Sonntag, 13. Januar 2013

Dorothea Tanning liebt Max Ernst und malt.


DOROTHEA TANNING

Wenn Sie irgendetwas in ihrem Leben oder in ihren Leben  ändern könnten, was wäre das?
Mehr Farbe in meinen Träumen.
Interview im Februar 2002 für "Salon"

Dorothea Tanning war zum Zeitpunkt dieses Interviews 91 Jahre alt und wurde, der älteste lebende Surrealist genannt. Sie starb 2012.


Max Ernst, Zwei Kinder werden von einer Nachtigall bedroht 1924

Sie sagte, sie hätte sich in Max Ernst verliebt, als sie das oben zu sehende Bild 1936 in der Ausstellung "Phantastic, Dada, and Surrealismus" im Museum of Modern Art in New York sah.

Also, was haben Sie als Künstler versucht mitzuteilen? Was waren ihre Ziele, und haben Sie sie erreicht?
Ich wäre zufrieden, wenn ich darauf hinweisen konnte, das es mehr gibt als das Auge sieht. 
ebenda


D.T., Geburtstag 1942

1942 besucht Max Ernst ihr Studio, sie spielen Schach und sind von nun an bis zum Tode Max Ernsts 1976 unzertrennlich. 


Max Ernst und Dorothea Tanning beim Schachspiel 
Sedona, Arizona, 1948 - ©Bob Towers

 Kunst war immer ein Floß, auf das wir geklettert sind, um unseren Verstand zu retten. Ich sehe auch heute keinen anderen Zweck.
ebenda

Dorothea Tanning, Eine Kleine Nachtmusik, 1943

Wir leben offensichtlich in einer Gesellschaft, die Jugend wertschätzt. Hat diese
eindeutige kulturelle Ausrichtung irgendeine Auswirkung auf Sie in den letzten Jahren?
Sie haben so recht. Sogar alte Leute wollen Jugendlichesein. Aber wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war es nicht gar so glorreich. Zu meiner Überraschung, mag ich es mitlerweile alt zu sein. Du kannst tun, was Du willst.
ebenda


D.T., Familien Portrait 1954

Darf ich Sie bitten mit mir ein pseudo.surrealistisches freies Assoziations Spiel zu spielen? Ihr Ehemann Max Ernst? 
Sein Humor. Ironisch, amüsiert, verwundert. Wir haben viel gelacht. Selbst heute, muß ich acht geben, dass ich Dinge nicht absurd finde, was sie ja meistens sind. Gleichzeitig weine ich mir die Augen leer.
ebenda


Sommer 1947. Max Ernst und Dorothea Tanning mit der Max Ernst-Skulptur "Capricorn" im Garten ihres Hauses in Sedona / Kalifornien. ©John Kasnetsis

Ein pseudo.surrealistisches freies Assoziations Spiel

André Breton?
Sehr streng:" Dorothea, trägst Du diesen tiefen Ausschnitt nur, um Männer zu provozieren?"

René Magritte?
Süß.
Truman Capote?
Ein ordentliches leines Päckchen - Dynamit. 

Orson Wells? 
Finsterblicker. 

Dylan Thomas?
Wie könnte irgendjemand seinem bardischen Überschwang, seinen Dithyramben widerstehen? 
Duchamp? 
Unübertroffen. 

Picasso?
Einmal war ich in seinem Haus, Jhuan-les-pins auf einem Nachmittags-Besuch, wir standen an der Küchentür, um Aufwiedersehen zu sagen und er hat die letzte Rose von einem alten Rosenstrauch gepflückt und sie mir gegeben. Wie würden Sie sich fühlen? 


 D.T., Canapé für einen regnerischen Tag (Rainy Day Canapé) 1970

http://www.salon.com/2002/02/11/tanning/

Freitag, 11. Januar 2013

Blaubart, ein Märchen in drei Variationen

 

Blaubart  

(Gebrüder Grimm)


In einem Walde lebte ein Mann, der hatte drei Söhne und eine schöne Tochter. Einmal kam ein goldener Wagen mit sechs Pferden und einer Menge Bedienten angefahren, hielt vor dem Haus still, und ein König stieg aus und bat den Mann, er möchte ihm seine Tochter zur Gemahlin geben. Der Mann war froh, dass seiner Tochter ein solches Glück widerfuhr, und sagte gleich ja; es war auch an dem Freier gar nichts auszusetzen, als dass er einen ganz blauen Bart hatte, so dass man einen kleinen Schrecken kriegte, sooft man ihn ansah. Das Mädchen erschrak auch anfangs davor und scheute sich, ihn zu heiraten, aber auf Zureden ihres Vaters willigte es endlich ein. Doch weil es so eine Angst fühlte, ging es erst zu seinen drei Brüdern, nahm sie allein und sagte: "Liebe Brüder, wenn ihr mich schreien hört, wo ihr auch seid, so lasst alles stehen und liegen und kommt mir zu Hülfe." Das versprachen ihm die Brüder und küssten es. "Leb wohl, liebe Schwester, wenn wir deine Stimme hören, springen wir auf unsere Pferde und sind bald bei dir." Darauf setzte es sich in den Wagen zu dem Blaubart und fuhr mit ihm fort. Wie es in sein Schloss kam, war alles prächtig, und was die Königin nur wünschte, das geschah, und sie wären recht glücklich gewesen, wenn sie sich nur an den blauen Bart des Königs hätte gewöhnen können, aber immer, wenn sie den sah, erschrak sie innerlich davor. Nachdem das einige Zeit gewährt, sprach er: "Ich muss eine große Reise machen, da hast du die Schlüssel zu dem ganzen Schloss, du kannst überall aufschließen und alles besehen, nur die Kammer, wozu dieser kleine goldene Schlüssel gehört, verbiet ich dir; schließt du die auf, so ist dein Leben verfallen." Sie nahm die Schlüssel, versprach ihm zu gehorchen, und als er fort war, Schloss sie nacheinander die Türen auf und sah so viel Reichtümer und Herrlichkeiten, dass sie meinte, aus der ganzen Welt wären sie hier zusammengebracht. Es war nun nichts mehr übrig als die verbotene Kammer, der Schlüssel war von Gold, da gedachte sie, in dieser ist vielleicht das Allerkostbarste verschlossen; die Neugierde fing an, sie zu plagen, und sie hätte lieber all das andere nicht gesehen, wenn sie nur gewusst, was in dieser wäre. Eine Zeitlang widerstand sie der Begierde, zuletzt aber ward diese so mächtig, dass sie den Schlüssel nahm und zu der Kammer hinging: "Wer wird es sehen, dass ich sie öffne", sagte sie zu sich selbst, "ich will auch nur einen Blick hineintun." Da Schloss sie auf, und wie die Türe aufging, schwamm ihr ein Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und von einigen waren nur die Gerippe noch übrig. Sie erschrak so heftig, dass sie die Türe gleich wieder zuschlug, aber der Schlüssel sprang dabei heraus und fiel in das Blut. Geschwind hob sie ihn auf und wollte das Blut abwischen, aber es war umsonst, wenn sie es auf der einen Seite abgewischt, kam es auf der andern wieder zum Vorschein; sie setzte sich den ganzen Tag hin und rieb daran und versuchte alles mögliche, aber es half nichts, die Blutflecken waren nicht herab zu bringen; endlich am Abend legte sie ihn ins Heu, das sollte in der Nacht das Blut ausziehen. Am andern Tag kam der Blaubart zurück, und das erste war, dass er die Schlüssel von ihr forderte; ihr Herz schlug, sie brachte die andern und hoffte, er werde es nicht bemerken, dass der goldene fehlte. Er aber zählte sie alle, und wie er fertig war, sagte er: "Wo ist der zu der heimlichen Kammer?" Dabei sah er ihr in das Gesicht. Sie ward blutrot und antwortete: "Er liegt oben, ich habe ihn verlegt, morgen will ich ihn suchen." "Geh lieber gleich, liebe Frau, ich werde ihn noch heute brauchen." "Ach ich will dir's nur sagen, ich habe ihn im Heu verloren, da muss ich erst suchen." "Du hast ihn nicht verloren", sagte der Blaubart zornig, "du hast ihn dahin gesteckt, damit die Blutflecken herausziehen sollen, denn du hast mein Gebot übertreten und bist in der Kammer gewesen, aber jetzt sollst du hinein, wenn du auch nicht willst." Da musste sie den Schlüssel holen, der war noch voller Blutflecken.

"Nun bereite dich zum Tode, du sollst noch heute sterben", sagte der Blaubart, holte sein großes Messer und führte sie auf den Hausehrn. "Lass mich nur noch vor meinem Tod mein Gebet tun", sagte sie. "So geh, aber eil dich, denn ich habe keine Zeit lang zu warten." Da lief sie die Treppe hinauf und rief, so laut sie konnte, zum Fenster hinaus: "Brüder, meine lieben Brüder, kommt, helft mir!" Die Brüder saßen im Wald beim kühlen Wein, da sprach der jüngste: "Mir ist, als hätte ich unserer Schwester Stimme gehört; auf! wir müssen ihr zu Hülfe eilen!" Da sprangen sie auf ihre Pferde und ritten, als wären sie der Sturmwind. Ihre Schwester aber lag in Angst auf den Knien; da rief der Blaubart unten: "Nun, bist du bald fertig?" Dabei hörte sie, wie er auf der untersten Stufe sein Messer wetzte; sie sah hinaus, aber sie sah nichts als von Ferne einen Staub, als käme eine Herde gezogen. Da schrie sie noch einmal: "Brüder, meine lieben Brüder! kommt, helft mir!" Und ihre Angst ward immer größer. Der Blaubart aber rief: "Wenn du nicht bald kommst, so hol ich dich, mein Messer ist gewetzt!" Da sah sie wieder hinaus und sah ihre drei Brüder durch das Feld reiten, als flögen sie wie Vögel in der Luft, da schrie sie zum dritten Mal in der höchsten Not und aus allen Kräften: "Brüder, meine lieben Brüder! kommt, helft mir!" Und der jüngste war schon so nah, dass sie seine Stimme hörte: "Tröste dich, liebe Schwester, noch einen Augenblick, so sind wir bei dir!" Der Blaubart aber rief: "Nun ist's genug gebetet, ich will nicht länger warten, kommst du nicht, so hol ich dich!" "Ach! nur noch für meine drei lieben Brüder lass mich beten." Er hörte aber nicht, kam die Treppe herauf gegangen und zog sie hinunter, und eben hatte er sie an den Haaren gefasst und wollte ihr das Messer in das Herz stoßen, da schlugen die drei Brüder an die Haustüre, drangen herein und rissen sie ihm aus der Hand, dann zogen sie ihre Säbel und hieben ihn nieder. Da ward er in die Blutkammer aufgehängt zu den andern Weibern, die er getötet, die Brüder aber nahmen ihre liebste Schwester mit nach Haus, und alle Reichtümer des Blaubarts gehörten ihr.

Gustav Dore

Blaubart - La barbe bleu

(Charles Perrault)

Es war einmal ein Ritter, der besaß viele Häuser in der Stadt und viele Schlösser auf dem Lande und silbernes und goldenes Tafelgeschirr und Möbel voll kostbarer Stickereien und vergoldete Karossen und Kasten voll Geld – aber er besaß auch einen blauen Bart, und das gab ihm ein so abstoßendes Aussehen, daß Weiber und Mädchen ihn weder leiden noch sehen mochten.
Eine seiner Nachbarinnen, eine vornehme, aber arme Dame, hatte zwei sehr schöne Töchter. Er warb bei ihr, es der Mutter überlassend, welche von beiden sie ihm geben wolle. Sie mochten aber alle beide von dieser Partie nichts wissen, und eine wollte ihn der andern aufreden, da sich keine entschließen konnte, einen Mann mit blauem Barte zu heiraten. Auch hatte es etwas Abschreckendes, daß Blaubart schon mehrere Male verheiratet gewesen und daß man nicht wußte, was aus seinen bisherigen Frauen geworden. Es war das jedenfalls ein verdächtiger Umstand.
Blaubart aber kannte die Weiber und die Mittel, ihnen die Köpfe zu verdrehen. Er lud die Mutter und die Töchter samt einigen ihrer Freundinnen und mehrere junge Männer auf eines seiner Schlösser, wo man sich durch acht Tage aufs angenehmste unterhielt. Da ging es hoch und lustig her; nichts als Landpartien, Bälle, Mahlzeiten, Gesellschaftsspiele, Neckereien, dazu wohlangebrachte Geschenke an die Mädchen wie an die Mutter und an die Freundinnen, die auf die Schwestern am meisten Einfluß hatten. Kurz, nach acht Tagen fand die jüngere Schwester, daß der Bart ihres Wirtes nur bläulich, nicht blau, 
und daß er selbst im ganzen und großen ein recht galanter Ritter und höchst 
annehmbarer Ehemann sei. Wenige Wochen nach diesen Lustbarkeiten war Hochzeit.
Nach Verlauf des Honigmondes sagte Blaubart zu seiner Frau: »Ich muß in sehr wichtiger Angelegenheit eine längere Reise machen, die mich wohl sechs Wochen lang von dir, mein Engel, und von meinem jungen Glücke trennen wird. Betrübe dich darum nicht allzusehr; im Gegenteil, lasse deine Freundinnen kommen und unterhalte dich während meiner Abwesenheit so gut als möglich. Hier übergebe ich dir die Schlüssel zu meinen Vorrats- und Schatzkammern, denn was mir gehört, gehört dir, und schalte und walte du damit nach Belieben. Dieser Schlüssel führt zum Saal der Gold- und Silbergeschirre, die man nicht täglich braucht, dieser zu meinen Kassen voll Gold und Silber, dieser zu den Kisten, in denen ich meine Diamanten aufbewahre, und dieser hier ist der Hauptschlüssel, der alle Türen öffnet. Was nun dieses kleine Schlüsselchen betrifft, so führt es in das kleine Gemach am Ende der großen Galerie. Gehe du überall hin, wohin es dir beliebt, öffne alle Türen, wie du willst, aber ich verbiete dir aufs strengste, in jenes kleine Kabinett einzutreten. Sollte es dir dennoch begegnen, daß du es öffnest, so wisse, daß du von meinem Zorne das Schrecklichste zu erwarten hast.« Sie versprach und beteuerte, seine Verordnungen aufs gewissenhafteste zu beobachten. Er umarmte sie zärtlich, stieg zu Roß und ritt davon. Die Nachbarinnen, Gevatterinnen und Freundinnen warteten nicht, bis man sie abholte. Kaum war Blaubart abgeritten, als sie schon herbeikamen, neugierig, wie sie waren, alle Reichtümer und Herrlichkeiten der jungen Frau zu sehen, während sie bisher nicht gewagt hatten, sie zu besuchen, aus Furcht vor dem blauen Barte. Da liefen sie nun voll Neugierde durch Zimmer und Zimmerchen, durch Säle und Sälchen und Schatzkammern und konnten sich nicht genug verwundern, und manche beneidete die glückliche Blaubärtin. Diese Tapisserien, diese Sofas, diese Lehnstühle, diese ausgelegten Tische – es war alles über alle Beschreibung reich und schön, jedes Kabinettchen ein Grünes Gewölbe. Am schönsten aber waren die großen Spiegel mit den prächtigen Rahmen, in denen das häßlichste Frauenzimmer reizend aussah. Sie waren alle wie berauscht von den schönen Sachen, und manche bedauerten, daß es nicht noch viele solche Blaubärte in der Welt gab. Am wenigsten unterhielt sich bei all dem die Beneidete, die Frau des Hauses selbst. Sie war zerstreut, sie konnte es nicht erwarten, hinabzusteigen in die Galerien und das kleine Kabinett zu öffnen. Die Neugierde verzehrte sie, und am Ende hielt sie es nicht länger aus, verließ unartigerweise ihre Gesellschaft und schlüpfte über die verborgene Wendeltreppe so schnell hinab, daß sie zwei- oder dreimal in Gefahr war, den Hals zu brechen. Erst vor der Türe des kleinen Kabinetts kam sie einigermaßen zur Besinnung und überlegte, ob es auch recht sei, die Verbote des Gatten so sehr außer acht zu lassen, und ob ihr aus ihrem Ungehorsam nicht etwelches Unglück erwachsen könne. Sie erinnerte sich des Gesichtes, das Blaubart gemacht hatte, als er ihr einschärfte, das Kabinett nicht zu öffnen, und sie schauderte. Aber die Versuchung war zu groß. Sie konnte nicht widerstehen – und schon hielt sie das kleine Schlüsselchen in der Hand, und schon hatte sie, obwohl zitternd, die Türe geöffnet.
Zuerst sah sie nichts, gar nichts, weil die Fenster geschlossen waren. Nach einigen Minuten sah sie, daß der Boden mit geronnenem Blut bedeckt war und in dem Zimmer tote Frauen lagen. Es waren das die Frauen, die Blaubart früher geheiratet und die er alle, eine nach der andern, umgebracht hatte. Sie war halb tot vor Schrecken, und das Schlüsselchen, das sie aus dem Schlosse gezogen., entfiel ihren Händen.
Nachdem sie sich wieder gefaßt, hob sie das Schlüsselchen auf, schloß die Türe und lief in ihr Zimmer, um sich zu sammeln und von ihrem Schrecken zu erholen. Aber das wollte ihr nicht gelingen, so sehr erschrocken und aufgeregt war sie. Da sie bemerkte, daß das Schlüsselchen mit Blut befleckt war, wischte sie es zwei- und dreimal ab, aber das Blut wollte nicht weichen. Sie mochte es noch so sehr waschen und mit Sand und Bimsstein reiben, der Blutfleck blieb nach wie vor, denn der Schlüssel war ein Zauberschlüssel, da half nichts. Und wenn der Blutfleck an einer Stelle verschwand, kam er an einer andern wieder zum Vorschein. Blaubart kehrte noch am selben Abend von der Reise zurück und erzählte, daß er durch Briefe, die er unterwegs erhalten, in Erfahrung gebracht, daß die Reise überflüssig und daß seine Angelegenheiten aufs beste geordnet seien. 
Seine Frau tat alles mögliche, um ihn glauben zu machen, daß sie über seine frühe Rückkehr hocherfreut sei.

Am nächsten Morgen verlangte er die Schlüssel zurück. Sie übergab sie ihm, 
aber mit so arg bebenden Händen, daß er leicht erriet, was geschehen war. 
»Wie kommt es«, fragte er, »daß der kleine Schlüssel zum Kabinett hier fehlt?«
»Ich werde ihn wohl oben auf dem Tische haben liegenlassen.«
»Vergiß nicht, mir ihn alsbald zu bringen«, sagte Blaubart.
Sie schob es mehrere Male auf, aber am Ende mußte sie den Schlüssel denn doch herbeibringen. Blaubart betrachtete ihn und sagte dann: »Wie kommt Blut an diesen Schlüssel?« »Ich weiß es nicht«, antwortete das arme Weib, blaß wie der Tod.
»Du weißt es nicht«, schrie Blaubart, »ich aber weiß es, ich! Du wolltest in das Kabinett! Nun wohl, du sollst deinen Willen haben, du wirst hineinkommen in dieses Kabinett und wirst deinen Platz einnehmen neben den Damen, die du dort zu sehen das Vergnügen hattest. Sie warf sich ihm zu Füßen, weinte und bat um Verzeihung und Gnade mit allen Zeichen der Reue. Sie weinte, wie man sich denken kann, vergebens, denn Blaubart hatte ein Herz von Stein. »Du mußt sterben«, sagte er gefaßt, »und zwar gleich.«
»Wenn ich schon sterben muß«, sagte sie mit vor Tränen zitternder Stimme, »so laß mir nur so viel Zeit, um mein Gebet verrichten zu können.« »Ich gewähre dir eine halbe Viertelstunde und keine Minute mehr.« Als er sie allein ließ, rief sie ihre Schwester und sagte zu dieser: »Schwester Anna, ich bitte dich, steige auf den Turm, so hoch du kannst, und sieh, ob nicht meine Brüder kommen. Sie haben sich auf heute zu Besuch angesagt, und wenn du sie kommen siehst, mache ihnen Zeichen, daß sie sich beeilen.«
Schwester Anna stieg auf den Turm, so hoch sie konnte, und die arme Betrübte rief von Zeit zu Zeit zu ihr hinauf: »Anna, Schwester Anna, siehst du nichts kommen?«
Und Schwester Anna antwortete: »Ich sehe nur die Sonne, die schimmert, und das grüne Gras, das glitzert.« Unterdessen stand Blaubart, mit einem großen Messer in der Hand, unten und rief aus Leibeskräften seiner Frau; »Komme rasch herunter, oder ich steige hinauf!«
»Noch einen Augenblick!« antwortete seine Frau, und dann rief sie leise: »Anna, Schwester Anna, siehst du nichts kommen?« Und Schwester Anna antwortete: »Ich sehe nur die Sonne, die schimmert, und das grüne Gras, das glitzert.«
»So komm doch!« schrie Blaubart, »oder ich steige hinauf!«
»Ich komme!« antwortete seine Frau, dann rief sie: »Anna, Schwester Anna, siehst du nichts kommen?«
»Ich sehe«, erwiderte Schwester Anna, »einen großen Staub, der sich von jener Seite erhebt.«
»Sind es meine Brüder?«
»Ach nein, meine Schwester, es ist eine Schafherde.«
»Willst du nicht endlich kommen?« schrie Blaubart.
»Noch eine Minute«, antwortete seine Frau, dann rief sie: »Anna, Schwester Anna, siehst du nichts kommen?«
»Ich sehe«, antwortete Schwester Anna, »ich sehe zwei Ritter von jener Seite kommen, aber sie sind noch sehr weit.« Und einen Augenblick später rief sie: »Gott sei gelobt, es sind die Brüder. Ich mache ihnen, soviel ich kann, Zeichen, daß sie sich beeilen.«
Blaubart schrie und rief jetzt so stark, daß das Haus zitterte. Das arme Weib stieg hinab, warf sich ihm zu Füßen, weinte und jammerte ganz fürchterlich und rang die Hände.
»Das führt zu nichts«, sagte Blaubart, »du mußt sterben!«
Dann griff er mit einer Hand in ihr Haar, mit der andern schwang er das große Messer, um ihr den Kopf abzuschneiden. Die arme Frau wandte sich zu ihm, sah ihn mit brechenden Augen an und bat noch um einen Augenblick, um sich zu sammeln.
»Nein! Nein! Empfiehl deine Seele Gott aufs beste!« rief er und hob den Arm ... In diesem Augenblick schlug man so gewaltig an die Tür, daß Blaubart stutzte. Man öffnete sogleich. Zwei Ritter mit gezückten Schwertern traten ein und stürzten sich geradenwegs auf Blaubart. Er erkannte die Brüder seiner Frau und wollte auf und davon gehen, aber die Brüder verfolgten ihn auf dem Fuß, erwischten ihn, bevor er aus dem Hause war, stießen ihm die Degen mitten durch den Leib und streckten ihn tot hin. Die arme Frau, die fast ebenso tot war wie ihr Gatte, hatte kaum Kraft genug, um sich zu erheben und ihre Brüder zu begrüßen. Blaubart hatte keine Anverwandten, und so fiel die ganze Erbschaft seiner Frau zu. Einen Teil ihres ungeheuren Vermögens gab sie ihrer Schwester Anna und verheiratete sie mit einem trefflichen jungen Mann, der sie seit langem liebte. Einen anderen Teil überließ sie ihren Brüdern, die als Soldaten das sehr wohl brauchen konnten, und den Rest brachte sie einem soliden Manne zu, an dessen Seite sie im Glücke die schweren Stunden ihrer kurzen Ehe mit Blaubart vergaß.

 Gustav Dore

Das Märchen vom Ritter Blaubart

(Ludwig Bechstein) 

Es war einmal ein gewaltiger Rittersmann, der hatte viel Geld und Gut und lebte auf seinem Schlosse herrlich und in Freuden. Er hatte einen blauen Bart, davon man ihn nur Ritter Blaubart nannte, obschon er eigentlich anders hieß, aber sein wahrer Name ist verloren gegangen. Dieser Ritter hatte sich schon mehr als einmal verheiratet, allein man hatte gehört, daß alle seine Frauen schnell nacheinander gestorben seien, ohne daß man eigentlich ihre Krankheit erfahren hatte. Nun ging Ritter Blaubart abermals auf Freiersfüßen, und da war eine Edeldame in seiner Nachbarschaft, die hatte zwei schöne Töchter und einige ritterliche Söhne, und diese Geschwister liebten einander sehr zärtlich. Als nun Ritter Blaubart die eine dieser Töchter heiraten wollte, hatte keine von beiden rechte Lust, denn sie fürchteten sich vor des Ritters blauem Bart und mochten sich auch nicht gern voneinander trennen. Aber der Ritter lud die Mutter, die Töchter und die Brüder samt und sonders auf sein großes schönes Schloß zu Gaste und verschaffte ihnen dort so viel angenehmen Zeitvertreib und so viel Vergnügen durch Jagden, Tafeln, Tänze, Spiele und sonstige Freudenfeste, daß sich endlich die jüngste der Schwestern ein Herz faßte und sich entschloß, Ritter Blaubarts Frau zu werden. Bald darauf wurde auch die Hochzeit mit vieler Pracht gefeiert.
Nach einer Zeit sagte der Ritter Blaubart zu seiner jungen Frau: »Ich muß verreisen und übergebe dir die Obhut über das ganze Schloß, Haus und Hof, mit allem, was dazu gehört. Hier sind auch die Schlüssel zu allen Zimmern und Gemächern, in alle diese kannst du zu jeder Zeit eintreten. Aber dieser kleine goldne Schlüssel schließt das hinterste Kabinett am Ende der großen Zimmerreihe. In dieses, meine Teure, muß ich dir verbieten zu gehen, so lieb dir meine Liebe und dein Leben sind. Würdest du dieses Kabinett öffnen, so erwartet dich die schrecklichste Strafe der Neugier. Ich müßte dir dann mit eigner Hand das Haupt vom Rumpfe trennen!« Die Frau wollte auf diese Rede den kleinen goldnen Schlüssel nicht annehmen, indes mußte sie dies tun, um ihn sicher aufzubewahren, und so schied sie von ihrem Mann mit dem Versprechen, daß es ihr nie einfallen werde, jenes Kabinett aufzuschließen und es zu betreten.
Als der Ritter fort war, erhielt die junge Frau Besuch von ihrer Schwester und ihren Brüdern, die gerne auf die Jagd gingen; und nun wurden mit Lust alle Tage die Herrlichkeiten in den vielen, vielen Zimmern des Schlosses durchmustert, und so kamen die Schwestern auch endlich an das Kabinett. Die Frau wollte, obschon sie selbst große Neugierde trug, durchaus nicht öffnen, aber die Schwester lachte ob ihrer Bedenklichkeit und meinte, daß Ritter Blaubart darin doch nur aus Eigensinn das Kostbarste und Wertvollste von seinen Schätzen verborgen halte. Und so wurde der Schlüssel mit einigem Zagen in das Schloß gesteckt, und da flog auch gleich mit dumpfem Geräusch die Türe auf, und in dem sparsam erhellten Zimmer zeigten sich – ein entsetzlicher Anblick! – die blutigen Häupter aller früheren Frauen Ritter Blaubarts, die ebensowenig wie die jetzige dem Drang der Neugier hatten widerstehen können und die der böse Mann alle mit eigner Hand enthauptet hatte. Vom Tod geschüttelt, wichen jetzt die Frau und ihre Schwester zurück; vor Schreck war der Frau der Schlüssel entfallen, und als sie ihn aufhob, waren Blutflecke daran, die sich nicht abreiben ließen, und ebensowenig gelang es, die Türe wieder zuzumachen, denn das Schloß war bezaubert, und indem verkündeten Hörner die Ankunft Berittner vor dem Tore der Burg. Die Frau atmete auf und glaubte, es seien ihre Brüder, die sie von der Jagd zurück erwartete, aber es war Ritter Blaubart selbst, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als nach seiner Frau zu fragen, und als diese ihm bleich, zitternd und bestürzt entgegentrat, so fragte er nach dem Schlüssel; sie wollte den Schlüssel holen, und er folgte ihr auf dem Fuße, und als er die Flecken am Schlüssel sah, so verwandelten sich alle seine Gebärden, und er schrie: »Weib, du mußt nun von meinen Händen sterben! Alle Gewalt habe ich dir gelassen! Alles war dein! Reich und schön war dein Leben! Und so gering war deine Liebe zu mir, du schlechte Magd, daß du meine einzige geringe Bitte, meinen ernsten Befehl nicht beachtet hast? Bereite dich zum Tode! Es ist aus mit dir!«

Mittwoch, 9. Januar 2013

Chuzpe


Neulich versuchte ich einer jungen Schauspielerin zu beschreiben, was mir in einer Szene noch zu fehlen schien - "Chuzpe!" - und bekam einen höflichen, aber deutlich verständnisfreien Blick zur Antwort. Sie hatte das Wort noch nie gehört.

Was ist Chuzpe oder Chuzpa? Für mich: Hoffnungsvolle bodenlose Unverschämtheit im Angesicht des fast sicheren Mißerfolgs. Und ob diese dreiste Unverfrorenheit aus Verzweiflung oder unbewiesenem Selbstvertrauen erwächst, ist sie doch nie ohne Witz. Sie weiß um die eigene Frechheit und treibt sie sehenden, ja aufgrissenen Auges in den Exzess, weil es kein Zurück mehr geben kann. Und lieber grandios auf die Schnauze fallen, die solche Nahbodenerfahrungen bereits gewohnt ist, als in vernünftiger, maßvoller Einsicht, mit zwischen den zitternden Beinen eingeklemmtem Schwanz, in der Zimmerecke über verpasste Chancen zu jammern. 
Mut der Verzweiflung? Unverfrorenheit? ? Immer fehlt den Worten die notwendige Prise ..., tja was? Es gibt wohl kein Wort für die Fähigkeit über sich selbst zu lachen. Selbstironie ist zu distanzierend. Galgenhumor - zu einschränkend. Sich selbst nicht ernst nehmen - zu umständlich.
Auf jeden Fall ist mehr Chuzpe nötig! 
Obwohl: Das klassische Beispiel für Chuzpe ist die Geschichte des Mannes, der Vater und Mutter erschlägt und dann um mildernde Umstände bittet, weil er Vollwaise sei.

Wiki schreibt in der Liste deutscher Wörter aus dem Hebräischen:
Ein Jude wird wegen Ehrenbeleidigung verklagt. Er habe jemandem Chuzpe vorgeworfen. Der Richter jedoch kennt das Wort gar nicht und bittet den Juden, es zu erklären.
Der Jude erklärt den Begriff zunächst für unübersetzbar. Endlich erklärt er sich bereit, Chuzpe mit „Frechheit“ zu übersetzen. „Allerdings“, fügt er hinzu, „ist es keine gewöhnliche Frechheit, sondern Frechheit mit Gewure.“
Der Richter: „Was ist Gewure?“
„Gewure – das ist Kraft.“
„Chuzpe ist also eine kräftige Frechheit?“
„Ja und nein. Gewure ist nicht einfach Kraft, sondern Kraft mit Ssechel.“
„Und was ist Ssechel?“
„Ssechel – das ist Verstand.“
„Also ist Chuzpe eine kräftige, verstandesvolle Frechheit.“
„Ja und nein. Ssechel ist nicht einfach Verstand, sondern Verstand mit Taam.“
„Schön – und was ist Taam*?“
„Ja sehen Sie, Herr Richter: Taam ist halt etwas, was man einem Goi nicht erklären kann.

Jüdische Witze. Ausgewählt und eingeleitet von Salcia Landmann. Walter, Olten 1962. DTV, München 2007
*Taam = Geschmack, Nuance, Charme, Schliff
 
Velleicht ist es nur das verbal überdauernde jüdische Erbe meiner äußerst unreligiösen Familie, die ich auch Meschpoke nenne, aber mein Wortschatz ist vollgesogen mit solchen jiddischen Lehnwörtern.
Das ist doch Tinneff, nutzloses Zeugs, Quatsch, Talmi; letzteres stammt allerdings aus dem Französischen, von Tallois-demi-or, Monsieur Tallois ein Erfinder hat "Halb-Gold" hergestellt, eine Kupfer-Zink Legierung, die mit Blattgold überzogen wurde.
So ein Schlamassel. Ein schlimmes Glück, schlimm-mazel. 
Hattest Du Zoff? Ein mieses Ende, mieser sôf.
Alles Stuss! Unsinn!

Einer meiner Lieblinge:
Wiki schreibt: Hals- und Beinbruch ist eine Verballhornung und stammt aus dem hebräischen hazlacha uwracha (= „Erfolg und Segen“). Dieser Glückwunsch wurde von Juden beim Abschluss eines Geschäfts in der jiddischen Form hazloche und broche ausgesprochen und von deutschsprachigen Zuhörern als Hals- und Beinbruch verstanden.


Ornstein, was ist mit Ihnen los?

© H. Studte



Montag, 7. Januar 2013

Robert Longo - Menschen in den Städten


MENSCHEN IN DEN STÄDTEN

Lithographien

Menschen in den Städten Serie: Ohne Titel III ©Robert Longo


Menschen in den Städten Serie: Helden ©Robert Longo





Alle aus Der Menschen in den Städten Serie ©Robert Longo

Sonntag, 6. Januar 2013

Max Herrmann Neisse & George Grosz



MAX HERRMANN NEISSE
1886-1941


Mir bleibt mein Lied, was auch geschieht,
mein Reich ist nicht von dieser Welt,
ich bin kein Märtyrer und Held,
ich lausche allem, was da klingt
und sich in mir sein Echo singt.
Ob jedes andre Glück mich flieht 
- mir bleibt mein Lied.



Dein Haar hat Lieder

Dein Haar hat Lieder, die ich liebe,
und sanfte Abende am Meer -
O glückte mir die Welt! O bliebe
mein Tag nicht stets unselig leer!


So kann ich nichts, als mattverlegen
vertrösten oder wehe tun,
und von den wundersamsten Wegen
bleibt mir der Staub nur auf den Schuhn.


Und meine Träume sind wie Diebe,
und meine Freuden frieren sehr -
Dein Haar hat Lieder, die ich liebe,
und sanfte Abende am Meer.



George Grosz 1925 Portrait Max Hermann-Neisse
 
 
Nacht im Stadtpark

Ein schmales Mädchen ist sehr liebevoll
zu einem Leutnant, der verloren stöhnt.
Ein Korpsstudent mokiert sich, frech, verwöhnt,
und eine schiefe Schnepfe kreischt wie toll.


Ein Refrendar bemüht sich ohne Glück
um eine Kellnerin, die Geld begehrt.
Ein Abgeblitzter macht im Dunkel kehrt,
und eine Nutte schwebt zerzaust zurück.


Zwei Unbestimmte prügeln einen Herrn.
Mit Uniformen zankt ein Zivilist.
Ein Jüngling merkt, dass er betrogen ist
und zwei Verschmolzne haben schnell sich gern.


Ein starker Bolzen und ein Musketier
sind ganz in eine graue Bank verwebt.
Ein Gent an einem Ladenfräulein klebt,
ein greiser Onkel schnuppert geil und stier.


Ein Weib mit bloßem Kopf wird sehr gemein,
ein Louis lauert steif und rührt sich nicht.
Ein Frechdachs leuchtet jeder ins Gesicht,
und ein Kommis umfasst ein weiches Bein.


Es raschelt in den Sträuchern ungewiss
und etwas tappt auf einen steifen Hut.
Die Bäche liegen still wie schwarzes Blut,
und die Bäume fallen aus der Finsternis.


Ein Johlen rollt die Straße hin und stirbt,
ein Wurf ins Wasser, irgendwo, ganz dumpf,
ein Mauerwerk wächst wie ein Riesenrumpf,
ein unbekanntes Tier erwacht und zirpt.


Zwei Männer flüstern einen finstern Plan,
ein welkes Wesen wehrt sich hoffnungslos,
ein Schüler hat ein Bahnerweib im Schoß,
im Teich zieht schwer ein ruheloser Schwan.


Und Sterne stolpern in die tiefe Nacht,
und Obdachlose liegen wie erstarrt,
und bleiern hängt der Mond, und hohl und hart
glotzt breit ein Turm, verstockt und ungeschlacht.
 
Max Hermann-Neisse


George Grosz Portrait Max Hermann-Neisse  

Zwischen dem New Yorker Metropolitan Museum of Art und den Erben von G. Grosz kam es zu einem Streit über die Besitzrechte an obigem Bild, der zu Gunsten des MOMA entschieden wurde:
Aus einem Brief von George Grosz an seinen Schwiegersohn vom Januar 1953: ,"Modern Museum stellte ein mir gestohlenes Bild aus (bin machtlos dagegen) sie habens von Jemand gekauft, ders gestohlen". 
Wenige Wochen zuvor hatte das MoMA das "Bildnis Max Hermann-Neisse" zum ersten Mal als Neuerwerbung gezeigt." 


"Nicht als ob ich mir … einbilde, je wieder nach Deutschland zurückkehren und … mich wieder in die alte Fettlebe setzen zu können", schrieb Max Herrmann-Neiße an George Grosz. "Nee, das will ich 1. gar nicht mehr, ich bin mit die Brieder nu beese, richtig beese, wie wir Schlesier sagen, 2. glaube ich nicht, dass es jemals wieder so wie früher wird, sondern höchstens eine andre Scheiße dort die jetzt herrschende ablöst."
M.H. Neisse in einem Brief an George Grosz aus dem Exil


Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen

 
Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
die Heimat klang in meiner Melodie,
ihr Leben war in meinem Lied zu lesen,
das mit ihr welkte und mit ihr gedieh.

Die Heimat hat mir Treue nicht gehalten,
sie gab sich ganz den bösen Trieben hin,
so kann ich nur ihr Traumbild noch gestalten,
der ich ihr trotzdem treu geblieben bin.

In ferner Fremde mal ich ihre Züge
zärtlich gedenkend mir mit Worten nah,
die Abendgiebel und die Schwalbenflüge
und alles Glück, das einst mir dort geschah.

Doch hier wird niemand meine Verse lesen,
ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht;
ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
jetzt ist mein Leben Spuk wie mein Gedicht.

Max Herrmann Neisse

Samstag, 5. Januar 2013

Ich heiße Johanna


Johanna. 
Eigentlich ein schöner Name. 
Gut, wenn ich niemals wieder hören müßte, daß ich gehe und niemals wiederkehre (Schiller) oder gefragt würde, ob ich küssen, pfeifen oder singen kann, letzteres infolge langjähriger Raucherei übrigens nur sehr mäßig, würde ich nichts vermissen, aber eigentlich mag ich meinen Vornamen. Und trotzdem ist es doch faszinierend, wie sehr so ein Name, den werdende Eltern, entweder durch sorgsames Studium unzähliger Vornamensbücher, mit Hilfe präziser Untersuchung der beidseitigen Familien-Genealogie, infolge unerwarteter Traum-Epiphanien, unter trendbewusster Vorausplanung, oder, wie in meinem Fall, in panischer postnataler Hilflosigkeit und daraus resultierender Verwendung familiengeläufiger Konstanten (Tante Hanne, ergo: Johanna; Onkel Stefan, ergo: Stefanie), festgelegt haben, einen irgendwie vordefiniert. Wäre ich eine andere, hätten meine Eltern mich Petra oder Diana oder Leokadia genannt? Wahrscheinlich hört man zeit seines Lebens kein Wort so häufig, wie den eigenen Vornamen, und, oder und die Artikel der, die, das ausgenommen. Und nun lebe ich mit der Betitelung Johanna Stefanie und kann nichts tun, wenn die Fernsehserie "Schwester Stefanie" mir einen, Gott sei Dank, den zweiten meiner Vornamen lebenslänglich unakzeptabel macht.
Namen lösen unbewusste Assoziationen aus, kenne ich einen blöden Egon, wird es ein neuer Egon schwerer bei mir haben. Aber im zarten Alter von sieben Jahren war ich in einen Erwin verliebt, also hat nun jeder neue Erwin einen Bonus. 
Vornamen sind häufig verbale Manifestierungen elterlicher Hoffnungen, was hätte Cosma Shiva gemacht, wäre sie fett und blond geworden? Eltern benennen ja eine noch unbekannte Person, das ist harter Tobak! 
In meiner Abiturklasse litt Lo Decker heftig unter ihrem Kosenamen Klodeckel, stellte sich Ralph Müller stets als Ralph mit ph M-u-e-ller vor und heute, wo individualisierendes Anderssein als Beweis von wirklicher Coolness gilt, müssen unschuldige Kleinkinder gebeugt unter der Last ihrer erwartungsgeschwängerten Betitelungen als Sean Connor oder Justin Leopold oder als Apple Blythe Alison (Paltrow) auf wackeligen Babybeinen ins Leben wanken.
Eltern denkt an eure Kinder, wenn ihr sie benennt. Bitte.

 
KANNST DU PFEIFEN JOHANNA?
Wer nicht musikalisch ist, hat wenig von der Welt,
weil doch die Musik fröhlich uns erhält.
Wer ein kleines Lied'l kennt und singt es einfach so,
bleibt am Morgen und am Abend froh.
So ein kleines Lied singt ein jeder mit.
Ja, was wär' das Leben ohne Lied?

"Kannst du pfeifen Johanna?" - "Gewiß kann ich das!"
"Pfeife weiter Johanna, denn Pfeifen macht Spaß.
Deine Lippen sind purpurn und deine Wangen rund.
Mädel, was hast du für einen wunderschönen Mund!
Kannst du pfeifen Johanna?" - "Gewiß kann ich das!"

"Kannst du singen Johanna?" - "Gewiß kann ich das!"
"Singe weiter Johanna, dein Singen macht Spaß.
Deine Lippen sind purpurn und deine Wangen rund.
Mädel, was hast du für einen wunderschönen Mund!
Kannst du singen Johanna?" - "Gewiß kann ich das!"

"Ißt du Pfirsich Johanna?" - "Gewiß tu' ich das!"
"Du mußt vorsichtig essen, Kind, du machst dich doch ganz naß.
Ja, es scheint, daß es dir gut schmeckt, denn du ißt ja furchtbar laut.
Ach Gott, ich armer Mann, ich bin gestraft mit so 'ner Braut."
"Iß' doch weiter Johanna, denn uns macht es Spaß."

"Kannst du gurgeln Johanna?" - "Gewiß kann ich das!"
"Gurgle weiter, Johanna, denn Gurgeln macht Spaß.
Hast im Hals du manchmal Schmerzen oder ist die Kehle wund,
dann nimm essigsaure Tonerde und gurgle dich gesund.
Gurgle weiter Johanna, ei fein kannst du das!"

"Kannst du meckern Johanna?" "Selbstverständlich kann ich meckern,
aber ich möchte mir ein für alle-allemal ausge...gebeten haben, daß Sie...
Diese Belästigungen zu unterlassen, mein Herr!"
"Mecker' weiter Johanna, dein Meckern macht Spaß."
"Es steht Ihnen ja frei zu gehen, wenn Ihnen mein Ton nicht passen sollte, mein Herr!"
Und sie meckert und meckert und hat ?nen großen Mund,
aber dazu hat das Mädel doch nun wirklich keinen Grund!
"Mecker' weiter Johanna!" "Ja, aber das ist doch die Höhe!"
Mäh, mäh, meck, meck, meck!

Aber jetzt, aber jetzt, aber jetzt!:

"Kannst du schweigen Johanna?" - "Gewiß kann ich das!"
"Schweige weiter Johanna, denn Schweigen macht Spaß."
"Ich, ich..." "Ssssscht!" 

Max Hansen & Edith Schollwer


AN JOHANNA

Oft hör’ ich deine Schritte
Durch die Gasse läuten.
Im braunen Gärtchen
Die Bläue deines Schattens.

In der dämmernden Laube
Saß ich schweigend beim Wein.
Ein Tropfen Blutes
Sank von deiner Schläfe

In das singende Glas
Stunde unendlicher Schwermut.
Es weht von Gestirnen
Ein schneeiger Wind durch das Laub.

Jeglichen Tod erleidet,
Die Nacht der bleiche Mensch.
Dein purpurner Mund
Wohnt eine Wunde in mir.

Als käm’ ich von den grünen
Tannenhügeln und Sagen
Unserer Heimat,
Die wir lange vergaßen -

Wer sind wir? Blaue Klage
Eines moosigen Waldquells,
Wo die Veilchen
Heimlich im Frühling duften.

Ein friedliches Dorf im Sommer
Beschirmte die Kindheit einst
Unsres Geschlechts,
Hinsterbend nun am Abend-

Hügel die weißen Enkel
Träumen wir die Schrecken
Unseres nächtigen Blutes
Schatten in steinerner Stadt.
Georg Trakl Gedichte 1912-1914

Wictionary schreibt:
Johanna wurde aus der Bibel übernommen, wo die griechische Form Ἰωάννα (Iōánna) vorkommt. Diese entstand als weibliche Form von Ἰωάννης (Iōánnēs), welcher sich wiederum von den hebräischen Namen יְהוֹחָנָן‎ (Yehōḥānān) oder יוֹחָנָן‎ (Yōḥānān) mit den Bedeutungen „Jehova ist gnädig“ und „die Gnade ist des Herrn“. ableitet. Johanna steht also für „die Gottbegnadete“. Die lateinische Form des Namens lautete zunächst Joanna, bis im Mittelalter das h analog zu demjenigen im Namen Johannes eingefügt wurde.

Freitag, 4. Januar 2013

Der Frohe Tote




DER FROHE TOTE

Schwer soll der Grund und reich an Schnecken sein,
Wo meine Gruft zu schaufeln ich begehre,
Dass dort zum Schlaf sich streckt mein alterndes Gebein
Und im Vergessenen ruht gleich wie der Hai im Meere.

Ich hasse Testamente, Grab und Stein,
Und von der Welt erbettle ich keine Zähre;
Nein, lieber lüde ich den Schwarm der Raben ein,
Damit er stückweis mein verwensend Aas verzehre.

O Würmer! Schwarz Geleit ohn Aug, ohne Ohr!
Ein Abgeschiedner kommt, der froh den Tod erkohr.
Ihr Söhne des Zerfalls, die dem Genuss leben,

Durch meine Trümmer kriecht mir reuelosem Mut
Und sagt mir: kann es wohl noch eine Folter geben
Für den entseelten Leib, der tot bei Toten ruht?

Charles Baudelaire 
aus dem Französischen von Wolf von Kalckreuth
 



DIE VERSTORBENEN LIEBENDEN
 Maler unbekannt um 1470  
Strasbourg, Musee de l'Oeuvre de Notre Dame


DER TOD DER LEBENDEN

So tief und weich, als ob es Gräber wären,
Laß unsre duftumhüllten Lager sein,
Und ringsum Blumen, die in schönren Sphären
Für uns erblüht in einem fremden Hain.
 
Laß unser letztes Glühen und Begehren
Gleich düsterroten Fackeln lodern drein,
Zwiefache Flammen, die sich spiegelnd mehren
In unsrer Doppelseele Widerschein.
 
Der Abend brennt in rosig-blauem Flimmer,
Ein letztes Glühen noch, dann schweigt für immer
Der lange Seufzer, schwer von Abschiedsqual.
 
Und lächelnd tritt ein Engel in das Zimmer
Und weckt zu neuem Leben, neuem Schimmer
Erloschne Spiegel, toter Kerzen Strahl.

Charles Baudelaire 

 
Frida Kahlo Mädchen mit Totenmaske (Sie spielt allein)
1938


Donnerstag, 3. Januar 2013

Theater hat auch frei Schaffende


Lass doch die Zukunft schlafen, wie sie es verdient.
Wenn man sie nämlich vorzeitig weckt,
bekommt man dann eine verschlafene Gegenwart.

Franz Kafka

FREIBERUFLER WIE STOLZ DAS KLINGT!

Ich bin freischaffend, selbstständig, oder, wie ich gerade durch den Duden gelernt habe, selb-ständig. (Selb-ander heißt allerdings "zu zweit", also man selbst mit jemand andrem, aber in unserem Zusammenhang bedeutet es nur, dass wir in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit halt auch am "st" sparen.)
Selbst(st)ändige ist meine Identifikation als zu besteuernde Person deutschen Rechts. Ich stehe also auf meinen eigenen Füßen, bin eigenverantwortlich, mein eigener Herr, respektive mein eigenes Frauchen. Wenn ich unverschämte Schönfärberei betreiben würde, könnte ich auch noch frei, souverän, nichtweisungsgebunden anführen. Ha! .... Ha!
Gut, gut, die Probenzeiten sind vorgegeben, das Budget ebenso, aber meine Gedanken sind es nicht. Obwohl irgendwo in all meinen Theaterverträgen steht, dass der jeweilige Intendant Änderungen verlangen, bzw. vornehmen kann, wenn er es für künstlerisch notwendig ansieht. Ist mir zwar noch nicht passiert, aber es wäre möglich. O Grauen!
Niemand bezahlt mir Urlaubsgeld, und schon gar kein Weihnachtsgeld. Niemanden interessiert, ob ich schon 10, 20 oder 100 Jahre Theaterschaffender bin. (Wer wird mir ein Blumengebinde zum anstehenden 40. Bühnenjubiläum überreichen? Wer?) Wenn ich krank werde, ist das eher ungünstig. Dritte Dienste, Überstunden, das gesamte Vokabular gewerkschaftlicher Verabredungen betrifft mich nicht. Und wenn eine Weile keine neuen Angebote eintrudeln, bildet sich ein wabernder, unruhiger Klumpen von Selbstzweifeln und Liebgehabtwerdenwollen unter den Bronchien, aber kommen dann ein paar auf einmal, kaufe ich Schuhe, Klamotten, Zeugs halt, das ich nicht wirklich brauche, aber doch gern hätte. Es geht mir großartig, aber ich weiß nie wie lange noch. Die "Ossis" unter euch werden verstehen, dass Zukunftsungewissheit, neben der Vorfreude auf mögliche Überraschungen, auch existentielle Ängste auslöst. Hey, wir stammen aus einem Land, in dem man mit 25 die Mitteilung über die zu erwartende Rentenhöhe erhalten hat. Mannomann, habe ich mich an dem Abend betrunken. 25 und alles war bereits unumstößlich, Unfälle oder Tod nicht mit einberechnend, war ich praktisch bereits berentet.


Und deshalb, aber nicht nur deshalb, bin ich froh, dass ich unfrei freischaffend bin. Ich kann, auf eigenes Risiko, NEIN sagen. Ich kann, wenn ich es irgendwie finanzieren kann, ein paar Monate frei nehmen. Ich kann, einem Intendanten, der so dumm ist, dass verbale Kommunikation unmöglich ist, durch grandioses, würdevolles Verlassen des Intendanzbüros mitteilen, dass ich ihn für einen Idioten halte. Ich weiß nicht, was kommt, aber manchmal, bisher sogar meistens, kommt etwas Spannendes. Ich bin panisch und freudvoll gezwungen, offen für Veränderungen zu bleiben.

Dunkle Zukunft

Fritz, der mal wieder schrecklich träge,
Vermutet, heute gibt es Schläge,
Und knöpft zur Abwehr der Attacke
Ein Buch sich unter seine Jacke,
Weil er sich in dem Glauben wiegt,
Daß er was auf den Buckel kriegt.
Die Schläge trafen richtig ein.
Der Lehrer meint es gut. Allein
Die Gabe wird für heut gespendet
Mehr unten, wo die Jacke endet.
Wo Fritz nur äußerst leicht bekleidet
Und darum ganz besonders leidet.
Ach, daß der Mensch so häufig irrt
Und nie recht weiß, was kommen wird!

Wilhelm Busch

Mittwoch, 2. Januar 2013

Eine kleine Bitte



WINTERS ABSCHIED

Winter,  ade!
Scheiden tut weh.
Aber dein Scheiden macht,
Dass jetzt mein Herze lacht.
Winter, ade!
Scheiden tut weh.
    
Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Gerne vergess'  ich dein,
Kannst immer ferne sein.
Winter, ade!
Scheiden tut weh.
    
Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Gehst du nicht bald nach Haus,
Lacht dich der Kuckuck aus.
Winter, ade! 
Scheiden tut weh.

Hoffmann von Fallersleben


Mit hoffnungsvollen Grüssen an Ö.!

 

Montag, 31. Dezember 2012

Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger


Ihr werdet ja schon bemerkt haben, dass ich eine heftige Schwäche für Großfilme, unfeiner Blockbuster genannt, habe. Hier ist wieder einer, aber einer von anderer Art.

Dieser Film von Regisseur Ang Lee, der auch Sinn und Sinnlichkeit, Der Eissturm, Brokeback Mountain und aber auch den Hulk gedreht hat, und der auf einem Roman des Kanadiers Yann Martel basiert, hat mich richtig überrascht. Das Buch hatte ich nicht zu Ende gelesen, die meisten Kritiken des Filmes waren überschwenglich, aber ein Freund kam genervt und ermüdet aus dem Kino und klagte über angestrengten Tiefsinn.

Was ich dann gesehen habe, war eine ganze, fremde Welt. Gänzlich unnaturalistisch, die Farben überirdisch leuchtend, die Perspektiven präzise irreal, wie in Renaissancegemälden, theatralisch gespielt und, in tiefem meinerseitigen Respekt, von einer technischen Perfektion, die mich kinderstaunen macht. Nichts ist echt, authentisch, kein lebender Tiger, kein Meer, kein Himmel, alles ist Kunst-Werk, nur die menschlichen Darsteller werden wirklich nass. Und der Film behauptet auch in keiner Sekunde etwas anderes zu sein, als künstlich, nicht die Wirklichkeit imitierend, sondern eine, die eigenen Visionen befördernde, schaffend.

Suraj Sharma in Life of Pi
Photograph courtesy 20th Century Fox Film Corporation.


Der Held, ein sehr junger indischer Hiob (Pi Patel - Suraj Sharma) erzählt zwei Geschichten über seinen Schiffbruch, sein Märtyrium. Eine lange, bildreiche, grausam doch voller phantastischer Hoffnung und mystischer Bildhaftigkeit, mit Tiger und Zebra und menschenfressenden Wunderinseln, und eine andere, viel knapper, fast statisch, von realistischer Brutalität und Egozentrik, von Mord und Jähzorn.
Und gegen Ende fragt er den, dem er seine Geschichten "berichtet" hat:
- Welche Geschichte gefällt Dir besser?
- Die, mit dem bengalischen Tiger.
- Und so ist es eben auch mit Gott.