Sonntag, 11. September 2016

Berlin in einer Spätsommernacht - Es gibt nur ein ökonomisches System in der Welt, und das ist der Kapitalismus.

Es gibt nur ein ökonomisches System in der Welt, und das ist der Kapitalismus.
Margarete Thatcher

Berlin ist nicht wie Italien. Nicht strahlend lichtüberflutet, wohlig warm, durchwirkt von sommergeschwängerter Luft. Nicht. Keineswegs.
Kaum steigt die Temperatur über 18 Grad spielen wir Berliner leicht übertrieben, es sei Sommer, zu wenig Kleidung, zu gute Laune, Cafestühle überfluten alle Bürgersteige, die Endlichkeit der warmen Tage erzeugt Übereifer. Jetzt trinken wir Kaltgetränke, jetzt mögen wir ungekochte Vorspeisen. Minze und Basilikum haben Hoch-Zeit. Berlin hat Sommer, wie Kinder Schokolade haben, zu viel auf einmal, zu kurz und danach hat man Bauchschmerzen. Sommer, ein rares SuperSonderAngebot, ein Bonus für brave Berliner.

Die Touristen sind eine ganz eigene Armee mit anderen Regeln.

Wir wissen, dies ist auf Zeit und ist bald, sehr bald vorbei. Grau und kühl ist der Normalzustand. Dreckig bleibts. Egal. Es ist herrlich.

 Im Hinterhof, da wo ich wohne, 
wenig Platz, Kneipe, DJ-Musik, Efeu, viele Leute und ein Kino. 

 Kleidsames Grünzeug

Mein Abend begann schrecklich. Keine Details. 
Eine präzise Redewendung benennt den Zustand pathologischer, bedauernswerter Eitelkeit auf den Punkt: jemand hat seinen Kopf so tief im eigenen Arsch, dass er seine Wiirkung auf andere nicht mehr bemerken kann, denn dort, im Arsch, ist es dunkel, sehr dunkel. Having ones head up ones arse.
Zur Erholung ein Spaziergang, an der Spree. Gegenüber des Bodemuseums wird getanzt, eng getanzt, die Generationen, ein seltener Vorgang, mischen sich.
Würden doch diese Sommernächte ewig dauern. Aber könnten wir sie dann noch so geniessen?

Democracy is the worst form of government, except for all the others.
Winston Churchill 

Nachtkino. "High Rise" im Central. Am unsanierten zweiten Hinterhof, auf dem gefeiert wird, ein schönes Kino, klein & leicht versifft. Gutes Programm und die ganze Woche durch Spätvorstellungen.

HIGH RISE
Ein Film von Ben Wheatley.
Tom Hiddelston wieder einmal, wie schon in der Hochpolierten-Le Carré Verfilmung  "The Nightmanager", in hautengen, zu gut gutsitzenden Anzügen. Nur trägt er sie hier, im zweiten Teil, blutfleckig, mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Die Zeit, der Stil ist irgendwie in den Siebzigern, die Autos verraten es uns, die graue abgeknickte Betonstruktur des Titel-Hochhauses, das für ein idealistisches soziales Experiment, das aus dem Ruder läuft, steht.

 Hiddleston, hier ohne Anzug

Tom Hiddleston, heute einer der aussichtsreicheren Kandidaten für den nächsten Bond-Job, spielt diese Rolle, als hätte er eine eingebaute, stufenlose Regelung für Grade der Kultiviertheit. Anfangs fügt sich seine lange, dünne Figur wie ein weiteres vertikales Baumerkmal in die Geometrie des Hochhauses. (Zeit online)
Ein anstrengender Film. Unerbittlich und doch auch kindlich. Wütende Kapitalismuskritik, toll photographiert, zu absichtsvoll, und unbedingt zu lang. Ich habe verstanden, lang bevor der Film zum Ende kommt.

Die englische Elite hat einen Plan, einen wohlgemeinten. Es soll alles besser werden für die britischen Bürger. Dazu braucht es lediglich ein neues gesellschaftliches Ordnungssystem. Also wagt man mit dem Einverständnis aller ein soziales Experiment, eine Utopie der Selbstversorgung. Und dann geht alles schief. Nicht erfüllte Versprechen werden zu Enttäuschung, Enttäuschung zu Wut, Wut zu Revolution, Revolution zu Anarchie. Am Ende bleibt den Überlebenden nur die Asche dieses Traums, um etwas Neues zu beginnen. Spiegel online
Klassenkampf. Was für ein erstaunlich archaisches Wort, würde man fast denken. 

http://www.spiegel.de/kultur/kino/high-rise-mit-tom-hiddleston-sex-gewalt-und-eine-dose-hundefutter-a-1099966.html 

„High-Rise“ ist sehr erwachsenes Kino, fernab der unzähligen Feelgoodmovies, die derzeit für die Generation 50+ produziert werden. Inspirierend unangenehm und sogar – im Hinblick auf die viel diskutierte Identitätskrise der Mittelschicht – sehr aktuell. Keineswegs nur was für Leute, die in jenen Siebzigern selber jung waren. Tagesspiegel

There is only one economic system in the world, and that is capitalism. The difference lies in whether the capital is in the hands of the State or whether the greater part of it is in the hands of people outside of State control. Where there is State capitalism there will never be political freedom. Where there is private capitalism there may not be political freedom, but there cannot be political freedom without it. 
Margaret Thatcher House of Commons Speech Source:Hansard HC [921/16-48]

Donnerstag, 8. September 2016

Theaterwohnung 11 - Der Charme der Sechziger - Sächsische Erinnerungen

Wiedereinmal eine neue Theaterwohnung, nur 10 Minuten Fußweg vom hiesigen Schauspielhaus entfernt, in einem ein Altneubau in einer Gegend voller Altneubauten, ganze Strassenzüge leerstehend in Erwartung der kommenden Sanierung - ein Bäcker, eine Kneipe für die ansässigen rechten Biertrinker, ein Versicherungs-und Reisebüro, das 2x2 Stunden am Tag geöffnet hat, außer Mittwoch und Freitag, da sind es nur 1x2 und ein überfülltes EDEKA am Ende der Strasse.

Im Stockwerk über mir eine Familie, die trampelt und kreischt, schreit, brüllt, Türen schlägt. Ich höre Kinderweinen. Höre ich Schläge? Soll ich die Polizei rufen? 
Das Problem ist bekannt, sagen andere Mieter. Und? 
Der Hausvater telefoniert seit Stunden auf der Strasse, Hoodie, Basecap und fleckig chlorgebleichte Jeans, von der Art, wie sie DDR-Bürger kurz nach der Wende trugen. Die Damen der Familie traf ich heute morgen, gehüllt in Kopftuch und kurvenbetonende hautenge Kleider aus dunklen elastischen Stoffen. Die Kinder sind süß und wirken traurig.

Die Wohnung selbst ist renoviert, hell und sehr sauber. Ohne jede besondere Eigenschaft, wie üblich charakterfrei. Bei meinem Einzug: ein Bügel und auf dem Jeansstoff-Sofabezug einige verdächtige weißliche Flecken. Aber es gibt Wlan - 5 Gigabite - Luxus! Und, ein weiteres aber, jeder in diesem Theater ist hilfsbereit und freundlich.
Übrigens der Fernseher zeigt nur Programme, die hier terrestrisch zu empfangen sind, absurde Erinnerungen an das "Tal der Ahnungslosen", keine Privatsender, nur 3sat, arte, ZDF-Neo - ich weiß jetzt viel mehr über assyrische Könige und die Bedeutung der Entdeckung der schwarzen Materie für die Theorie des Multiversums.
 

Eine merkwürdige Stadt. In den letzten Kriegstagen zur "toten Stadt" gebombt, in der DDR-Zeit, unter dem propagandistischen Decknamen Karl-Marx-Stadt, pragmatisch lieblos wiederaufgebaut, findet man, überraschend, hier und da, wunderschöne Altbauten, manche aufgeputzt, andere, sich mit letzter Kraft an ihrer ehemaligen Schönheit festklammernd.

Chemnitz ist Sachsens Paris

Und gut, dass ich eine Schwäche für die breiten Varianten des Sächsischen habe, ich nenne sie die proletarischen, im maulfaulen Kontrast zum residenzbewußten, überartikulierten, konsonantenscharfen Dresdnerisch. In Dresden kriegte ich, weil ich irgendwann in einem DEFA-Film mitgespielt hatte, noch nach 1989 Bückware im Buchladen, in Leipzig schenkten mir die Techniker freundlich ein Wörterbuch des Sächsischen zur ersten Premiere. Sicher, Dresden war immer eine tolle Theaterstadt, aber soviel Neo-Barock lähmt nun mal meine Zuneigung.

Sächsisches Wörterbuch 

Erstaunlich viele Theatererinnerungen verbinden sich mir dieser Stadt - Chemnitz - ein Workshop in den Achtzigern, Ulli Mühe in einer frühen Inszenierung von Castorf, ich glaube, es war der "Auftrag". Eine Courageinszenierung, in der im Prolog ein schwitzender Schauspieler vergeblich versuchte einen Falken und eine Taube, die ein Regieeinfall ihm in die Hände gezwungen hatte, unter Kontrolle zu bringen. Der Falke gierte, die Taube schiß in panischer Angst, der Brechttext bibberte dazwischen. Steins sagenhaftes Gastspiel mit den "Sommergästen" seiner Schaubühne 1978 habe ich verpaßt, Ende der 90er aber hier inszeniert, Hacks nach Offenbach, "Die Schöne Helena", eine gute Erinnerung, gefeiert wurde im "Shalom" einer jüdischen Kneipe mit koscherer Küche und wöchentlicher Klezmer-Disco, die es nicht mehr gibt. Warum wohl?

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http://www.bild.de/regional/chemnitz/chemnitz-politik-und-wirtschaft/nazi-attacken-shalom-wirt-zieht-weg-22964886.bild.html

Gerhard Meyer - Vater des Ensembles

Die Liste der Schauspieler und Regisseure, die er entdeckt, gefordert und gefördert hat, liest sich wie ein Who is Who der Theater, Film- und Fernsehlandschaft: Jutta Wachowiak, Christian Grashof, Michael Gwisdek, Jörg Gudzuhn, Peter Sodann, Ulrich Mühe, Corinna Harfouch, Thomas Langhoff, Frank Castorf oder Hasko Weber. Von 1966 bis 1990 machte er als Generalintendant der Städtischen Theaters Karl-Marx-Stadt besonders die Schauspielbühne zur Talentschmiede: Gerhard Meyer, vor 100 Jahren – am 29. Dezember 1915 – in Chemnitz geboren, am 21. Juni 2002 in seiner Heimatstadt verstorben. Ehrenmitglied der Theater Chemnitz ist er auch posthum, um sein Andenken zu bewahren.


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DER 5. MÄRZ 1945 

Der abendliche Angriff dauerte 31 Minuten, zerstörte 80 Prozent der Innenstadt und nahm über 2.100 Menschen das Leben. "Ein grauenvoller Nachtangriff auf Chemnitz. Der Himmel blutrot von der brennenden Stadt. Unaufhörlich Einschläge", schrieb Irene Pornitz in ihr Tagebuch.
683 Flugzeugen der Typen Lancaster und Halifax der britischen Armee flogen den Angriff; zwischen 21.37 und 22.08 Uhr warfen sie zielgenau zunächst 413 Luftminen mit rund 800 t ab und dann 859 t Brandbomben und schließlich 1112 t Sprengbomben.

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DAS LUTHERVIERTEL VON CHEMNITZ laut Wiki

Namensgebend ist die Lutherkirche...
Entstanden im Zuge der gründerzeitlichen Stadterweiterung ist das Gebiet geprägt durch eine Karreestruktur mit mehrgeschossiger Blockrandbebauung aus der vorletzten Jahrhundertwende und den 1920er-Jahren sowie offeneren Strukturen, welche in den 1950er-Jahren im Zuge des Wiederaufbaus nach den starken Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges gebildet wurden.
Zwischen 1991 und 2001 verlor der Stadtteil 2968 Einwohner (ca. 35 %; Stadtdurchschnitt 17,6 %). Der Wohnungsleerstand beträgt fast 35 % (Stadtdurchschnitt: ca. 23 %).
Aufgrund seiner baulichen Strukturen, der guten verkehrlichen Infrastruktur und seiner innenstadtnahen Lage (ca. 10–20 Minuten Fußweg durch den Park der Opfer des Faschismus zur Innenstadt) erachtet die Stadt Chemnitz das Lutherviertel insgesamt als einen potentiell sehr attraktiven Wohnstandort. Es soll daher der Stadtteil durch verschiedene Projekte in den nächsten Jahren gefördert werden, unter anderem durch die Entlastung vom Durchgangsverkehr, den Bau eines Radweges vom Lutherviertel zum Campus der Technischen Universität an der Reichenhainer Straße und eine Verbesserung des Wohnumfeldes durch eine Vergrößerung der Grün- und Freiflächen.

Montag, 5. September 2016

Penthesilea 3 - Sprache ist Tat

ZÄRTLICHEN HERZEN GEFÜHLVOLL GEWEIHT!
MIT HUNDEN ZERREISST SIE,
WELCHEN SIE LIEBET, UND ISST, HAUT UND HAARE, IHN AUF." 

Was mache ich mit solch einer Widmung? 
Wir machen uns die Liebe passend, alltagstauglich. Parship und Tinder und unzählige halbehrliche Artikel und Romane verkaufen sie uns als sanftes Allheilmittel für unser alltägliches Unglück. Aber wenn sie uns trifft, ist sie anders, rücksichtslos, unbequem, glorios, maßlos und angsteinflößend. Sie ist das Größte und das Härteste. 

Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single auf Parship.
Leider nur einer, der Geliebte veliebt sich wohl nicht.

Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte / und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, / hätte aber die Liebe nicht, / nützte es mir nichts. 
Brief des dogmatischen Mistkerls Paulus an die Korinther
Selbst Paulus, der dogmatische Prediger, wird poetisch, wenn er über die Liebe spricht. Er verachtet Frauen, er verachtet sein früheres Selbst, aber selbst er kennt seine eigene Schwäche.

LOVE IS ALL YOU NEED
John Lennon

FREEDOM'S JUST ANOTHER WORD FOR NOTHING LEFT TO LOSE.
Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, nichts mehr verlieren zu
können.
 
Me and Bobby McGee
DIE LIEBE IST EINE KATASTROPHE

Die Liebe kennt keine Grenzen, keine Rücksicht, kein Verbot. 
Sie kennt kein ABER.

Die PENTHESILEA wurde von Kleist im Laufe des Jahres 1807 geschrieben, unterwegs, er begann mit dem Schreiben in Königsberg, schrieb weiter in Berlin, sogar in französischer Gefangenschaft im Fort de Joux und in Châllons-sur-Marne schrieb er weiter, dann, nach seiner Entlassung, beendete er sein Werk in Dresden.
Er bietet es Goethe 1808 kniefällig zur Beurteilung an: "Ich habe deinen Willen nicht befolgt und deine Gebote nicht gehalten, indem ich Greuelbilder aufstellte und die Zahl der Schandgötzen vermehrte. - Jetzt aber beuge ich das Knie meines Herzens, indem ich deine Gnade erflehe". Goethe mochte Kleist nicht. Seine "Iphigenie" überbrückte heilend den Abgrund zwischen barbarischer Lust und aufgeklärter Ratio, Penthesilea springt in denselben Abgrund und reißt Achilles mit sich.

Kleist beschreibt es selbst so: "es ist wahr, mein innerstes Wesen liegt darin, der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele", nur das sein Schmutz eigentlich sein Schmerz war, sein Herausgeber Ludwig Tieck, gab  hier einem durchaus nachvollziehbaren Freudschen Versprecher, Mißversteher Raum.

Es ist für Kleists Rezeption bezeichnend, dass sein erster Herausgeber Ludwig Tieck das Wort "Schmutz" durch "Schmerz" ersetzte, Schmerz meiner Seele. Schmutzig durfte Literatur nicht sein, oder, wie Goethe höflich schrieb, um sich Kleist vom Leib zu halten: "Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden." Jedenfalls im 19. Jahrhundert finde ich nichts, was gerade auch die Gewalt des Sexuellen so rückhaltlos und drastisch bezeichnet wie Kleists "Penthesilea", und selbst aus den vergangenen Jahrzehnten würden mir eher Beispiele aus dem Film einfallen als aus der Literatur. Eher muss man zurückgehen, um etwas Vergleichbares zu finden, zur antiken Tragödie natürlich, an die Kleist so viel anders, so viel überzeugender als die deutsche Klassik anknüpft: Dort hat er es ja her, das Motiv des Gott-Essens genauso wie die tödliche Liebe der Götter.


Aber nicht nur dort. Bestimmt nicht zufällig vergleicht Kleist den liebenden Achill mit Christus: "Ach, diese blutgen Rosen! / Ach, dieser Kranz von Wunden um sein Haupt!" Auch versieht er das Verschlingen gegen Ende der Tragödie mit deutlichen Anspielungen auf das Abendmahl, das Verzehren des Fleisches, das Trinken des Blutes. Von der Germanistik weniger beachtet als seine Bezüge zur griechischen Tragödie, versteht Kleist die Liebe so biblisch, dass er auf der Kirchenkanzel einen Skandal auslösen würde. Schließlich gibt es in der Bibel nicht nur das Hohelied des Salomo, das Gott und das Volk Israel in eine wundersam zärtliche, dabei unverhüllt erotische Beziehung setzt. Es gibt, wahrscheinlich repräsentativer für das Alte Testament, auch das Buch Hosea, in dem Gott als der Liebende vor Eifersucht so fürchterlich wütet, dass er das Volk als seine Geliebte mehr als nur züchtigt, sondern sie vor den Augen ihrer Liebhaber nackt auszieht und sich an ihr vergeht: "Niemand soll sie aus meiner Hand erretten", brüllt der liebende Gott, und die Menschen stammeln nach der Vergewaltigung bestimmt nicht aus Verliebtheit: "Kommt, wir wollen wieder zum Herrn; denn er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen; er hat uns geschlagen, er wird uns auch verbinden."

Solche Verhältnisse der Liebe, die die Bibel vor zwei- bis dreitausend Jahren festhielt, sind realer, erfahrungsgesättigter als alle Romanzen, die seither geschrieben wurden - nicht bloß schmerzlich, sondern schmutzig. Der Gott der Bibel ist nicht lieb, er ist cholerisch, zornig, rachsüchtig und mordend, er ist großmütig, erbarmend, zärtlich und beschützend, er ist rasend, der Gott der Bibel, nicht weniger als Penthesilea und Achill ist er rasend vor Liebe. Und auch die Menschen der Bibel lieben nicht wie im Vorabendprogramm, sondern ohne Maß; sie verschreiben sich ihrem Herrn buchstäblich mit Haut und Haaren, sind hier unterwürfig, dort rebellisch, werben um den Herrn, wenn er sich ihnen entzieht, und beschimpfen ihn, wenn er sie misshandelt, klagen die Zuneigung des Geliebten in immer neuen Worten ein. Das macht die Bibel groß, groß auch für Ungläubige: Sie erzählt nicht von Übersinnlichem, sondern von der irdischen Erfahrung in der gesamten Bandbreite und also über das Vertraute, das Angenehme, das Gefällige hinaus. Insofern ist die Bibel göttlich, als sie menschlich ist im Extrem. Es ist, was auch Kleists Dichtung groß, was sie hier und dort göttlich macht. Es ist, was der deutschen Literatur heute am meisten fehlt. 
Was wir von Heinrich von Kleist über die Liebe lernen Von Navid Kermani


SPRACHE IST BEI KLEIST NIE BLOSS EIN SYSTEM ZUR REPRODUKTION VON WIRKLICHKEIT; SONDERN SIE IST SELBST EINES DER PRODUKTION VON WIRKLICHKEIT; IST AUCH EINE FORM DES HANDELNS.
 Dirk Grathoff - Kleist, Westdeutscher Verlag, Wiiesbaden, 2000


Freiheit und Gleichheit! hört man schallen,
Der ruhge Bürger greift zur Wehr,
Die Straßen füllen sich, die Hallen,
Und Würgerbanden ziehn umher,
Das werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz,
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreißen sie des Feindes Herz.

Friedrich Schiller 
Das Lied von der Glocke 
1799

Samstag, 3. September 2016

Penthesilea 2 - Die Liebe ist eine Katastrophe.

Wie  uns die bestätigte Definition von dem, was sich gehört doch fesseln kann..
Wir fürchten uns.
Wiki sagt: Das Chaos [ˈkaːɔs] (von griechisch χάος cháos) ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die (Welt-)Ordnung oder das Universum.

DER SPRUNG MACHT DIE ERFAHRUNG, NICHT DER SCHRITT.
Heiner Müller

Wenn sich die Ordnung von der gefühlten Unordnung, wenn sich die gewaltsame Organisation des Chaos vom chaotischem Gefühl bedroht fühlt, kommt es zur Katastrophe. 
Wir gebrauchen das Wort nur in seiner gebrauchsüblichen Bedeutung als Verheerung, zerstörerischen Zusammenbruch, aber ursprünglich bedeutete das griechische Verb καταστρέφειν - katastréphein - "umkehren, umwenden", also etwas verändert sich in großer Art, es kehrt gar seinen Kurs ins Gegenteil. Und wenn es vorher ins Schlimme lief, dann heißt das, dass eine Katastrophe nötig war. Etwas Neues mußte her, etwas ganz und gar Anderes.
Wir begegnen in diesem Stück zwei militärischen Gruppierungen, dem außerordentlich gut organisierten Heer der Amazonen und dem viel individueller, unsicherer verbundenen Haufen der griechischen Kriegskönige. Beide Seiten haben ein klar definiertes Ziel. Amazonen: Männerfang zum Erhalt ihrer weiblichen Nation, Griechen: Troja erobern, um die patriarchalische Hoheit über das Mittelmeer zu erhalten, Helena ist publicityträchtige Nebensache. Und dann geht alles schief, denn die LIEBE sagt "Aber". "Aber". Mein unangefochtenes Lieblingswort. Jeder sicheren Wahrheit muß unbedingt  ein ABER entgegengesetzt werden. MUß. Sonst wird sie selbstgewiß, glaubt sich im Recht ohne jeden Zweifel. Aber was ist die Liebe? 


Wenn ich dich nicht liebe, so ist das Chaos wieder da.
William Shakespeare Othello  
Ist das Chaos also eigentlich die Ordnung? Der Zustand, in dem wir glauben zurecht zu handeln?
PENTHESILEA.
Nicht? Küßt ich nicht? Zerrissen wirklich? sprecht?
DIE OBERPRIESTERIN.
Weh! Wehe! ruf ich dir. Verberge dich!
Laß für der ew'ge Mitternacht dich decken!
PENTHESILEA.
– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das eine für das andre greifen.
... Du Ärmster aller Menschen, du vergibst mir!
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;
Doch jetzt sag ich dir deutlich, wie ich's meinte:
Dies, du Geliebter, war's, und weiter nichts.


Sie küßt ihn.

Wie manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb ihn, o so sehr,
Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;
Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin!
Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.
Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht.
Sieh her: als ich an deinem Halse hing,
Hab ich's wahrhaftig Wort für Wort getan;
Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.
...
Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr ich in der Glut des Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag es der Hoffnung ew'gem Amboß zu,
Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch;
Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust:
So! So! So! So! Und wieder! – Nun ist's gut.
...
Wieder Wiki: Die mathematische Katastrophentheorie beschäftigt sich mit unstetigen, sprunghaften Veränderungen kontinuierlicher dynamischer Systeme. Diese können, auch wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen einen stabilen Zustand anstreben, bei Änderungen der Parameter sprunghafte, nichtstetige, diskontinuierliche Änderungen der Lösung erfahren.

Freitag, 2. September 2016

Problem

Ganz plötzlich läßt sich dieser Blog nicht mehr mit facebook verlinken. Dies ist ein Test.

Penthesilea 1 - Bisse/Küsse - Tod durch Worte


So sagt es Wiki: Chaos ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die Ordnung oder das Universum.

Penthesilea, das Ende:

Ungeheuerlich, eine Frau spricht sich zum Tod. Sie schaltet sich ab. Tötet sich durch Worte. Kein Pfeil, kein Messer, kein Gewehr, der letzte, ultimate Akt gehört allein der Sprache. Ebenderselben, die das Stück über so sehr versagt hat, wenn Liebende sich zu verständigen suchten.

Im Winter 1989, das Akademietheater in Wien, "Othello" inszeniert von George Tabori, Gert Voss als Othello, Ignaz Kirchner als Jago. Ich, stehend im Rang, in der ersten Reihe Österreicher mit Kontroll-Reclam-Stückausgaben. Am Ende tötet sich Othello durch ein leichtes waagerechtes Streichen der rechten Hand über seinen Hals. "Ich sterbe jetzt, weil ich nicht mehr leben will." Eines meiner größten Theatereindrücke. Nur gab es dieses Ende gar nicht. Es existiert, nach intensiver Erkundigungsarbeit, nur in meinem Kopf. WTF? Ist das mein erträumter Tod, der in freier Selbstentscheidung? Warum erinnere ich einen Vorgang, den es nicht gegeben hat?

Du willst – ?
                        Du denkst –

                                                 Was? Allerdings!

                                                                                   O Himmel!

Personage: Der tote Achill, Penthesilea wahrscheinlich mit blutigem Mund, die Oberpriesterin & Prothoe und Meroe, zwei Amazonen.

Die Oberpriesterinn.
Weh'! Wehe! ruf' ich dir. Verberge dich!
Laß fürder ew'ge Mitternacht dich decken!

Penthesilea.
– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das Eine für das Andre greifen.

Meroe.
Helf't ihr, ihr Ew'gen, dort!

Prothoe.   
                                          Hinweg!

Penthesilea. 
                                                          Laßt, laßt!
Du Aermster aller Menschen, du vergiebst mir!
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;
Doch jetzt sag' ich dir deutlich, wie ichs meinte:
Dies, du Geliebter, war's, und weiter nichts.

Die Oberpriesterinn.
Schafft sie hinweg!

Meroe. 
                            Was soll sie länger hier?

Penthesilea.
Wie Manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb' ihn, o so sehr,
Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;
Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrinn!
Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.
Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht.
Sieh her: als ich an deinem Halse hing,
Hab' ich's wahrhaftig Wort für Wort gethan;
Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.

Meroe.
Die Ungeheuerste! Was sprach sie da?

Die Oberpriesterinn.
Ergreift sie! Bringt sie fort!

Prothoe. 
                                             Komm, meine Königinn!

Penthesilea. 
Gut, gut. Hier bin ich schon.

Die Oberpriesterinn. 
                                               So folgst du uns?

Penthesilea.
Euch nicht! – –
Geht ihr nach Themiscyra, und seid glücklich,
Wenn ihr es könnt –
Vor allen meine Prothoe –
Ihr Alle –
Und – – – im Vertraun ein Wort, das niemand höre,
Der Tanaïs Asche, streut sie in die Luft!

Prothoe.
Und du, mein theures Schwesterherz?

Penthesilea. 
Ich?

Prothoe.
            Du!

Penthesilea.
                      – Ich will dir sagen, Prothoe,
Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los,
Und folge diesem Jüngling hier.

Prothoe.
Wie, meine Königinn?

Die Oberpriesterinn.
                                    Unglückliche!

Prothoe.
Du willst – ?

Die Oberpriesterinn.
                      Du denkst –

Penthesilea. 
                                  Was? Allerdings!

Meroe. 
                                                               O Himmel!

Prothoe.
So laß mich dir ein Wort, mein Schwesterherz –

Penthesilea.
Nun denn, und was? – – Was suchst du mir am Gurt?
– Ja, so. Wart' gleich! Verstand ich dich doch nicht.
– – Hier ist der Dolch. Willst du die Pfeile auch?
Hier schütt' ich ihren ganzen Köcher aus!
Zwar reitzend wär's von Einer Seite –
Denn dieser hier – nicht? Oder war es dieser – ?
Ja, der! Ganz recht – Gleichviel! Da! Nimm sie hin!
Nimm alle die Geschosse zu dir hin!

Prothoe. 
                                                                   Gieb her.

Penthesilea.
Denn jetzt steig' ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr' ich in der Glut des Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk' es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag' es der Hoffnung ew'gem Amboß zu,
Und schärf' und spitz es mir zu einem Dolch;
Und diesem Dolch jetzt reich' ich meine Brust:
So! So! So! So! Und wieder! – Nun ist's gut.

Der gesprochene Rest ist Politik & Ideologie.


Prothoe. 
Sie stirbt!

Meroe. 
              Sie folgt ihm, in der That!

Prothoe. 
                                                            Wohl ihr!
Denn hier war ihres fernern Bleibens nicht.

Die Oberpriesterinn.
Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!
Wie stolz, die hier geknickt liegt, noch vor Kurzem,
Hoch auf des Lebens Gipfeln, rauschte sie!

Prothoe.
Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte!
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
Wenn ich dich nicht liebe, so ist das Chaos wieder da.
William Shakespeare Othello 

Mittwoch, 31. August 2016

Der Mensch, das Mensch, a Mensh

Der Mensch

Das Englische hat kein gleichwertiges Wort, human being meint das gleiche, wirkt auf mich aber ungelenker, mehr Definition als Name, wie auch das lateinische Homo sapiens. Ein Mensch wie schön das klingt, ein Klang wie  Matsch, Flunsch, Quatsch, aber weniger lautmalerisch, runder, vollendeter, es fehlt nichts, es muß nichts dazu. Es reimt sich auch auf kein anderes Wort unserer Sprache. 
Und wir nutzen es unbedacht in vielfältiger widersprüchlicher Art. 

Menschlich, wie ein Mensch handeln, auf gute Art.
Menschheit, sind wir alle, ein diffuser Begriff, alle ausschließend, die wir nicht als Menschen anerkennen.
Unmensch, ein Mensch, der nicht menschlich handelt.
Menscheln, ursprünglich, noch bei Grimm, sich menschlich zeigen, heute aber eher wie Gutmensch unangenehm besetzt.
Vermenschlichen, entweder Nichtmenschlichem menschliche Züge geben (Anthropomorphismus) oder etwas sympathischer, niedlicher machen.
Menschenskind!, Ausruf von amüsierter Hilflosigkeit oder Anrede für ein menschliches Kind.
Mensch Meier! Entspricht in etwa "Das kann doch nicht wahr sein!"
Entmenschen, jemanden seiner Menschlichkeit berauben.
Ditte Menschenkind, ein heute fast vergessener Roman von Martin Andersen Nexö, der mich als junge Leserin erschrocken hinterließ.
Ein Mensch, wie stolz das klingt! schrieb Maxim Gorki und konnte Stalin doch nicht widerstehen.
Und unser Goethe schrieb im Faust: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein." 

Im Englischen wäre french als Reim auf Mensch möglich, und bench und wrench und stench, aber nur die Amerikaner nutzen das Wort und dann in einer ganz anderer Bedeutung, denn sie haben es von emigrierten Jiddischsprechern übernommen, die mit a mensch etwas völlig anderes meinten. (Siehe weiter unten.)
Übrigens, ist der Mensch männlich, aber bis wir uns genderneutral UND wohlklingend unterhalten können, wird wohl noch einige Zeit vergehen, lieber/liebe Mensch/-in oder besser Menschx?

Wiki definiert es so: Der Mensch (auch Homo sapiens, lat., verstehender, verständiger bzw. weiser, gescheiter, kluger, vernünftiger Mensch) ist nach der biologischen Systematik ein höheres Säugetier aus der Ordnung der Primaten (Primates). Er gehört zur Unterordnung der Trockennasenprimaten (Haplorrhini) und dort zur Familie der Menschenaffen (Hominidae).
Und etymologisch so: Das Wort ist eine Substantivierung von althochdeutsch mennisc, mittelhochdeutsch mennisch für „mannhaft“ und wird zurückgeführt auf einen indogermanischen Wortstamm, in dem die Bedeutung Mann und Mensch in eins fiel...

 
Das Mensch
Im Woyzeck fragt Marie den Woyzeck: Bin ich ein Mensch? und Andres fragt ihn: Wegen dem Mensch?

Laut Adelung:
In engerer Bedeutung, eine geringe Person weiblichen Geschlechtes, im verächtlichen Verstande. Ein armes Mensch. Ein böses, zanksüchtiges Mensch. Ein Frauensmensch, Weibsmensch. Besonders eine zu geringen Diensten verpflichtete weibliche Person, eine Magd, Ital. Massara; doch auch nur in der harten und verächtlichen Sprechart. Ein Dienstmensch, Küchenmensch, Kindermensch, Stubenmensch. Dem armen Menschen, (Mensche,) Gell. An den Höfen sind die Kammermenscher geringere Kammerbedienten, welche unmittelbar auf die Kammerdienerinnen folgen, und ihres geringen und verächtlichen Titels ungeachtet oft Figur genug machen. Die Kehrmenscher sind eben daselbst geringere weibliche Personen, welche die Zimmer auskehren. 

Mensch

Ebenfalls laut Adelung: In noch verächtlicherm Verstande pflegt man eine Hure in manchen Gegenden nur ein Mensch zu nennen; wo es zugleich ein Schimpfwort ist, welches auf Anbringen des Klägers gerichtlich geahndet wird. Engl. Wench, ein junges Mädchen, und eine Hure.

A Mensch, Mentsh, Mensh oder auch Mentsch
Ein Kompliment, vielleicht das größte, das man jemandem schenken kann: "Er ist a mensch." Er ist anständig, gut, hat ein großes Herz, er ist hilfreich, edel. Sei ein Mensch! 
Übrigens, vor dem schlimmen Krieg sprachen circa 12 Millionen Menschen Jiddisch. Heute sind es vielleicht noch der zehnte Teil davon.

A REAL MENTSH - Wie ein deutsches Wort über das Jiddische ins amerikanische Englisch fand
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/18359 
 
Im Jiddischen gibt es wunderbares Wort für Muttersprache - Mameloshn.

Montag, 29. August 2016

Gene Wilder ist tot - Ein Mensch

Der Arzt seiner herzkranken Mutter riet ihm, sie nie zu verärgern und sie möglichst oft zum Lachen zu bringen.

A true mensch. Der Mensch. Das Mensch. Ein mensch. Jemand der menschlich handelt. Unvorhersehbar, um Gutsein bemüht.

Kinofreak bin ich noch heute, aber Komödien, die mich zwingen zu lachen, gibt es seltener. Monty Python, David & Jerry Zucker, Mel Brooks alle aus dem Rennen.Wohin laufen sie denn?

Aus dem Nachruf der BBC auf Gene Wilder alias Jerome Silberman, er hat sich den unauffälligen amerikanischen Künstlernamen zugelegt, weil seiner Meinung nach, niemand einen Jerome Silberman für Hamlet engagieren würde:

mit Terry Carr
Veering between idiocy and apoplexy

Ein kleines Kino in einem Londoner Vorort, keine Ahnung mehr welches, aber wir waren lange unterwegs dorthin. Meine Mutter hatte in Time Out, dem Londoner TIP gelesen, dass frühe Mel Brooks Film dort lgezeigt wurden und vehement auf diesen/diesem Ausflug bestanden.  
Drei für eins, ein Ticket - drei Filme - The Producers (Springtime for Hitler), Blazing Saddles & Young Frankenstein - von 9 Uhr abends bis 2 Uhr morgens, ganz ohne Pause, hintereinander mit Popcorn und Cola und Schoko. Ich erinnere mich an den klebrigen Fußboden des Kinos, daran wie wenige Zuschauer anwesend waren und, dass ich, um drei Uhr früh, mit meinem ersten & einzigen Wangenmuskelkater, einer Unterform des Lachkrampfes. auf die nachtdunkle Strasse stolperte. 
Mel Brooks und Gene Wilder ein psychotisches Traumpaar, Brooks schrieb und inszenierte, Wilder wahnsinnigte sich durch seine schrägen Komödien, die mit Slapstick, jüdischer Paranoia & blitzschnellem Wortwitz die Filmmythen der westlichen Welt verdrehten, verschoben, zurechtrückten. Und immer war da ein subterraner Zorn, eine Wut, die nur im lauten Lachen seine Rettung finden konnte.
Es gab böse Deutsche mit abartigem teutschen Akkkzent und der Neigung zum Hitlergruß, Frauen, die in Ekstase in Gesang ausbrachen, ängstliche Helden, deren Naivität sie letztendlich unbesiegbar machte.

Dr. Frederick Frankenstein: You know, I'm a rather brilliant surgeon. Perhaps I can help you with that hump.

Igor: What hump?
 
Die Haushälterin in Frankensteins Schloß hieß Frau Blücher und bei Nennung ihres Namens wieherten, natürlich, stets Pferde. Der neue Sheriff von Rock Ridge in Blazing Saddles ist schwarz und ganz in weißes Gucci-Leder gekleidet (Richard Pryor) und nur er weiß nicht, dass das ein Problem sein könnte. 

Jim: [consoling Bart] What did you expect? "Welcome, sonny"? "Make yourself at home"? "Marry my daughter"? You've got to remember that these are just simple farmers. These are people of the land. The common clay of the new West. You know... morons.

Die endlosen Bohnen, die Cowboys in Westernfilmen essen, zeigten endlich einmal die erwartete Wirkung. Ja, ich liebe diese Furzszene. Und dann, nach Sein oder Nichtsein, mein zweites Zusammentreffen mit einer Komödie über Hitler. Ein in New York untergetauchter Nazi schreibt ein Stück über sein Idol und wir erleben die Umformung seiner Eloge in ein Broadway-Musical der schrägsten Art. Einen schwuleren Hitler gab es nie und einen antifaschistischeren Klamauk auch nicht.

Später kam noch Willie Wonka und die Schokoladenfabrik, so sehr viel besser als Tim Burtons Remake, unbemühter, wahnsinniger, gemeiner, rührender.



Willy Wonka: But Charlie, don't forget what happened to the man who suddenly got everything he always wanted.

Charlie Bucket: What happened?

Willy Wonka: He lived happily ever after. 


Kurze Nebenbemerkung: Zero Mostel, Max Bialystock, der Partner von Gene Wilder in The Producers, ein großer jüdischer Komiker, war jahrelang blacklisted, oder verdeutscht mit Berufsverbot belegt vom McCarthy-Untersuchungsausschuß.


There's a kind of silliness in the theater about what one contributes to a show. The producer obviously contributes the money… but must the actor contribute nothing at all? I’m not a modest fellow about those things. I contribute a great deal. And they always manage to hang you for having an interpretation. Isn’t [the theater] where your imagination should flower? Why must it always be dull as shit?
  
Es gibt eine Blödheit im Theater darüber, wer was zu einer Show beiträgt. Der Produzent bringt offensichtlich das Geld... aber darf der Schauspieler gar nichts beitragen? Ich bin kein bescheidener Kerl was diese Dinge betrifft. Ich trage eine Menge bei. Und sie schaffen es immer dich für eine Interpretation zu hängen. Ist das Theater nicht der Ort wo deine Phantasie blühen sollte? Warum muß es immer so irre langweilig sein?

Wenn Gott lebendig macht, tut er das, indem er tötet


Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der Glaube nicht nötig.


Herr Luther schreibt einen Text in Reaktion auf Worte des Erasmus von Rotterdam und ich lese und denke eine bessere Begründung für meinen Nichtglauben ist fast nicht möglich. Ich kann es auch so formulieren, wenn Luther recht hat, will ich keine Seligkeit. Wenn Gott Demütigung, Selbstaufgabe und unbedingten Glauben wider alle Verstehbarkeit verlangt, will ich ihm ungehorsam sein.
Oder wie es Stephen Fry auf die Frage was er, tot und im Himmel angekommen zu Gott sagen würde, formulierte: "Knochenkrebs bei Kindern, was soll das?"
Ich bemerke mein Atheismus wird mit den Jahren wütender. Aber viele, die ich mag, glauben auf verschiedenste Weise und, ich werde den Teufel tun, ihnen das übel zu nehmen.

Übrigens mochten beide Juden nicht, eine chistliche Krankheit der häufigen Art, aber der eine gab der Vernunft Raum und Grund und gestand damit dem Menschen einen freien Willen zu. Aber der andere, der unsere, der in diesem Jahr so sehr gefeierte ...

Martin Luther - VOM UNFREIEN WILLEN 

oder 

De servo arbitrio - Über den geknechteten Willen 1525
 
EIN KURZER AUSZUG:
 
Wenn wir glauben, es sei wahr, daß Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Das ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, daß es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.
...  
 
Erstens: Gott verheißt den Demütigen, das heißt denen, die an sich verzweifelt sind und sich aufgegeben haben, mit Bestimmtheit seine Gnade. Ganz und gar aber kann sich kein Mensch eher demütigen, bis daß er weiß, daß seine Seligkeit vollständig außerhalb seiner Kräfte, Absichten, Bemühungen, seines Willens und seiner Werke gänzlich von dem Belieben, Beschluß, Willen und der Tat eines anderen, nämlich Gottes allein, abhänge. Wenn er nämlich im Vertrauen auf sich selbst bleibt — und das tut er so lange wie er sich einbildet, er vermöge auch noch so wenig für seine Seligkeit zu tun — und nicht von Grund auf an sich verzweifelt, so demütigt er sich deswegen nicht vor Gott, sondern vermutet oder hofft oder wünscht wenigstens Gelegenheit, Zeit oder irgendein gutes Werk, dadurch er dennoch zur Seligkeit gelange. Wer aber wirklich nicht daran zweifelt, daß alles vom Willen Gottes abhänge, der verzweifelt völlig an sich selbst, wählt nichts eigenes, sondern erwartet den alles wirkenden Gott. Der ist am nächsten der Gnade und der Seligkeit. Deshalb werden um der Auserwählten willen diese Lehren gepredigt, damit sie — auf diese Weise gedemütigt und zunichte geworden — selig werden. Die übrigen widerstehen dieser Demütigung, ja sie verurteilen sogar diese Verkündigung der Verzweiflung an sich selbst, sie wollen, daß ihnen wenigstens ein ganz klein wenig übrig gelassen werde, das sie selbst vollbringen können. Das ist, sage ich, der eine Grund: daß die Frommen die Verheißung der Gnade in Demut erkennen, anrufen und empfangen.

Der andere Grund ist, daß der Glaube es mit den unsichtbaren Dingen zu tun hat (Hebr. 11, l). Damit also dem Glauben Raum gegeben werde, ist es notwendig, daß alles was geglaubt wird, sich unsichtbar mache. Er kann sich aber nicht gründlicher unsichtbar machen als unter dem Gegensatz zur Empfindung und Erfahrung, wie er hier vorliegt. So zum Beispiel: wenn Gott lebendig macht, tut er das, indem er tötet, wenn er gerecht macht, tut er das, indem er schuldig macht, wenn er in den Himmel bringt, tut er das, indem er zur Hölle führt, so wie die Schrift sagt (l. Sam. 2, 6): "Der Herr tötet und macht lebendig, führt in die Hölle und wieder heraus". ... So verbirgt er seine ewige Güte und Barmherzigkeit unter ewigem Zorn, Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit. Hier liegt die höchste Stufe des Glaubens vor: zu glauben, daß er gnädig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt, zu glauben, daß er gerecht ist, der durch seinen eigenen Willen uns notwendig verdammenswert macht, so daß es scheint, wie Erasmus sagt, daß er an den Qualen der Unglücklichen Gefallen habe und mehr Haß als Liebe verdiene. Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der Glaube nicht nötig. Jetzt, da es nicht begriffen werden kann, wird Raum, den Glauben zu entfalten, indem solches gepredigt und allgemein bekannt gemacht wird, ganz wie, wenn Gott tötet, der Glaube an das Leben, im Tode geübt wird. 
 

Sonntag, 28. August 2016

Huldigung an meine Hüften

Dieser Tage bewegt sich viel nackte weibliche Haut auf unseren Strassen. kleine Röckchen, kleine Höschen, kleine Tops, egal was, nur möglichst wenig davon,
es ist eben heiß in Berlin. Dazu Flipflops allüberall, das heißt: Badelatschen, 
egal wie schick der Name tut. (Über den Stil der Berlinerin oder ihren 
enttäuschenden Mangel an Stil müssten wir auch mal reden, aber nicht heute.)

Heute geht es mir ums GEHEN. Ich gehe. Ich bewege mich, meinen Körper in der Welt.

Mit 14 habe ich Röcke gehaßt, Jeans und flacheste Schuhe waren meine rebellische Uniform. Ich bin geschlurft, getrottet, getrampelt in pubertärer Bemühung um Coolness, auch wenn ich das Wort damals, 1972, noch nicht kannte. Nun ja, das geschlechtsunspezifische Kind war halt noch nicht ganz abgetreten und die Frau noch nicht vollständig anwesend. In einem ihrer letzten Erziehungsaufgebote, entschied meine Mutter, dass ich dreimal die Woche einen Rock zu tragen hätte mit den dazu passenden Schuhen. Zugegebener Maßen kam es zu diesem Verdikt, nachdem ich ich ihr mehrmals auf den Fuß gelatscht war, weil ein Heben des Beines mir gar zu aufwendig erschien. Was habe ich sie für diese Maßnahme gehaßt. Aber, Mist, Mist, sie hatte Recht. Ich lernte es zu gehen, meinen Körper beim Gehen zu fühlen. 
Da sind Füße, die, je nach Absatzhöhe in spezifischen Kontakt mit dem Boden treten, Knöchel, Waden, Knie, Oberschenkel und Hüften, gemeinsam agierend, um Fortbewegung möglich zu machen, und der Oberkörper obendrüber verhält sich dazu. 
Ein schöner Gang. Was ist das? Er kommt aus der Mitte. Er genießt sich. Er ist bequem und schön.
Aber was sehe ich tagtäglich? Hinreißend hübsche junge Damen, die mit festen Hüften und steifen Beinen durch die Gegend staksen, Füße einwärts, mit Rundrücken und unbeweglichen Schultern. Jede achtzigjährige Italienerin könnte ihnen mühelos den Gang oder Rang ablaufen. Da wiegt nichts, da schwingt nichts. Und nur um Mißverständnissen vorzubeugen, Schöngehen ist nicht primär ein Mittel zur Anlockung möglicher Sexualpartner, sondern eine Einverständniserklärung mit dem eigenen Körper. Eine Freundin, 71, und nicht auf Männerjagd, geht so wie ein Schwan schwimmt und es ist eine wirkliche Freude sie gehen zu sehen.

In meiner Gegend in Mitte könnte man/frau gut lustwandeln, aber dafür müßte man/frau ihren Körper kennen und mögen und ihn nicht wie ein notwendiges Übel durch die Gegend schleppen. Wozu bekleidet sich Mann/Frau so angestrengt sexy, wenn der Gang nur Körperfremdheit vermittelt?

John Travolta walks the walk in "Saturday Night Fever"


huldigung an meine hüften

diese hüften sind breite hüften
sie brauchen platz um sich
darin zu bewegen.
sie passen nicht an
belanglose orte, diese hüften
sind freie hüften..
sie mögen es nicht zurückgehalten zu werden
diese hüften waren nie versklavt,
sie gehen wohin sie gehen wollen
sie tun was sie tun wollen.
diese hüften sind mächtige hüften.
diese hüften sind sind magische hüften.
ich habe erlebt wie sie
einen mann verzaubert haben und
ihn wie einen kreisel herumwirbelten!

homage to my hips

these hips are big hips
they need space to
move around in.
they don't fit into little
petty places. these hips
are free hips.
they don't like to be held back.
these hips have never been enslaved,
they go where they want to go
they do what they want to do.
these hips are mighty hips.
these hips are magic hips.
i have known them
to put a spell on a man and
spin him like a top!
 
Lucille Clifton 
Frau, die Treppe herabgehend
Gerhard Richter
1965  
198 cm x 128 cm Werkverzeichnis: 92
Öl auf Leinwand