Freitag, 14. Juni 2013

Theater hat auch neue Texte



"Good Morning Boys and Girls"  
von Juli Zeh

Ein Stück über einen Pubertierenden, den allseits bekannten, allseits gefürchteten Amokläufer hochintelligent und vereinsamt, und seine Eltern, natürlich, bürgerlich bis zum Erbrechen, sie, die Mutter, hysterisch und trinkend, er, der Vater, ausschließlich aufgeregt die Schuldfrage abwehrend. Ja, ja die kenne ich schon aus anderen, besseren Texten.

Der zornige junge Mörder-Mann, der, in einer überraschenden Schlußwendung, doch nicht das ausführende Monster ist, sondern, wiederum nur Spielball anderer, bleibt aber leider nur ein Konstrukt der risikolosen Schule neuerer Dramatik. Ein schlaues Stück, aber eben deshalb auch ein unwahres. "Wir sind uns hier heute alle einig, das Leben ist ein wenig komplizierter, als unsere Schulweisheit vermuten läßt, aber nur ein klein wenig". Wie öde, wenn der Autor, die Autorin durchgehend einfache Entscheidungen für mich fällt. Schuldfragen müssen unbedingt beantwortet werden, sonst bleiben leere, dunkle Stellen, und an denen könnte Denken und Verunsicherung einsetzen, o nein. Da erklärt sie uns lieber alles ganz deutlich und genau. Sie versteht uns alle, aber ist doch letztendlich besser, toleranter, weitblickender als wir, sie hat nämlich eine Weltsicht und die sollen wir aber nun bitte mal teilen. Wie bevormundend! Wie öde!

Zwischenbemerkung: die Inszenierung von Marins Eitner-Acheampong war trotzdem großartig, sie hat die Texte musikalisiert, ihnen Widerstand gegeben und die Spieler befreit. Sie leben, sind erkennbar und entklischeesiert.

Und trotzdem bleibt: die Figuren sagen ständig was sie "wirklich" denken, meinen, fühlen, sie verkünden ihre Standpunkte wie Männer, die sich mächtig auf den Brustkorb schlagen oder Frauen die traurig angestrengt mit dem Arsch wackeln. Und es bleibt den Schauspielern eigentlich nix zu spielen übrig, weil ja alles schon ausgesprochen wird.
Niemand, den ich kenne, außer Politiker und Sektenpriester, posaunt ständig seine Standpunkte wie eherne Parolen in die Welt. Wir alle schwindeln, taktieren, versuchen uns durchzuwinden, verharren, stolpern und wagen uns ängstlich oder geckenhaft hervor mit unsreren Gewissheiten. Wir sind fehlbar, unsicher, gefällig und wankelmütig. In solchen Stücken werden wir zu schnell einordenbaren Typen eingefroren, die die Tiefen ihrer Seele immer ganz vorne auf der Zunge liegen haben und sie auch wie unter Zwang ständig ausspucken.

Herr Shakespeare hatte womöglich genug Talent, Zeit und Anarchie, um uns unsere Vieldeutbarkeit zuzugestehen, Hier wird versucht, uns für das Theater leicht verstehbar zu machen. Das ist öde. Und unwahr.
Vielleicht hatte William Shakespeare, der Sohn eines Handwerkers aus Stratford, nur die notwendige Demut, zu akzeptieren, dass nicht alles schnell erklärbar ist und den verständlichen Zorn darüber, dass es großartig wäre, wenn wir immer wüßten, was wir tun und warum wir es tun.
Einen freundlichen, dankbaren Gruß an Herrn Pollesch.

“Drei Studien Für Ein Portrait Von Lucian Freud”  Francis Bacon

„Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden.“
Meyers Konversationslexikon, Vierte Auflage, 1885-1892

Donnerstag, 13. Juni 2013

Zwerg im Märchen



sitzend in den pergen, geleich den twergen, 
zwair daum prait, ellen langk
Versroman Herzog ernst 1180

DAS MÄRCHEN VOM ZWERG 
Paul Klee 1925


DAS LIED DES ZWERGES
 
Meine Seele ist vielleicht grad und gut;
aber mein Herz, mein verbogenes Blut,
alles das, was mir wehe tut,
kann sie nicht aufrecht tragen.
Sie hat keinen Garten, sie hat kein Bett,
sie hängt an meinem scharfen Skelett
mit entsetztem Flügelschlagen.
Aus meinen Händen wird auch nichts mehr.
Wie verkümmert sie sind: sieh her:
zähe hüpfen sie, feucht und schwer,
wie kleine Kröten nach Regen.
Und das Andre an mir ist
abgetragen und alt und trist;
warum zögert Gott, auf den Mist
alles das hinzulegen.

Ob er mir zürnt für mein Gesicht
mit dem mürrischen Munde?
Es war ja so oft bereit, ganz licht
und klar zu werden im Grunde;
aber nichts kam ihm je so dicht
wie die großen Hunde.
Und die Hunde haben das nicht.

Rainer Maria Rilke
Aus: Das Buch der Bilder 

Hubertus Giebe Zwerg II

Und hier ein deutscher Puck?
 
Der Zwerg
 
Es lebt nicht fern von hier auf einem hohen Berg
Ein Mann, an Geiste groß, an Körper nur ein Zwerg,
Der kennet manches Kraut, manch zauberische Tinte,
Vor dem flieht jedermann wie Vögel vor der Flinte,
Und wie manch altes Weib in dieser Gegend weiß,
Verwandelt er sich bald in eine schwarze Geiß,
Bald in ein Schaf, bald in ein Rind, doch glänzet immer
In jeglicher Gestalt um seinem Haupt ein Schimmer;
Des Gnomen Tück ist nichts zu groß und nichts zu klein,
Er macht den Baur zum Fuchs, den Clericus zum Schwein,
Kein Amt, kein Stand ist seiner Rachbegier zu heilig,
Er neckt und quälet jeden, flieht man noch so eilig,
Er steht im Bunde mit dem leidgen Höllenhund,
Drum hütet euch vor ihm, zur Warnung mach ichs kund.
 
Franz Grillparzer
Den 28ten Oktober 1807
 
Wiki schreibt: Die im Hochmittelalter begonnene Diabolisierung 
der Zwerge nahm im Laufe der Zeit immer mehr zu. So wurden 
die Zwerge im 16. Jahrhundert von christlichen Theologen 
allgemein für gefallene Engel gehalten, die sich nur nicht völlig 
in Teufel verwandelt hätten, weil sie, als bloß Verführte, bei ihrem 
Sturz an Bergen und Bäumen hängen geblieben seien. 
 
 Hof-Zwerg Don Antonio el Ingles
Diego Velaquez 1640
 
Es gibt auch ein wunderbares Bild von Carl Spitzweg: Gnom,
die Eisenbahn betrachtend, Mythos trifft Neuzeit!
 
161.
Schneeweißchen und Rosenroth.
Eine arme Wittwe, die lebte einsam in einem Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weiße, das andere rothe Rosen: und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenroth. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen, als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind: Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenroth. Rosenroth sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fieng Sommervögel: Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen, oder las ihr vor, wenn nichts zu thun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, daß sie sich immer an den Händen faßten, so oft sie zusammen aus giengen, und wenn Schneeweißchen sagte „wir wollen uns nicht verlassen,“ so antwortete Rosenroth „so lange wir leben nicht,“ und die Mutter setzte hinzu „was das eine hat solls mit dem andern theilen.“ Oft liefen sie im Walde allein umher, und sammelten rothe Beeren, aber kein Thier that ihnen etwas zu leid, sondern sie kamen vertraulich herbei: das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen; das Reh graste an ihrer Seite; der Hirsch sprang ganz lustig vorbei; die Vögel blieben auf den Aesten sitzen, und sangen was sie wußten. Kein Unfall traf sie: wenn sie sich im Walde verspätet hatten und die Nacht sie überfiel, so legten sie sich nebeneinander auf das Moos und schliefen bis der Morgen kam, und die Mutter wußte das, und hatte ihrentwegen keine Sorge. Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten, und das Morgenroth sie aufweckte, da sahen sie ein schönes Kind in einem weißen glänzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen. Es stand auf, und blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts, und gieng in den Wald hinein. Und als sie sich umsahen, so hatten sie ganz nahe bei einem Abgrunde geschlafen, und wären gewiß hinein gefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weiter gegangen wären. Die Mutter aber sagte ihnen das müste der Engel gewesen seyn, der gute Kinder bewache.
Schneeweißchen und Rosenroth hielten das Hüttchen der Mutter so reinlich, daß es eine Freude war hinein zu schauen. Im Sommer besorgte Rosenroth das Haus, und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe sie aufwachte, einen Blumenstrauß vors Bett, darin war von jedem Bäumchen eine Rose. Im Winter zündete Schneeweißchen das Feuer an, und hieng den Kessel an den Feuerhacken, und der Kessel war von Messing, glänzte aber wie Gold, so rein war er gescheuert. Abends, wenn die Flocken fielen, sagte die Mutter „geh, Schneeweißchen, und schieb den Riegel vor,“ und dann setzten sie sich an den Herd, und die Mutter nahm die Brille, und las aus einem großen Buche vor, und die beiden Mädchen hörten zu, saßen und spannen; neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden, und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen, und hatte seinen Kopf unter den Flügel gesteckt.
Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen saßen, klopfte jemand an die Thüre, als wollte er eingelassen seyn. Die Mutter sprach „geschwind, Rosenroth, mach auf, es wird ein Wanderer seyn, der Obdach sucht.“ Rosenroth gieng, und schob den Riegel weg, aber statt daß ein Mensch gekommen wäre, streckte ein Bär seinen dicken schwarzen Kopf zur Thüre herein. Rosenroth schrie laut, und sprang zurück; das Lämmchen blöckte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter der Mutter Bett. Der Bär aber fieng an zu sprechen, und sagte „fürchtet euch nicht, ich thue euch nichts zu leid, ich bin halb erfroren, und will mich nur ein wenig bei euch wärmen.“ „Ei, du armer Bär,“ sprach die Mutter, „leg dich ans Feuer, und gib nur acht daß dir dein Pelz nicht brennt.“ Dann rief sie „Schneeweißchen, Rosenroth, kommt hervor, der Bär thut euch nichts, er meints ehrlich.“ Da kamen sie beide heran, und nach und nach näherten sich auch das Lämmchen und Täubchen, und hatten keine Furcht mehr. Der Bär sprach „ihr Kinder, klopft mir den Schnee ein wenig aus dem Pelzwerk,“ und sie holten den Besen, und kehrten dem Bär das Fell rein, er aber streckte sich ans Feuer, und brummte ganz vergnügt und behaglich. Nicht lange, so wurden sie ganz vertraut, und trieben Muthwillen mit dem unbeholfenen Gast, zausten ihm das Fell mit den Händen, setzten ihre Füßchen auf seinen Rücken, und walgerten ihn hin und her, oder nahmen eine Haselruthe und schlugen auf ihn los, und wenn er brummte, so lachten sie. Der Bär ließ sichs aber gerne gefallen, nur wenn sies gar zu arg machten, rief er „laßt mich am Leben, ihr Kinder:
Schneeweißchen, Rosenroth,
schlägst dir den Freier todt.“

Als Schlafenszeit war, und die andern zu Bett giengen, sagte die Mutter zu dem Bär „du kannst in Gottes Namen da am Herde liegen bleiben, so bist du vor der Kälte und dem bösen Wetter geschützt.“ Als der Tag graute, ließen ihn die beiden Kinder hinaus, und er trabte über den Schnee in den Wald hinein. Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde, legte sich an den Herd, und erlaubte den Kindern Kurzweil mit ihm zu treiben, so viel sie wollten; und sie waren so gewöhnt an ihn, daß die Thüre nicht eher zugeriegelt wurde, als bis der schwarze Gesell angelangt war.
Als das Frühjahr heran gekommen und draußen alles grün war, sagte der Bär eines Morgens zu Schneeweißchen „nun muß ich fort, und darf den ganzen Sommer nicht wieder kommen.“ „Wo gehst du denn hin, lieber Bär?“ fragte Schneeweißchen. „Ich muß in den Wald und meine Schätze vor den bösen Zwergen hüten: im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie wohl unten bleiben und können sich nicht durcharbeiten, aber jetzt, wenn die Sonne die Erde aufgethaut und erwärmt hat, da brechen sie durch, steigen herauf, suchen und stehlen: und was einmal in ihren Händen ist und in ihren Höhlen liegt, das kommt so leicht nicht wieder an des Tages Licht.“ Schneeweißchen war ganz traurig über den Abschied, und riegelte ihm die Thüre auf, und als der Bär sich hinaus drängte, blieb er an dem Thürhacken hängen, und ein Stück seiner Haut riß auf, und da war es Schneeweißchen, als hätte es Gold durchschimmern gesehen: aber es war seiner Sache nicht gewiß, weil der Bär eilig fort lief und bald hinter den Bäumen verschwunden war.
Nach einiger Zeit schickte die Mutter die Kinder in den Wald Reisig zu sammeln. Da fanden sie draußen einen großen Baum, der lag gefällt auf dem Boden, und an dem Stamme sprang zwischen dem Gras etwas auf und ab, sie konnten aber nicht unterscheiden was es war. Als sie näher kamen, sahen sie einen Zwerg mit einem alten verwelkten Gesicht und einem ellenlangen schneeweißen Bart. Das Ende des Bartes war in eine Spalte des Baums eingeklemmt, und der Kleine sprang hin und her wie ein Hündchen an einem Seil, und wußte nicht wie er sich helfen sollte. Er glotzte die Mädchen mit seinen rothen feurigen Augen an, und schrie „was steht ihr da! könnt ihr nicht herbei gehen und mir Beistand leisten?“ „Was hast du angefangen, kleines Männchen?“ fragte Rosenroth. „Dumme neugierige Gans,“ antwortete der Zwerg, „den Baum habe ich mir spalten wollen, um kleines Holz in der Küche zu haben; bei den dicken Klötzen verbrennt gleich das Bischen Speise, das unser einer braucht, der nicht so viel hinunter schlingt als ihr, grobes Volk. Ich hatte einen Keil hinein getrieben, und es wäre alles nach Wunsch gegangen, aber das verwünschte Holz war zu glatt, und sprang unversehens heraus, und der Baum fuhr so geschwind zusammen, daß ich meinen schönen weißen Bart nicht mehr herausziehen konnte; nun steckt er drinn, und ich kann nicht fort. Da lachen die albernen glatten Milchgesichter! pfui, was seyd ihr garstig!“ Die Kinder gaben sich alle Mühe, aber sie konnten den Bart nicht heraus ziehen, er steckte zu fest. „Ich will laufen, und Leute herbei holen“ sagte Rosenroth. „Wahnsinnige Schafsköpfe,“ schnarrte der Zwerg, „wer wird gleich Leute herbeirufen, ihr seyd mir schon um zwei zu viel; fällt euch nicht besseres ein?“ „Sey nur nicht ungeduldig,“ sagte Schneeweißchen, „ich will schon Rath schaffen,“ und holte sein Scheerchen aus der Tasche, und schnitt das Ende des Bartes ab. Sobald der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den Wurzeln des Baums steckte, und mit Gold gefüllt war, hob ihn heraus, und brummte vor sich hin „ungehobeltes Volk, schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Barte ab! lohns euch der Guckguck!“ damit schwang er seinen Sack auf den Rücken, und gieng fort ohne die Kinder nur noch einmal anzusehen.
Einige Zeit danach wollten Schneeweißchen und Rosenroth ein Gericht Fische angeln. Als sie auf den Bach zu giengen, sahen sie daß etwas wie eine große Heuschrecke nach dem Wasser zu hüpfte, als wollte es hinein springen. Sie liefen heran, und erkannten den Zwerg. „Wo willst du hin?“ sagte Rosenroth, „du willst doch nicht ins Wasser?“ „Solch ein Narr bin ich nicht,“ schrie der Zwerg, „seht ihr nicht, der verwünschte Fisch will mich hinein ziehen?“ Der Kleine hatte da gesessen und geangelt, und unglücklicher Weise hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verflochten: als gleich darauf ein großer Fisch anbiß, fehlten dem Zwerg die Kräfte ihn herauszuziehen, der Fisch behielt die Oberhand, und riß den Zwerg zu sich hin. Zwar hielt er sich an allen Halmen und Binsen, aber das half nicht viel, er mußte den Bewegungen des Fisches folgen, und war in beständiger Gefahr ins Wasser gezogen zu werden. Die Mädchen kamen zu rechter Zeit, hielten ihn fest, und versuchten den Bart von der Schnur loszumachen, aber vergebens, Bart und Schnur waren fest in einander verwirrt. Es blieb nichts übrig, als das Scheerchen hervor zu holen und den Bart abzuschneiden: dabei gieng ein kleiner Theil desselben verloren. Als der Zwerg das sah, schrie er sie an, „ist das Manier, ihr Lorche, einem das Gesicht zu schänden! nicht genug, daß ihr mir den Bart unten abgestutzt habt, jetzt schneidet ihr mir den besten Theil davon ab: ich darf mich vor den Meinigen gar nicht sehen lassen. Daß ihr laufen müßtet und die Schuhsohlen verloren hättet!“ Dann holte er einen Sack Perlen, der im Schilfe lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen, schleppte er ihn fort, und verschwand hinter einem Stein.
Es trug sich zu, daß bald hernach die Mutter die beiden Mädchen nach der Stadt schickte, Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen. Der Weg führte sie über eine Heide, auf der hier und da mächtige Felsenstücke zerstreut lagen, da sahen sie einen großen Vogel in der Luft schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herab senkte, und endlich nicht weit bei einem Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei. Sie liefen herzu, und sahen mit Schrecken daß der Adler ihren alten Bekannten, den Zwerg, gepackt hatte und ihn forttragen wollte. Die mitleidigen Kinder hielten gleich das Männchen fest, und zerrten sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahren ließ. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, sprach er „konntet ihr nicht säuberlicher mit mir umgehen, gerissen habt ihr an meinem dünnen Röckchen daß es überall zerfetzt und durchlöchert ist, unbeholfenes und täppisches Gesindel das ihr seyd!“ Dann nahm er einen Sack mit Edelsteinen, und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle. Die Mädchen waren an seinen Undank schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort, und verrichteten ihr Geschäft in der Stadt. Als sie beim Heimweg wieder auf die Heide kamen, überraschten sie den Zwerg, der auf einem reinlichen Plätzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet und nicht gedacht hatte daß so spät noch jemand daher kommen würde. Die Abendsonne schien über die glänzenden Steine, und sie schimmerten und leuchteten so prächtig in allen Farben, daß die Kinder stehen blieben, und sie betrachteten. „Was steht ihr da, und habt Maulaffen feil!“ schrie der Zwerg, und sein aschgraues Gesicht ward zinnoberroth vor Zorn. Er wollte mit seinen Scheltworten fortfahren, als sich ein lautes Brummen hören ließ, und ein schwarzer Bär aus dem Walde herbei trabte. Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen, der Bär war schon in seiner Nähe. Da rief er in Herzensangst „lieber Herr Bär, verschont mich, ich will euch alle meine Schätze geben, seht, die schönen Edelsteine, die da liegen. Schenkt mir das Leben, was habt ihr an mir kleinen schmächtigen Kerl? ihr spürt mich nicht zwischen den Zähnen: da die beiden gottlosen Mädchen packt, das sind für euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln, die freßt in Gottes Namen.“ Der Bär kümmerte sich um seine Worte nicht, gab dem boshaften Geschöpf einen einzigen Schlag mit der Tatze, und es regte sich nicht mehr.
Die Mädchen waren fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach „Schneeweißchen, Rosenroth, fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen.“ Da erkannten sie seine Stimme, und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und er stand da als ein schöner Mann, und war ganz in Gold gekleidet. Er sagte „ich bin eines Königs Sohn, und war von dem gottlosen Zwerg, der mir meine Schätze gestohlen hatte, verwünscht als ein wilder Bär in dem Walde zu laufen, bis ich durch seinen Tod erlöst würde. Jetzt hat er seine wohlverdiente Strafe empfangen.“
Schneeweißchen wurde mit ihm, und Rosenroth mit seinem Bruder vermählt, und sie theilten die großen Schätze mit einander, die der Zwerg in seiner Höhle zusammen getragen hatte. Die alte Mutter lebte noch lange Jahre ganz glücklich bei ihren Kindern. Die zwei Rosenbäumchen aber nahm sie mit, und sie standen vor ihrem Fenster, und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen, weiß und roth.
 
Gebrüder Grimm Märchen 3. Auflage


Bittersüß - Bittersweet


     ...entfloh'n der Trieb der schönsten Leidenschaft, geheilt der Liebe bittersüße 
     Wunden, was kann ich thun?
     Die Jungfrau von Orleans, ein heroisch-komisches Gedicht in 16 Gesängen von
     Voltaire

   
    Bittersüß - Solanum dulcamara - Bittersüßer Nachtschatten - Hundbeere,  
    Mäuseholz, Mausholz, Natter(n)holz, Pissranke, Rote Hundsbeere,  
    Saurebe, Stinkteufel, Süßstoff, Teufelsklatten, Waldnachtschatten, 
    Wasserranke, Wolfsbeere - hochgiftig und verführerisch schön, einige
    Vogelarten allerdings vertragen es gut, ein aggressives Unkraut, das, 
    wenn nicht in Schach gehalten, andere Pflanzen überwältigt und verdrängt.


     Bittersüß. Ich habe herrliche Theater-Proben und trauere mit meiner Freundin. 
     Ich habe Energie für Anproben, Besprechungen und unzählige Neben-
     schauplätze und meine Schwester, bzw. Kostümbildnerin muß sich in Berlin,
     nach unzeitigem Herzinfarkt therapieren lassen. Nein, Theater ist
     nicht meine Zuflucht, mein Leben ist wichtiger. Aber die Not in meinem 
     Leben speist meine Arbeit. Nicht aus taktischen Erwägungen, sondern
     aus innigster unvermeidbarer Verbundenheit. What the Fuck! Wie irrsinnig 
     kann das Leben sein? Ist das gut, ist das schlecht? Richtig? Falsch? Ist es
     einfach so wie Leben ist? Momentan ist für Reflektion wenig Zeit. Ich lebe
     dem Leben hinterher.
    
Das bittersüße ehlich Leben

Gott sei gelobet und geehrt
Der mir ein frumb Weib hat beschert
Mir der ich zwei und zweinzig Jahr
Gehaust hab, Gott gab länger gar

Wiewohl sich in mein ehlig Leben
Had Süß und Saures oft begeben
Gar wohl gemischt von Freud und Leid,
Erst auf, dann ab, ohn Unterscheid

Sie hat mir nit stets kochet Feigen
Will schwankweis Dir ein Teil anzeigen
Sie ist ein Himmel meiner Seel
Sie ist auch oft mein Pein und Hell,

Sie ist mein Engel auserkoren,
Ist oft mein Fegeteufel woren.
Sie ist mein Wünschelrut und Segen
Ist oft mein Schauer und Platzregen

Sie ist mein Mai und Rosenhag,
Ist oft mein Blitz und Donnerschlag,
Mein Frau ist oft mein Schimpf und Scherz,
Ist oft mein Jammer, Angst und Schmerz,

Sie ist mein Wonn und Augenweid,
Ist oft mein Traurn und Herzeleid
Sie ist mein Freiheit und mein Wahl,
Ist oft mein Gfängnis und Notstall,

Sie ist meine Hoffnung und mein Trost,
Ist oft mein Zweifel, Hitz und Frost.
Mein Frau ist meine Zier und Lust,
Ist oft mein Graun und Suppenwust,

Ist oft mein königlicher Saal,
Doch auch mein Krankheit und Spital.
Mein Frau, die hilft mir treulich nähren,
Thut mir auch oft das Mein verzehren,

Mein Frau, die ist mein Schild und Schutz,
Ist oft mein Frevel, Stolz und Trutz.
Sie ist mein Fried und Einigkeit,
Und oft mein täglich Hebensstreit

Sie ist mein Fürsprech und Erlediger,
Ist oft mein Ankläger und Prediger.
Mein Frau ist mein getreuer Freund,
Oft worden auch mein größter Feind,

Mein Frau ist mietsam oft und gütig,
Sie ist auch zornig oft und wütig.
Sie ist mein Tugend und mein Laster,
Sie ist mein Wund und auch mein Pflaster,

Sie ist meines Herzens Aufenthalt,
Und machet mich doch grau und alt.

Hans Sachs, 1494-1576 

Dienstag, 11. Juni 2013

Emily Dickinson - "Ich lebe in der Möglichkeit"


Emily Dickinson - 
Einziges Känguru im Schönen

E.D. lebte von 1830 bis 1886 in Amherst, Massachusetts

Emily Dickinson ist einfach ihr Leben lang in Amherst geblieben, einem kleinen College-Städtchen in Massachusetts. 1830 wurde die Lyrikerin in dem vom Großvater erbauten Haus geboren, in dem sie vor 125 Jahren, am 15. Mai 1886, gestorben ist. Mit Anfang 30 beschloss sie, keinen Fuß mehr vors Gartentor zu setzen. In den letzten Jahren hat sie, ...nicht mal mehr die Zimmertür weiter als einen Spalt geöffnet. 
Tagesspiegel vom 11.6.2013

I breathed enough to learn the trick,
And now, removed from air,
I simulate the breath so well,
That one, to be quite sure

The lungs are stirless, must descend
Among the cunning cells,
And touch the pantomime himself.
How cool the bellows feels! 

Den Atem-Trick kann ich schon lang –
Und nun, der Luft beraubt –
Ahm ich das Atmen nach, so gut –
Daß einer, der nicht glaubt –

Daß Lungen still stehn – runter muß
Die List der Zellen prüfen –
Und selbst – die Pantomime tasten,
Die tauben Bälge fühlen!

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I'm nobody! Who are you?
Are you nobody too?
then there's a pair of us. Don't tell!
They'd banish us, you know.

How dreary to be somebody!
How public, like a frog
To tell your name the livelong day
To an admiring bog!

Niemand bin ich! Und du?
Ein Niemand – noch dazu?
Dann sind wir zwei im Land!
Still! Gleich wird man bekannt!

Wie öde – Jemand sein!
Sein Lebtag – Fröschen gleich −
Den eignen Namen auszuquaken −
Für den Applaus im Teich!

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I should not dare to be so sad
  So many Years again –
A Load is first impossible
When we have to put it down –
The Superhuman then withdraws
And we who never saw
The Giant at the other side 
Begin to perish now.

Ich wagte es nicht noch einmal
 
So jahrelang zu trauern –
Unmöglich wird die Last ja erst 
Wenn wir uns von ihr trennen –
Dann weicht das Übermenschliche 
Und wir die nie gesehn
Den Riesen auf der andern Seite 
Beginnen zu vergehn

Übersetzungen von Gunhild Kübler

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After great pain a formal feeling comes--
The nerves sit ceremonious like tombs;
The stiff Heart questions--was it He that bore?
And yesterday--or centuries before?   
The feet, mechanical, go round
A wooden way
Of ground, or air, or ought,
Regardless grown,
A quartz contentment, like a stone.
This is the hour of lead
Remembered if outlived,
As freezing persons recollect the snow--
First chill, then stupor, then the letting go.

Nach großem Schmerz, Gefühl verflacht zur Form--
die Nerven sitzen steif, wie Grabesnorm;
das starre Herz fragt: War es 'Er, der trug'?
Und gestern -- oder im Jahrhundertflug?

Der Fuß, mechanisch, geht im Rund
des Holzwegs Pfad
von Pflicht, von Brauch, von Grund,
gewachsen drein
ein steinernes Zufriedensein.
Von Blei ist solche Stund'
erlebt, falls überlebt,
wie Frierende den Schnee erfassen--
Erst Frost, dann Starre, dann das Fallenlassen.

Übersetzung von Walter A. Aue
 

August Sander - Antlitz der Zeit - Entgegenblicke



ANTLITZ DER ZEIT
erschienen 1929

1936 wurde das Buch von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und die Druckstöcke vernichtet. Sanders Sohn Erich, ein überzeugter Sozialist, wurde 
1934 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und überlebte die Haft nicht. Sanders protestierte nie laut, nur einmal in höchster Verzweiflung legte er den Kopf eines frisch geschlachteten Schweines in das Fenster seines Studios, er mußte es sofort wieder entfernen.



Handlanger, 1928

“Das Wesen der gesamten Photographie ist dokumentarischer Art …” 
August Sander

Der Konditor, 1928

"Sander hat keine Menschen sondern Typen fotografiert, Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, dass das Individuum für die Gruppe genommen werden darf. Döblin weist in der Einleitung sehr treffend darauf hin, wie der Tod und die Gesellschaft die Gesichter verflachen; wie sie einander angeähnelt werden, immer mehr, immer mehr ... wie schwer es ist, noch ein Bauernmädchen von einer Proletarierfrau zu unterscheiden. Was Sander da gegeben hat, ist allerbeste Arbeit."
Peter Panter in Die Weltbühne, 25.03.1930

Welt war in dem Antlitz der Geliebten —,
aber plötzlich ist sie ausgegossen:
Welt ist draußen, Welt ist nicht zu fassen.

Warum trank ich nicht, da ich es aufhob,
aus dem vollen, dem geliebten Antlitz
Welt, die nah war, duftend meinem Munde?

Ach, ich trank. Wie trank ich unerschöpflich.
Doch auch ich war angefüllt mit zu viel
Welt, und trinkend ging ich selber über.

Rainer Maria Rilke
 
&
 
MENSCHEN DES 20. JAHRHUNDERTS
Portraitphotographien 1892 - 1952

"...die Photographie hat uns neue Möglichkeiten und andere Aufgaben als die Malerei gegeben. Sie kann die Dinge in grandioser Schönheit, aber auch in grauenhafter Wahrheit wiedergeben, kann aber auch unerhört betrügen.....
Wenn ich nun als gesunder Mensch so unbescheiden bin, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen oder können, so möge man mir dies verzeihen, aber ich kann nicht anders."
August Sander

 Mann der Erde 1910


Mädchen im Zirkuswagen. Köln 1926





 Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk 1931

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Antlitz n. ‘Gesicht’, ahd. antlizzi (Hs. 12. Jh.), mhd. antlitze, mnd. antlitte, aengl. andwlita, andwlite, anord. andlit, annlit schwed. anlete führen ebenso wie die Bildungen ohne die Vorsilbe ant-, and- ‘(ent)gegen’ (s. ent-) asächs. wliti, aengl. wlita, wlite, anord. litr, got. wlits ‘Aussehen, Gestalt, Angesicht’ und die Verben aengl. wlītan, wlātian ‘blicken, starren’, anord. līta ‘schauen, sehen’, leita ‘suchen’, got. wlaitōn ‘umherblicken, spähen’ auf ie. *u̯leid-. Dieser nur aus germanischen Formen erschlossene Ansatz ist wohl als Erweiterung der Wurzel ie. *u̯el- ‘sehen’ aufzufassen, zu der auch lat. vultus, voltus ‘Gesicht, Miene’, air. fili (aus *ue̯lēts) ‘Seher, Dichter’ gehört. Wörtlich ist Antlitz also das ‘Entgegenblickende’.

Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache
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Alle Rechte für die Photographien bei © Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln 
 

Freitag, 7. Juni 2013

Theater hat auch einen Trinker



Heute hat mir ein Freund in einem Cafe, mit lachenden Augen und einem Kichern in der Stimme, ein Gedicht vorgetragen. Wir hatten begonnen, uns leicht sentimental verklärte Anekdoten aus der Frühzeit unseres Arbeitslebens zu erzählen und während dieses Gespräches war die Rede auch auf die "Verordentlichung" des Theaterbetriebes gekommen. Omama und Opapa erzählen sich vom Krieg!

Und doch ist was Wahres daran. Der soziale Druck ist größer, die Angst eine andere und wir alle benehmen uns besser. Ich weiss wirklich nicht zu sagen, ob das der vielfach eingeforderten Political Correctness oder der allgemeinen Verbürgerlichung der Sitten, zuzurechnen ist, aber braver sind wir allemal. Oder vernünftiger, das kommt auf die Perspektive an. 
Ein Theater wie das DT (Das Deutsche Theater in Berlin) hatte in seinen Hochzeiten, mehrere hochbegabte Trinker, ein oder zwei wahrhafte Diven, mindestens einen Casanova und dann noch diesen und jenen mittelbegabten Irren. Feindschaften, ob ästhetisch, politisch oder sexuell begründet, wurden öffentlich ausgelebt, Theaterkräche waren die scharfe Würze der Proben und der promillebezogene Zustand eines Kollegen konnte im Guten wie im Katastrophalen über die Qualität der abendlichen Vorstellung entscheiden. 
R. L. nüchtern war ein missgelaunter und doch hervorragender Spieler, angetrunken neigte er zu Wiederholungen erfolgreicher Pointen und das mit großem Erfolg, im Vollsuff kam er dann auch mal viel zu spät und verlangte herrisch vom heimwärts strömenden Publikum die sofortige Rückkehr in den Saal. Ein anderer Kollege, R. Sch., hat sich tiefbeschämt für eine im Trunk verpasste Vorstellung entschuldigt, die er gespielt hatte, ohne am nächsten Morgen davon noch irgendeine Erinnerung zu haben. Ich spreche hier nicht dem Alkoholismus das Wort, aber diese Ansammlung von sozial ungelenken, ja sogar unfähigen Menschen, die auf der Bühne zu ganz unglaublicher Sensibilität und zirzensischer Verspieltheit fähig waren, hat oftmals ganz wunderbares Theater gezaubert.

HAMLETS GEIST

Gustav Renner war bestimmt
die beste Kraft am Toggenburger Stadttheater.
Alle kannten seine weiße Weste,
alle kannten ihn als Heldenvater

Alle lobten ihn, sogar die Kenner,
und die Damen fanden ihn sogar noch schlank.
Schade war nur, dass sich Gustav Renner,
wenn er Geld besaß, enorm betrank.

Eines Abends, als man Hamlet gab,
spielte er den Geist von Hamlets Vater,
und was man nur Dummes tun kann, tat er.
Hamlet war aufs äußerste bestürzt,
denn der Geist fiel gänzlich aus der Rolle,
und die Szene wurde abgekürzt.

Renner fragte, was man von ihm wolle?
Man versuchte hinter den Kulissen
ihn von seinem Rausche zu befreien,
legte ihn lang hin und gab ihm Kissen,
und dabei schlief Gustav Renner ein.

Die Kollegen spielten nun exakt,
weil er schlief und sie nicht länger störte.
Doch er kam! Und Zwar im nächsten Akt,
wo er absolut nicht hingehörte.

Seiner Gattin trat er auf den Fuß,
seinem Sohn zerbrach er das Florett,
und er tanzte mit Ophelia Blues,
und den König schmiss er ins Parkett.

Alle zitterten und rissen aus,
doch dem Publikum war das egal;
so etwas von donnerndem Applaus
gab’s in Toggenburg zum ersten Mal.
Und die meisten Toggenburger fanden:
Endlich hätten sie das Stück verstanden.
 
Erich Kästner

Dieter Franke und Klaus Piontek zwei so wundersame Verrückte

„An Dieter Franke muss erinnert werden, wo und wann immer sich die Gelegenheit bietet.“
Kurt Böwe (noch so einer)
 
Wenn wir in den Himmel kommen,
hat die Plag’ ein End’ genommen. Hopsasa! 
 

Donnerstag, 6. Juni 2013

Wünsche


Jeder von uns wünschte gelegentlich, dass es einfache Lösungen gäbe,
wünschte manchmal, dass der Mond aus Butterkäse und die Wolken aus 
weicher Watte wären, dass Kinder auf immer unschuldig und alte Leute wahrhaft weise wären, dass eins und eins zwei macht und dies alles einen Sinn ergibt.
Und erst wenn wir dies nicht mehr wünschen, erst dann kommt es richtig dicke.
Gelbes Haus 1888 Vincent van Gogh

Gedicht für jeden Tag im Jahr

Jeder wünscht sich jeden Morgen
irgend etwas - je nachdem.
Jeder hat seit jeher Sorgen,
jeder jeweils sein Problem.

Jeder jagt nicht jede Beute,
jeder tut nicht jede Pflicht.
Jemand freut sich jetzt und heute.
jemand anders freut sich nicht.

Jemand lebt von seiner Feder,
jemand anders lebt als Dieb.
Jedenfalls hat aber jeder
jeweils irgend jemand lieb.

Jeder Garten ist nicht Eden.
Jedes Glas ist nicht voll Wein.
Jeder aber kann für jeden
jederzeit ein Engel sein.

Ja, je lieber und je länger
jeder jedem jederzeit
jedes Glück wünscht, um so enger
leben wir in Ewigkeit.

James Krüss

Dienstag, 4. Juni 2013

Theater hat auch große Emotionen


Das Theater bedarf großer Emotionen. Aber genau die können es auch unerträglich beliebig machen. Dann wird gelitten, geschrien, geweint, geröchelt, gebrüllt, gekreischt, geächzt und gejammert und es bleibt ganz allgemein und geht niemanden etwas an, nichteinmal den, der da leidet, schreit, röchelt etcetera. Allgemeine Aufgeregtheiten, inszeniert von Leuten, die die eigenen Hysterien für wichtig genug halten, um sie uns als existenentiell zu servieren.
Gefühle sind konkret. 
Und in lebensbedrohenden Notsituationen verhalten sich Menschen selten wie in drittklassigen Schundromanen. Sie wollen überleben, suchen nach Lösungen, wollen sterben, verweigern sich der Wahrheit, sie reagieren und versuchen zu agieren, aber immer aus konkreten Gründen und ihre Äußerungsformen sind merkwürdig, individuell, klischeehaft und hilflos, je nach Möglichkeit, aber nie nur typisch.

Vor zwei Tagen in Stuttgart, Volker Lösch, dessen Hamlet mich sehr überrascht hatte ( Ich hatte die Karte kurzfristig geschenkt bekommen, vermeinte in Harald Schmidts Hamlet-Musical zu sitzen, und war dann gänzlich überwältigt von der unverschämten, klaren und zornigen Erzählweise des Abends.) hat zum Abschluss der erfolgreichen Intendanz von Hasko Weber, die Orestie inszeniert.
Wiki schreibt: Die Orestie (᾿Ορέστεια) des Dichters Aischylos ist eine griechische Tragödie. Sie entstand im Jahr 458 v. Chr. Das dreiteilige Stück behandelt das Ende des Fluchs, unter dem das Haus Atreus steht. Geschildert wird die Entwicklung des antiken Rechtsverständnisses vom Prinzip der individuellen Rache hin zu einer geordneten Rechtsprechung durch eine die Gesellschaft repräsentierende Gruppe.
Agamemnon kommt nach zehn Jahren zurück aus dem Krieg mit Troja, um sichere Winde für seine Hinfahrt zu bekommen, hatte er damals seine Tochter Iphigenie geopfert. Seine Frau Klytaimnestra ist mittlerweile mit Aigisthos liiert, und haßt Agamemnon für den Verlust der ältsten Tochter. Sie tötet ihn. Ihre jüngere Tochter Elektra fordert von ihrem Bruder Orest Rache für den Tod des Vaters. Er tötet die Mutter. Die Erynnien fordern wiederum seinen Tod, als Sühne für den Muttermord. 
Auftritt Apollo und Athena - Ein Kompromiss wird gesucht und dann auferlegt.
Löschs Prämisse: Griechenland befindet sich in der Euro-Krise, der Chor lungert im Abfall der Tourismus- und Bauindustrie, Angela Merkel wird später Pallas Athena, die Göttin der Gerechtigkeit sein, Schäuble so etwas ähnliches wie Apollo, der Gott des Kompromisses? Der Chor säuselt, in wahrhaft altbekannter Manier, leider nahezu unverstehbar, Vorwürfe in die Runde. Klytaimnestra ist geil und wütend, Agamemnon geil und bösartig, Aigisthos geil und eitel, Elektra geil und unglücklich, Orest geil und ...

Das gibt sich politisch und ist nicht einmal kabarettistisch.

Und nur Rahel Ohm als Merkel/Athena scheint zu wissen, was sie redet und auch noch den Spaß zu haben damit umzugehen und die Mittel, dass ich sie auch verstehe.

Ich mag die Idee und öde mich bei der Ausführung. Ein Einfall allein ist nicht abendfüllend.

Ach, und die Erynnien, blutdürstende Einforderinnen des Mutterrechts, sollen dann auch noch als Occupy-Bewegte durchgehen. 

Einundeinehalbe Stunde wird vorrangig hochgradig und schrill gefühlt, niemand scheint eines klaren Gedankens fähig zu sein, Blut wabert, Pappsteine rollen, Lakentogas zittern. Aber warum? Wozu das Ganze?


Die Reue des Orest, der von den Erynnien verfolgt wird
1862 - William-Adolphe Bouguereau

Sonntag, 2. Juni 2013

Klage



Ach, meine liebe Liebe, ich wünschte ich hätte Worte.

Du bist ein Schatten am Tage
und in der Nacht ein Licht;
du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.

Wo ich mein Zelt aufschlage,
da wohnst du bei mir dicht;
du bist mein Schatten am Tage
und in der Nacht mein Licht.

Wo ich auch nach dir frage,
find´ ich von dir Bericht,
du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.

Du bist ein Schatten am Tage
und in der Nacht ein Licht;
du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.

Aus den Kindertotenliedern
von Friedrich Rückert
 

Samstag, 1. Juni 2013

KINDERTAG



    "Rettet Die Kinder" - Eglantyne Jebb 1923

      Das Kind muß die Möglichkeiten für eine normale Entwicklung erhalten,
      sowohl materiell als auch geistig.
      Das Kind, das hungrig ist, muß gefüttert werden, das Kind, das krank ist, muß
      gepflegt werden, dem Kind, das zurückgeblieben ist, muß geholfen werden,
      das straffällige Kind, muß zurückgewonnen werden, und die Waisen und die
      Heimatlosen müssen Unterkunft bekommen und Hilfe.
      Das Kind muß als erstes Fürsorge erhalten in Zeiten der Not.
      Das Kind muß in die Lage versetzt werden, einen Lebensunterhalt zu
      verdienen, und muß vor aller Form der Ausbeutung geschützt werden.
      Das Kind muß im Bewusstsein aufgezogen werden, das seine Talente dem
      Dienst an seinen Mitmenschen gewidmet sein sollten.

      1989 wurde die Charta der Rechte des Kindes durch die UNO -
      Generalversammlung angenommen. Am 2. September 1990 wurde sie
      internationales Recht. Die USA haben als einziges Mitgliedsland nicht
      unterschrieben.

      Eglantyne Doey Jebb (* 25. August 1876 in Ellesmere; † 17. Dezember 1928 
      in Genf) war eine britische Aktivistin für Kinderrechte. Sie war Gründerin 
      der Organisation Save the Children und Wegbereiterin der UN - 
      Kinderrechtskonvention. (Wiki)

 Edward Muybridge

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, 
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, 
sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Khalil Gibran, arabischer Dichter, 1883-1931