dort rebellisch, werben um den Herrn, wenn er sich ihnen entzieht, und beschimpfen ihn, wenn er sie misshandelt, klagen die Zuneigung des Geliebten in immer neuen Worten ein. Das macht die Bibel groß, groß auch für Ungläubige: Sie erzählt nicht von Übersinnlichem, sondern von der irdischen Erfahrung in der gesamten Bandbreite und also über das Vertraute, das Angenehme, das Gefällige hinaus. Insofern ist die Bibel göttlich, als sie menschlich ist im Extrem. Es ist, was auch Kleists Dichtung groß, was sie hier und dort göttlich macht. Es ist, was der deutschen Literatur heute am meisten fehlt. 
Was wir von Heinrich von Kleist über die Liebe lernen Von Navid Kermani


SPRACHE IST BEI KLEIST NIE BLOSS EIN SYSTEM ZUR REPRODUKTION VON WIRKLICHKEIT; SONDERN SIE IST SELBST EINES DER PRODUKTION VON WIRKLICHKEIT; IST AUCH EINE FORM DES HANDELNS.
 Dirk Grathoff - Kleist, Westdeutscher Verlag, Wiiesbaden, 2000


Freiheit und Gleichheit! hört man schallen,
Der ruhge Bürger greift zur Wehr,
Die Straßen füllen sich, die Hallen,
Und Würgerbanden ziehn umher,
Das werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz,
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreißen sie des Feindes Herz.

Friedrich Schiller 
Das Lied von der Glocke 
1799

Samstag, 3. September 2016

Penthesilea 2 - Die Liebe ist eine Katastrophe.

Wie  uns die bestätigte Definition von dem, was sich gehört doch fesseln kann..
Wir fürchten uns.
Wiki sagt: Das Chaos [ˈkaːɔs] (von griechisch χάος cháos) ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die (Welt-)Ordnung oder das Universum.

DER SPRUNG MACHT DIE ERFAHRUNG, NICHT DER SCHRITT.
Heiner Müller

Wenn sich die Ordnung von der gefühlten Unordnung, wenn sich die gewaltsame Organisation des Chaos vom chaotischem Gefühl bedroht fühlt, kommt es zur Katastrophe. 
Wir gebrauchen das Wort nur in seiner gebrauchsüblichen Bedeutung als Verheerung, zerstörerischen Zusammenbruch, aber ursprünglich bedeutete das griechische Verb καταστρέφειν - katastréphein - "umkehren, umwenden", also etwas verändert sich in großer Art, es kehrt gar seinen Kurs ins Gegenteil. Und wenn es vorher ins Schlimme lief, dann heißt das, dass eine Katastrophe nötig war. Etwas Neues mußte her, etwas ganz und gar Anderes.
Wir begegnen in diesem Stück zwei militärischen Gruppierungen, dem außerordentlich gut organisierten Heer der Amazonen und dem viel individueller, unsicherer verbundenen Haufen der griechischen Kriegskönige. Beide Seiten haben ein klar definiertes Ziel. Amazonen: Männerfang zum Erhalt ihrer weiblichen Nation, Griechen: Troja erobern, um die patriarchalische Hoheit über das Mittelmeer zu erhalten, Helena ist publicityträchtige Nebensache. Und dann geht alles schief, denn die LIEBE sagt "Aber". "Aber". Mein unangefochtenes Lieblingswort. Jeder sicheren Wahrheit muß unbedingt  ein ABER entgegengesetzt werden. MUß. Sonst wird sie selbstgewiß, glaubt sich im Recht ohne jeden Zweifel. Aber was ist die Liebe? 


Wenn ich dich nicht liebe, so ist das Chaos wieder da.
William Shakespeare Othello  
Ist das Chaos also eigentlich die Ordnung? Der Zustand, in dem wir glauben zurecht zu handeln?
PENTHESILEA.
Nicht? Küßt ich nicht? Zerrissen wirklich? sprecht?
DIE OBERPRIESTERIN.
Weh! Wehe! ruf ich dir. Verberge dich!
Laß für der ew'ge Mitternacht dich decken!
PENTHESILEA.
– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das eine für das andre greifen.
... Du Ärmster aller Menschen, du vergibst mir!
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;
Doch jetzt sag ich dir deutlich, wie ich's meinte:
Dies, du Geliebter, war's, und weiter nichts.


Sie küßt ihn.

Wie manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb ihn, o so sehr,
Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;
Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin!
Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.
Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht.
Sieh her: als ich an deinem Halse hing,
Hab ich's wahrhaftig Wort für Wort getan;
Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.
...
Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr ich in der Glut des Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag es der Hoffnung ew'gem Amboß zu,
Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch;
Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust:
So! So! So! So! Und wieder! – Nun ist's gut.
...
Wieder Wiki: Die mathematische Katastrophentheorie beschäftigt sich mit unstetigen, sprunghaften Veränderungen kontinuierlicher dynamischer Systeme. Diese können, auch wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen einen stabilen Zustand anstreben, bei Änderungen der Parameter sprunghafte, nichtstetige, diskontinuierliche Änderungen der Lösung erfahren.

Freitag, 2. September 2016

Problem

Ganz plötzlich läßt sich dieser Blog nicht mehr mit facebook verlinken. Dies ist ein Test.

Penthesilea 1 - Bisse/Küsse - Tod durch Worte


So sagt es Wiki: Chaos ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die Ordnung oder das Universum.

Penthesilea, das Ende:

Ungeheuerlich, eine Frau spricht sich zum Tod. Sie schaltet sich ab. Tötet sich durch Worte. Kein Pfeil, kein Messer, kein Gewehr, der letzte, ultimate Akt gehört allein der Sprache. Ebenderselben, die das Stück über so sehr versagt hat, wenn Liebende sich zu verständigen suchten.

Im Winter 1989, das Akademietheater in Wien, "Othello" inszeniert von George Tabori, Gert Voss als Othello, Ignaz Kirchner als Jago. Ich, stehend im Rang, in der ersten Reihe Österreicher mit Kontroll-Reclam-Stückausgaben. Am Ende tötet sich Othello durch ein leichtes waagerechtes Streichen der rechten Hand über seinen Hals. "Ich sterbe jetzt, weil ich nicht mehr leben will." Eines meiner größten Theatereindrücke. Nur gab es dieses Ende gar nicht. Es existiert, nach intensiver Erkundigungsarbeit, nur in meinem Kopf. WTF? Ist das mein erträumter Tod, der in freier Selbstentscheidung? Warum erinnere ich einen Vorgang, den es nicht gegeben hat?

Du willst – ?
                        Du denkst –

                                                 Was? Allerdings!

                                                                                   O Himmel!

Personage: Der tote Achill, Penthesilea wahrscheinlich mit blutigem Mund, die Oberpriesterin & Prothoe und Meroe, zwei Amazonen.

Die Oberpriesterinn.
Weh'! Wehe! ruf' ich dir. Verberge dich!
Laß fürder ew'ge Mitternacht dich decken!

Penthesilea.
– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das Eine für das Andre greifen.

Meroe.
Helf't ihr, ihr Ew'gen, dort!

Prothoe.   
                                          Hinweg!

Penthesilea. 
                                                          Laßt, laßt!
Du Aermster aller Menschen, du vergiebst mir!
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;
Doch jetzt sag' ich dir deutlich, wie ichs meinte:
Dies, du Geliebter, war's, und weiter nichts.

Die Oberpriesterinn.
Schafft sie hinweg!

Meroe. 
                            Was soll sie länger hier?

Penthesilea.
Wie Manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb' ihn, o so sehr,
Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;
Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrinn!
Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.
Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht.
Sieh her: als ich an deinem Halse hing,
Hab' ich's wahrhaftig Wort für Wort gethan;
Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.

Meroe.
Die Ungeheuerste! Was sprach sie da?

Die Oberpriesterinn.
Ergreift sie! Bringt sie fort!

Prothoe. 
                                             Komm, meine Königinn!

Penthesilea. 
Gut, gut. Hier bin ich schon.

Die Oberpriesterinn. 
                                               So folgst du uns?

Penthesilea.
Euch nicht! – –
Geht ihr nach Themiscyra, und seid glücklich,
Wenn ihr es könnt –
Vor allen meine Prothoe –
Ihr Alle –
Und – – – im Vertraun ein Wort, das niemand höre,
Der Tanaïs Asche, streut sie in die Luft!

Prothoe.
Und du, mein theures Schwesterherz?

Penthesilea. 
Ich?

Prothoe.
            Du!

Penthesilea.
                      – Ich will dir sagen, Prothoe,
Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los,
Und folge diesem Jüngling hier.

Prothoe.
Wie, meine Königinn?

Die Oberpriesterinn.
                                    Unglückliche!

Prothoe.
Du willst – ?

Die Oberpriesterinn.
                      Du denkst –

Penthesilea. 
                                  Was? Allerdings!

Meroe. 
                                                               O Himmel!

Prothoe.
So laß mich dir ein Wort, mein Schwesterherz –

Penthesilea.
Nun denn, und was? – – Was suchst du mir am Gurt?
– Ja, so. Wart' gleich! Verstand ich dich doch nicht.
– – Hier ist der Dolch. Willst du die Pfeile auch?
Hier schütt' ich ihren ganzen Köcher aus!
Zwar reitzend wär's von Einer Seite –
Denn dieser hier – nicht? Oder war es dieser – ?
Ja, der! Ganz recht – Gleichviel! Da! Nimm sie hin!
Nimm alle die Geschosse zu dir hin!

Prothoe. 
                                                                   Gieb her.

Penthesilea.
Denn jetzt steig' ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr' ich in der Glut des Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk' es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag' es der Hoffnung ew'gem Amboß zu,
Und schärf' und spitz es mir zu einem Dolch;
Und diesem Dolch jetzt reich' ich meine Brust:
So! So! So! So! Und wieder! – Nun ist's gut.

Der gesprochene Rest ist Politik & Ideologie.


Prothoe. 
Sie stirbt!

Meroe. 
              Sie folgt ihm, in der That!

Prothoe. 
                                                            Wohl ihr!
Denn hier war ihres fernern Bleibens nicht.

Die Oberpriesterinn.
Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!
Wie stolz, die hier geknickt liegt, noch vor Kurzem,
Hoch auf des Lebens Gipfeln, rauschte sie!

Prothoe.
Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte!
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
Wenn ich dich nicht liebe, so ist das Chaos wieder da.
William Shakespeare Othello