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Sonntag, 5. November 2017

Das Museum Barberini zeigt DDR Kunst und Kleist ist schwer

Nimm diesen Kuß! – Und bohrten gleich zwölf Kugeln

Dich jetzt in Staub, nicht halten könnt ich mich,
Und jauchzt und weint und spräche: du gefällst mir!
Natalie in H.v.Kleists Prinz Friedrich von Homburg im 4. Auftritt

HINTER DER MASKE. KÜNSTLER IN DER DDR
Museum Barberini 
29. Oktober 2017 bis 4. Februar 2018
Vorrausgeschickt, man sollte sich die diese Ausstellung von oben nach unten ansehen, im zweiten Stock beginnend. Ich hatte den Tipp von einem Facebook-Freund. Ganz oben drei Räume mit Werken, die einst im Palast der Republik hingen. Friede seiner häßlichen, aber durchaus berlintauglichen Asche. 
Das ist ein äußerst kluger Dreh, denn hier hängt das staatstragende, sich ihm anschmiegende, aus Diensteifer gänzlich verkrampfte Grauen. Für jeden, dessen visuelles Gedächtnis Verblassungen aufweist eine exzellenter Auffrischer. Grauenhaft. Traurig. Oder, wie bei Tübke in der Historie bis zur Unkenntlichkeit untertauchend.
Danach wird es besser, viel besser! Immer mal wieder zwischendurch altbekannte DDR-Arbeiter-Portraits, aber eben auch Frechheiten, wildes Abweichlertum, schlaues Umfahren und einfach großartige Werke. 
Trak Wendisch Der Seiltänzer
 
Der Besuch lohnt sich. Und das Museum ist leicht zu erreichen, erst die S-Bahn und dann nur 700 Meter Fußweg. Wenn ich denke, wie viele hunderte Stunden ich bei DEFA-Drehs um dieses unüberbrückbare West-Berlin herumgefahren bin! Der Bau ist wirklich schön. Friedrich der Große hat ihn 1771/72 als herrschaftliches Haus in Auftrag gegeben, 1945 wurde er durch Bomben zerstört. Hasso Plattner, ein enorm reicher Software-Unternehmer, gibt einen Teil seines Geldes für sehr nützliche Dinge her, wie z.B. den Wiederaufbau eben dieses Hauses. Er ist ein Mäzen der Wissenschaft und der Künste. Wiki definiert das Wort so: "Ein Mäzen, auch Mäzenat, weiblich Mäzenin bzw. Mäzenatin, ist eine Person, die eine Institution, kommunale Einrichtung oder Person mit Geld oder geldwerten Mitteln bei der Umsetzung eines Vorhabens unterstützt, ohne eine direkte Gegenleistung zu verlangen. Die Bezeichnung Mäzen leitet sich von dem Etrusker und Römer Gaius Cilnius Maecenas her, der in augusteischer Zeit Dichter wie Vergil, Properz und Horaz förderte." Allerdings was heißt, dass keine direkte Gegenleistung erwartet wird? Steuererlässe? Vielleicht ist er einfach nur ein anständiger Mann mit mehr Geld, als statthaft ist.

Dann haben wir uns im Hans-Otto-Theater in einer 17.00 Uhr Vorstellung den "Prinzen von Homburg" von Kleist angesehen und wiedereinmal bin ich in den Riss zwischen den Generationen gefallen. Ich sah die private Not eines hochsensiblen Hysterikers und hoffte auf den Schrecken eines Menschen, der sich seiner selbst sicher sein konnte, bis ihm dies nicht mehr möglich war. Kleists Figuren, so lese ich es, wissen mit felsenfester Sicherheit wer sie sind, bis ihr Herz, Unterbewußtsein, Magen ihnen mitteilt, dass sie einem Irrtum unterliegen. Sie kämpfen dagegen an mit aller Kraft. Aber am Ende siegt immer die Liebe und der Tod. Amit Epstein hat dazu die mit großem Abstand häßlichsten Kostüme meiner bisherigen Theatererfahrung entworfen.  
Das Leben nennt der Derwisch eine Reise,
Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen
Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter.
Ich will auf halbem Weg mich niederlassen!
Wer heut sein Haupt noch auf der Schulter trägt,
Hängt es schon morgen zitternd auf den Leib,
Und übermorgen liegts bei seiner Ferse.
Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch,
Und über buntre Felder noch, als hier:
Ich glaubs; nur schade, daß das Auge modert,
Das diese Herrlichkeit erblicken soll.
H.v.Kleist Prinz Friedrich von Homburg 3. Auftritt 

Donnerstag, 14. September 2017

Kulturelle Wochenübersicht September in Berlin - Bisky, Milo Rau & Pierre Sanoussi-Bliss

ARS ELECTRONICA im Volkswagen Group Forum in der Friedrichstrasse. Nach außen merkwürdiger Weise als Financial Art beworben, in der Tat aber eine faszinierende Sammlung von elektronischer Kunst. Hingehen und gucken, und dann die herumstehenden Männer im Anzug nach Erklärung fragen. Die Verknüpfung von neuester digitaler und elektronischer Forschung und Kunstwollen erschafft sehr überraschende Werke.

500 Minipinguine, die sich nach einem komplizierten Computerprogramm einander zu- und voneinander abwenden, einzeln und in Gruppen, choreographierte Soziologie. Und wenn man einem bestimmten Punkt davorsteht, bilden die weißen Bäuche der Pinguine plötzlich die eigene Silhouette. 
Dreidimensionale Tanzbewegungen durch einen Lichtstrahl auf ein scheinbar willkürlich geformtes Gewebe von Glasfaserdrähten projeziert. 

Hingehen und gucken.

http://www.drive-volkswagen-group.com/ausstellungen/

TRILEMMA - NORBERT BISKYs Bilder in der ehemalig katholischen Kirche St. Agnes, heute Galerie König - 
die Buntheit irritiert mich und es gibt zu viele athletische nackte Männerkörper, die mich (unfreiwillig) den Olympiafilm von Leni Riefenstahl assoziieren lassen, aber die Verletztheit aller Figuren, der verzweifelte Versuch der Zerstörung der eigenen malerischen Perfektion sind irgendwie beeindruckend und vielleicht braucht es bei solchem Schmerz heutzutage der poppigen Farben. 
Und die kahlen Räume der ehemaligen Sankt Agnes Kirche sind toll, Brutalismus vom Feinsten.



https://www.morgenpost.de/kultur/article211861633/Angriff-mit-Farbe.html

https://de.wikipedia.org/wiki/St._Agnes_(Berlin) 

WEIBER - SCHWESTERN TEILEN. ALLES. von Pierre Sanoussi-Bliss im Babylon -Ein Film mit einem vollständig von Pascal von Wroblewsky gesungenen Soundtrack, geil.

Drei tolle Weiber: Winnie Böwe, Floriane Daniel, Astrid Ann Marie Pollmann und, ja und Margit Bendokat. Ich könnte Hymnen auf sie singen, mach ich aber nicht, weil sie das doof fände. Ein paar gute Männer spielen natürlich auch mit! Viel gelacht hab ich, und würde gerne erklärt bekommen, warum gerade dieser Film keinen Verleih findet. Nur weil er nicht mit öffentlicher Filmförderung produziert wurde? Dafür hat der Drehbuchautor und Regisseur so sehr an seine Geschichte geglaubt, dass er Freunde und Bekannte und völlig Fremde um Finanzierungshilfe gebeten hat und sicher auch einiges an eigenem Geld hineingesteckt hat. Er ist ein Risiko eingegangen, das ist großartig! Noch am 15., 16. und 20. September im Babylon zu sehen!



Der Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=aPagLIas1pc 

MITLEID - DIE GESCHICHTE DES MASCHINENGEWEHRS von Milo Rau in der Schaubühne

Ich bin verwirrt. Lange dachte ich, ich in bin Zuschauer bei einem dieser Volkshochschul-Reisebericht - Vorträge, mit Diashow und Soundtrack, nur das die Reise eine erfundene ist. Aber dann ist was passiert, eine Verdrehung, Verschärfung, Verkantung. Und ich hab angefangen, zu denken.
Ursina Lardi im adretten himmelblauen Kleid, so blond, wenn auch gefärbt, so schön, so nordeuropäisch - ihre eigenen Worte - und Consolate Sipérius, so klein, so schön, so sehr dunkel, mit einem Wunderhintern, reden, spielen mit der Vortäuschung von Authentizität. Und sie kriegen mich. Ich hätte das vollgemüllte Bühnenbild nicht gebraucht, Symbol tut wohl, nur ihre Worte, ihre Mimik, ihre Gesten videovergrößert, Töne, Beethoven und meinen Kopf.
Wo liegt die Grenze zwischen Mitleid und schlechtem Gewissen. Was richtet Mitleid an, das etwas ganz anderes als Mitgefühl ist? Ich habe in letzter Zeit viel über "white privilege", das Privileg ein Weißer/eine Weiße zu sein, gelesen, und heute Abend habe ich ein wenig verstanden, was damit gemeint sein könnte.
Das Fazit: "Ich bin auch nur ein Arschloch." Und weil der Abend allen Farben menschlicher Haut diese Grundwahrheit zugesteht, ist er viel klüger, als ich zuerst vermutet habe.


http://www.schaubuehne.de/de/produktionen/mitleid-die-geschichte-des-maschinengewehrs.html/ID_Vorstellung=2545

Nun morgen noch ROMA ARMEE von Yael Ronnen im Maxim Gorki Theater und Samstag im ehemaligen Schokoladen Alien - a body modification und dann gehe ich selber wieder ans Probieren. Ich bin gut dran.

Donnerstag, 31. August 2017

Ein Traum & ein Albtraum

Ein Freund von mir hat einen Traum: der Louvre wird, nur für ihn, eines Nachts geöffnet werden, kein Mensch außer ihm schaut. Er und "seine" Bilder sind allein miteinander. Der "Da Vinci Code" ohne Leichen, Tom Hanks und religiöse Verschwörungstheorien, ein einsamer und darum vollkommener Genuß.

Diesen Traum habe ich vom Prado in Madrid, dem Kellergeschoß, wo die "Schwarzen Bilder" von Goya hängen. Niemand quatscht, keiner potographiert, die Sicht ist frei, ohne Reflexion von Tageslicht. Keiner latscht ins Bild. Es ist still. Ich habe Zeit für "meine" Bilder: den ertrinkenden Hund; den Esel, der, während der Riese über das Land wütet, stille steht; die einander erschlagenden Brüder. Bei meinem Besuch vor einigen Jahren zur üblichen Öffnungszeit sächselte ein Reiseleiter durchdringend, dass ihm bei diesen Bildern regelmäßig ein kalter Schauer über den Rücken liefe. Recht hat er, aber ich wollte es nicht hören.

Einmal hatte das Pergamon Museum für eine vielbesuchte Ausstellung länger geöffnet und durch einen glücklichen Zufall war die Meldung darüber nicht rechtzeitig an die Presse gelangt. Da lief ich dann, allein durch das Istar-Tor und am Pergamon-Altar vorbei, allein, in halberleuchteten Räumen, wie zurückversetzt, meine Phantasie hatte Freilauf.

Nun zum heutigen Thema: ein Bekannter, Elementarteilchenphysiker, schon der Titel klingt für mich unglaublich romantisch, besuchte eine Konferenz in Paris, Stephen Hawking würde sprechen. Die Differenz zwischen Mann und computergenerierter Stimme, dem eingeschränkten Körper und seiner digitalen Äußerung ist verwirrend, ändert aber nichts an der aufregenden Intelligenz des Redners. Später essen einige Konferenzteilnehmer gemeinsam zu Abend. Ein Anruf. Für Hawking hat der Louvre nachts seine Türen geöffnet, die Konferenzteilnehmer werden eingeladen, teilzunehmen. 
FAST ALLEIN - IM LOUVRE - DES NACHTS.


Im Louvre vor dem Floß der Medusa, nachts um halb elf. Links und rechts
von Hawking seine beiden Postdocs/Betreuer. Den Mann rechts davon im
weißen Anzug deckt schon ein Jahr lang der Rasen (er ist am 25.8.2016
gestorben): Jim Cronin, Nobelpreis 1980 für die Entdeckung der
CP-(Charge-Parity) Verletzung. Und auch der junge rechts davon, Pierre
Binetruy, ebenfalls ein wunderbarer Physiker, ist inzwischen tot. Nur
Steven Hawking lebt unverdrossen weiter -- und wird wahrscheinlich auch
mich noch spielend überleben.
C.S.


DAS FLOSS DER MEDUSA 
von Théodore Géricault, 1819



WIKI schreibt dazu: 1816 hatte England die während der Napoleonischen Kriege besetzte westafrikanische Kolonie Senegal an Frankreich zurückgegeben. Dies war für die französische Regierung der Anlass, vier Fregatten mit Infanteristen zum Schutze des überseeischen Besitzes sowie Verwaltungsbeamten und Forschern nach Afrika zu entsenden. Die Fregatte Méduse gehörte diesem Konvoi an. Unter den annähernd 400 Personen an Bord des Schiffes befand sich auch der neue Gouverneur des Senegal, der Royalist Julien-Desiré Schmaltz. Die Medusa stand unter dem Kommando des Kapitäns Hugues Duroy de Chaumareys, der, vor Napoleon geflohen, seine Karriere nicht auf See, sondern 25 Jahre lang in Emigrantensalons von Koblenz und London gemacht hatte. Nachdem das Schiff auf Grund gelaufen und das Wiederfreikommen misslungen war, befahl Kapitän de Chaumareys den Bau eines Floßes aus den Masten und Rahen der Medusa, da für die 400 Menschen an Bord nur sechs Boote vorhanden waren. Das Floß mit den beachtlichen Ausmaßen von 8 × 15 Meter musste 149 Menschen aufnehmen. Die Boote sollten das Floß an Land ziehen. Nach kurzer Zeit kappte man die Seile. Auf dem Floß brach schnell Kannibalismus aus, so dass nur noch 15 Personen gerettet werden konnten, von denen dann jedoch fünf weitere starben.

Montag, 31. Juli 2017

Küsse küssen, Küsse sehen.

© Michael Dressel
 
Bröhan-Museum
Der Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan
vom 15. Juni bis zum 3. Oktober 2017

Eine kleine feine Ausstellung. Die großen, berühmten Sachen hängen hier nicht, aber dafür eine leicht unausgewogene, doch unterhaltsame Mischung von Kunst, Dekorativem und Kitsch. Todesküsse, Kussmünder, ein Sofa in Kussmundform,

Der Kuss. Wiki definiert ihn kurz und unerotisch: Ein Kuss ist ein oraler Körperkontakt mit einer Person oder einem Gegenstand. Die wissenschaftliche Erforschung des Kusses nennt man Philematologie von gr. φίλημα, phílēma.

Ich habe noch keinen Kussforscher getroffen. Was möchtest Du werden, wenn Du mal groß bist? Philematologe.

Ekkachai and Laksana Tiranarat aus Thailand halten momentan den Weltrekord im Dauerküssen. Sie küssten sich (ohne Pause) 58:35:58 Stunden lang.

MAC verkauft den einzigen mir bekannten Lippenstift, der für Raucher & Raucherinnen geeignet ist, der wirklich 12 Stunden auf den Lippen bleibt, ohne sie auszutrocknen. Sie hatten die Linie, oh Schreck, schon eingestellt, haben sie aber, nach heftigen Protesten, wieder ins Programm aufgenommen.

kussecht
kussechter
am kussechtesten

Philemaphobie ist die Angst vorm Küssen.

http://lexikon.stangl.eu/15480/philematologie/

 
Leo Putz
HERBSTSTURM
1900

...
Ich will dirs erzählen:
Der Kuß ist ein Lied,
ein wortloses Lied;
ein Kuß – der geschieht!
Es löst das Solo zweier Seelen
in vollen Mollakkorden sich:
Küsse mich ........
Küsse mich - wie das süß -
Küsse mich, Kind, auf den Mund ...
Ja so ein Kuß verrät das und dies ...
Küsse die Lippen mir wund ...

Küsse mich lange, minutenlang,
küsse die Wangen mir rot.
Jetzt bin ich doch schon vor Liebe krank –
küß mich zu Tod ...

Rilke, Die Gedichte. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1986. Das Liebes-Poetische Manuskript No. 3. Kuß-Gedichte









Axel Poulsen
ERSTE LIEBE
1913

In der Ausstellung nicht zu sehen, aber so schön!


Edvard Munch
DER KUSS
1897

Dienstag, 15. November 2016

Hieronymus Bosch - Kupferstiche in der Nationalgalerie

Bos inventor
Erfunden von Bosch

In der kleinen feinen Ausstellung habe ich ein neues Wort gelernt: boschesk. 
Macht Sinn, der Mann hat die Personage unserer apokalyptischen Träume eralbträumt, während er in seiner kleinen Bürgerstadt in Nordbrabant ein für diese Zeit ungewöhnlich friedvolles Leben führte. Andre, nach ihm Kommende zitieren ihn oft. Pieter Bruegel der Ältere, Antes Kopffüßler? Die Geschöpfe von J. F. Sebastian in Blade Runner & jede Menge amerikanischer Splatterfilme. 
Immer wieder auf meinen Wegen begegne ich seinen Phantasmagorien und immer stehe ich hypnotisiert vor ihnen. Da sind die Monster, aber auch viel metallene Rüstungen, Helme Käfige und Türme, Feuerbrände, Nackte, die sich unter Rasen verstecken.
Zum Beispiel im unteren Bild, das eine Auge des Riesenschiffkopfes ist ein bleiverglastes Fenster, durchbrochen von einem Feuereimer, dessen Rauch den Fisch obendrüber räuchert. 

Die Versuchung des Heiligen Antonius
Clementine Vulgate Psalm 33
Groß sind die Leiden des Gerechten: aber der Herr errettet ihn.
Great are the troubles of the righteous: but the Lord delivereth him out of all.

Die Wirkung beruht darauf, dass diese Wesen als funktionierend wahrgenommen werrden, sie sind ja ganz plausibel zusammengesetzt aus Schnäbel, Krallen, Flügeln, Federn und man könnte sich vorstellen, wenn man vor diesen Monstern sieht, die könnten leben, die könnten funktionieren. Und das ist das, was so eine besonders unheimliche Note in diese Darstellungen gibt.
Michael Philipp

Nelly Sachs

DORNENGEKRÖNT
Hieronymus Bosch

Immer wieder
durch einen verhexten Handgriff
den Nabel der Liebe gesprengt.
Immer wieder
der Folterer über schwanengebogenem Rücken
die Geißel lange schon im Traume erprobt.


Immer wieder
die zerpeitschte Aura
über dem entblätterten Leib.


Immer wieder
die Sehnsucht, aller Gräber Frühlingsknospe
mit dem Steinzeitfinger zur Träne zerdrückt.


Immer wieder
die Blutschlange züngelnd
im Hautwams der Henker.


Immer wieder
die Blicke des Opfers zugedeckt
mit Gott - Auszug - Asche -


(aus: "Und niemand weiß weiter". 1957)


Der Wald hat Ohren, das Feld hat Augen

Donnerstag, 10. November 2016

3 Tage im November

Drei Tage Paris - Montagmittags bis Donnerstags am Vormittag. 

Charles De Gaulle, der Flughafen ist häßlich, grau, unübersichtlich, Orly viel angenehmer. 
Die Stadt ist sich gleich und anders. Junge schwarzgekleidete Uniformierte mit geladenen Maschinenpistolen im Anschlag stehen, lustig schwatzend vor der Comédie-Française, beim Verlassen der Metro wird meine Tasche geprüft, an Schuleingängen hängen Zettel mit Terrorwarnungen, die Hotels klagen über fehlende ausländische Gäste.

Sofort nach meiner Ankunft Besuch einer Ausstellung in der ehemaligen Oberschule von Patrice Chéreau. Alte Männer schwärmen von ihren wilden Sechzigern, nicht dem sechzigsten Jahrzehnt ihres Lebens, sondern den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, das kenne ich doch irgendwoher? Altachtundsechziger nerven. Ich bin ein Altachtundsiebziger. 
Aber die Photos zeigen junges Theater, irgendwo zwischen Brecht, RAF und Moliere. Seine Arbeiten kenne ich leider nur von Aufzeichnungen, und natürlich seine Filme. Schade.
Noch heute sind diese Schulen, Kaderschmieden der Elite Frankreichs, eines adelsfreien Klassensystems.

An diesem ersten Abend in der Comédie-Française "Die Verdammten" nach dem Drehbuch von Lucino Viscontis Film in der Regie von Ivo van Hove.

https://www.youtube.com/watch?v=MFRZZ2k2iGk

Ich hatte so Vieles, ausschließlich Begeistertes, über den Regisseur gehört und war froh, eine der schwer umkämpften Karten zu bekommen. Meine Freundin liebt das Namedropping und so verhalf der Name meines Ahnen zu zwei Freikarten. Warum nur? Ist mir noch neu.
Ein belgischer Regisseur inszeniert einen italienischen Text über den Untergang einer deutschen Industrialistenfamilie während der Nazizeit mit französischen Schauspielern im Frankreich von heute. Die Europäische Union als realer Theatervorgang.
Er ist ein toller Handwerker. Video, Soundscape, Arrangements, choreographierte Umbauten, das Spiel hinter der Bühne und auf ihr verflochten, verwoben - perfekt. Die Spieler sind tief versunken in ihren Figuren, solch psychologisch bestimmtes Theater habe ich lang nicht mehr gesehen. Die Umbauenden, ganz in schwarz, funktionieren perfekt und werden doch nie Teil der Geschichte.
Wenn der SA-Sohn mit seinem Liebhaber bayrische Tänze tanzt und auf der Leinwand synchron viele, viele, andere Männer mittanzen wird es großes Theater. Schüsse fallen, Schnitt, Blutlachen sind zu sehen, während auf der Bühne immer noch zwei nunmehr nackte Männer tanzen. Der Röhm-Putsch gänzlich überhöht. 
Keine Minute ist langweilig und doch, scheint mir, als sei der Regisseur der erotischen Faszination der Dekadenz, die bei Visconti immer von gefährlicher Wut begleitet wird, letztendlich unterlegen. Zu schön sind die Untaten, zu leidend die Täter. Was will er mir erzählen? Unverschämte und doch erlaubte Frage. Es bleibt die große Form. 
Was ist es, das Lust an Destruktion so anziehend macht? Katholizisismus? Homoerotsche Männergemeinschaft?

Einen Tag später: im Centre Pompidou eine Magritte-Ausstellung: La trahison des images - Der Hochverrat der Bilder. Was für ein großer Maler und was für eine pädagogisch gutgemeinte öde Ausstellung. Die Bilder kämpfen geradezu gegen die detaillierten Erklärungsversuche. Alles ist logisch, philosophisch nachvollziehbar und biographisch abgesichert. Die Bilder siegen, aber nur knapp.


Das Rote Modell 1935

Am 9. November 2016 gewinnt Donald Trump die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, kurz der USA. Am 9. November, für uns Deutsche eh schon ein vollbeladenes Datum. Mir ist schlecht. Ich begreife wieder einmal wie kurzsichtig meine politischen Hoffnungen sind. 1989 habe ich nicht mit der Wiedervereinigung gerechnet und jetzt nicht mit der Kraft des vollendeten, schamlosen Populismus. 50 Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind nicht zur Wahl gegangen. 50 Prozent. Wie entsteht solche schreckliches Desinteresse? Er will eine Mauer, eine Mauer!, ich bin ostdeutsch und mauergeprägt, eine Mauer Richtung Mexiko bauen, er will, dass Mexiko diese Mauer bezahlt, und doch wählen ihn 23 % der mexikanischen Bevölkerung der USA? Was ist das? Er ist Isolationist und Protektionist, oder einfach nur jemand, der immer das sagt, was gehört werden will. Er ist unberechenbar und bald im Besitz der atomaren Codes, Herr des roten Knopfes, der unser aller Leben auslöschen kann.

http://www.independent.co.uk/news/world/americas/us-elections/donald-trump-refuses-to-rule-out-using-nuclear-weapons-in-attack-on-europe-a6961101.html 

Und dann, gestern Abend, nach Einkaufstour und sehr französischem Mittagessen, ein Besuch in der Cartoucherie der großen Arianne Mnouchkine - eine lange U-Bahnfahrt, dann ein Bus, Ankunft in der ehemaligen Munitionsfabrik, die Mnouchkine und unzählige Mitarbeiter in ein Theater verwandelt haben, in dem sie leben und arbeiten. Weil ich dieses Modell so liebe, fällt es mir schwer, zu sagen, das der Abend, eine erste Vorführung vor zahlendem Publikum, die Premiere ist erst in zwei oder drei Wochen, gräßlich kitschig und verharmlosend war. 

Drei Tage Paris und die Welt ist eine andere.

Montag, 8. August 2016

WIEN 2 - Vor und hinterm Heldenplatz

An einem der Eingangstore zum Heldenplatz:

 
HELDENPLATZ
Am 15. März 1938 verkündete Adolf Hitler vom Balkon der Neuen Burg aus den versammelten Wienern auf dem Heldenplatz den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Ernst Jandl beschreibt das so:

der glanze heldenplatz zirka
versaggerte in maschenhaftem männchenmeere
drunter auch frauen die ans maskelknie
zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick
und brüllzten wesentlich.

verwogener stirnscheitelunterschwang
nach nöten nördlich, kechelte
mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme
hinsensend sämmertliche eigenwäscher.

pirsch!
döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz
mit hünig sprenkem stimmstummel.
balzerig würmelte es im männechensee
und den weibern ward so pfingstig ums heil
zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte.

Ernst Jandl

Und gleich hinterm Heldenplatz ist das Museumsquartier mit dem Leopoldmuseum:
 
EGONSCHIELE EGONSCHIELE EGONSCHIELE EGONSCHIELE EGONSCHIELE

 Vestibül des Leopold-Museums mit Licht/Schatten Effekten

Schwarzhaariges Mädchen mit hochgeschlagenem Rock 1911

 Selbstportrait ???

Osen 1910 Mit angelegten Handspitzen

LINKS UND RECHTS
 


 
RECHTS


Wally Neuzil und Egon Schiele 1912

Haus am Fluß 1915
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Gustav Klimt Sehr große Pappel am Attersee 1902/03

KLEINER NACHTRAG ZU GESTERN
 
Ehrentafel für die im Kampf gegen die Türken gefallenen ehrsamen Wiener Handwerker

Und am Rande:

Ein Orientteppichladen, der wie ein orientalischer Teppichladen aussieht.

Sonntag, 7. August 2016

WIEN 1 - zu viel Barock, zu viel Pomp, aber doch schön.


Ein mit Blumen bemaltes Haus in Wien

Blumen in Wien
 
Im Kunsthistorischen Museum


Markgraf Albrecht von Brandenburg, Herzog von Preussen (1490-1568)
Norddeutschland um 1526, Eisen und Leder
Eine Rüstung mit Faltenrock, Blähbrust, Entenschuhen, Vogelkopf und übergroßen Handschuhen - Alexander McQueen hätte seine Freude gehabt! Cranach der Ältere hat ihn gemalt, den Markgrafen, der vielleicht mal in der lustigen Rüstung steckte und so sah er aus:

Wiki schreibt: Albrecht von Preußen (* 17. Mai 1490 in Ansbach; † 20. März 1568 auf der Burg Tapiau) war der erste Herzog in Preußen. Der Prinz von Ansbach aus der fränkischen Linie der Hohenzollern, seit 1511 Hochmeister des Deutschen Ordens, trat 1525 zur Reformation über, säkularisierte den Deutschen Orden in Preußen und wandelte den katholisch dominierten Ordensstaat in das lutherische, unter polnischer Lehenshoheit stehende Herzogtum Preußen um, das er bis zu seinem Tod regierte.
Was für eine Vorstellung, der Mann, Herzog von Preussen, Lutheraner, Staatsmann, scheinbar mir schwerem Schielfehler und recht stämmig, presst sich in diese modische Rüstung. Um was zu tun? Krieg zu führen? Cool zu wirken?

Jacobus Vrel
Frau am Fenster 1654
Ganz heutig. Schön, oder?

Hans von Aachen 1604
Erzherzogin Anna, Tochter von Erzherzog Ferdinand II.Landesfürst von Tirol
Gemahlin von Kaiser Matthias
Man beachte die zarten roten Ohrenaufsätze!

Pieter Aertsen
Marktszene um 1560/65
Erinnert mich stark an sozialistisch/realistische Arbeitergemälde der DDR
Wir sind stolz! Mehr Hühner! Mehr Brot! Vorwärts!

Albrecht Dürer 1526
Ein Bildnis des Johannes Kleeberger aus Nürnberg [in seinem] Lebensalter von 40 Jahren
Den habe ich doch gerade heute in einem Cafe gesehen!

Bernardo Strozzi 1582-1654
Predigt Johannes des Täufers
Keine Predigt, eine Diskussion auf Augenhöhe, das wird nur noch deutlicher durch das interessiert von dem aus der Mitte von unten aufschauenden Kind.

Samuel van Hoogstraaten 1627-1687
Alter Mann am Fenster 1653
Wahrscheinlich ein Bildnis des Rabbiners Jom Tow Lipman, der erwirkte, dass Juden in der Wiener Leopoldstadt wohnen konnten.

KROATIEN 6 - Wien war einst großmächtig

 Direkt vor unserer Haustür photographiert.

Gestern sind wir zwölf Stunden mit dem Auto von Dalmatien bis etwa einhundert Kilometer vor Wien gefahren. Wobei das Wort "fahren" hier in sehr weiter Begriffsbedeutung verwendet wird, nämlich schließt es "nichtfahren", "sehrlangsamfahren", "nochlangsamerfahren", "vielleichtirgendwannweiterfahren" mit ein. 700 Kilometer in zwölf Stunden und ich fahre eher flott. Das Verkehrsaufkommen war mittelstark, daran lag es nicht. An einer überschwemmten Straße und längeren Baustellen auf der in Konstruktion befindlichen Autobahn durch Slowenien lag es auch nicht. Das Mautzahlen war schuld.
Wir nehmen den Zettel, wir schauen ihn an, wir führen ihn in die Maschine ein, der zu zahlende Betrag erscheint auf einer digitalen Anzeige, wir nehmen das gereichte Geld, wir schauen das Geld an, wir errechnen das Wechselgeld, wir zählen es nach, wir übergeben das Wechselgeld, "hvala", wir öffnen die Schranke - ich fahre.
2 Stunden Wartezeit pro Mautstelle! Irrsinn. 

Die territoriale Entwicklung der Habsburger Monarchie, mit Zoll-, aber ohne Mautschranken, Teile der Schweiz, die Niederlande, praktisch der gesamte Balkan, Tirol, Venetien, Burgund, und und und, fast ganz Europa waren irgendwann einmal habsburgisch. Kein Wunder, dass die Herrschaften so agressiv vorgeschobene Unterlippen hatten.  
 

Ich bin mir sicher, dass, hätte es damal schon die Maut gegeben, die Türken, bzw. die Osmanischen Armeen, es nie bis nach Wien geschafft hätten, was eine Schande gewesen wäre, denn sie haben den Wienern doch den Kaffee gebracht, der hier mit höchst zärtlicher Wissenschaftlichkeit auf unzählige unterschiedliche köstliche Arten serviert wird.

Almkaffee / Gebirgskaffee – Kaffee mit Schlagobers, Eidotter und Obstschnaps
Biedermeier – Kaffee mit Schlagobers und Marillenlikör
Schale Braun – halb Kaffee, halb Milch

Kleiner Brauner – einfacher Mokka mit Milch oder Obers in kleiner Schale. Das Kaffeeobers oder Milch, um aus dem kleinen Schwarzen einen kleinen Braunen zu machen, wird traditionell in einem winzigen Porzellankännchen, das an einen etwas größeren Fingerhut erinnert, extra am Tablett serviert, damit der Gast selbst das Mischungsverhältnis bestimmen kann.
Großer Brauner – doppelter Mokka mit Kaffeeobers in großer Schale
Doppelmokka – doppelter Espresso in großer Mokkaschale
Einspänner – kleiner Mokka im Glas mit viel Schlagobers (doppelter Einspänner: großer Mokka)
Eiskaffee englischer Art – ein Drittel Kaffee, ein Drittel Eis, ein Drittel Schlagobers
Fiaker – großer Mokka im Glas mit viel Zucker und einem Stamperl Sliwowitz oder Rum (Wien)
Franziskaner – lichte Melange mit Schlagobers
Gespritzter – schwarzer Kaffee mit Weinbrand/Cognac oder Rum
Schale(rl) Gold – Kaffee mit Kaffeeobers, etwas heller als ein Brauner (Wien)
Granita di Caffè – fein gekörntes Eis mit starkem schwarzem gezuckertem Kaffee übergossen
Häferlkaffee – Kaffee im Häferl (und nicht in einer Tasse) mit meist hohem Milchanteil, Filterkaffee; als Häferlkaffee wurde auch Ersatzkaffee mit viel Milch bezeichnet
Intermezzo – kleiner Mokka, mit heißer Schokolade und Creme de Cacao verrührt, darauf Schlagobers mit Praline (eventuell Mokkabohnen)
Kaffee Kirsch – Kaffee mit Kirschwasser
Kaffee verkehrt – Kaffee mit 2/3 Milch und 1/3 Kaffee (Wien)
Kapuziner – schwarzer Kaffee mit einem Schuss flüssigen Obers
Katerkaffee – starker Mokka, gesüßt mit an Zitronenschale geriebenen Zuckerstücken
Konsul – Mokka mit etwas Obers
Kosakenkaffee – kleiner Mokka im Einspännerglas, vermischt mit flüssigem Zucker und Rotwein und Wodka
Marghiloman – Mokka mit Weinbrand/Cognac
Mazagran – kalter gesüßter Kaffee mit Eisstückchen und Weinbrand/Cognac oder Maraschino
Melange – halb Kaffee, halb Milch
Kaisermelange – Mokka mit Eidotter, auch mit Honig und Weinbrand/Cognac (Wien)
Wiener Melange – Melange, mit geschäumter Milch im Glas serviert (Wien)
Maria Theresia – Mokka mit einem Schuss Orangenlikör
Mokka gespritzt – Mokka mit Weinbrand/Cognac und Rum
Othello – heiße Schokolade mit Espresso
Piccolo – kleiner Schwarzer mit Schlagobers

Großer Schwarzer (auch großer Mokka) – doppelter Mokka in großer Schale
Kleiner Schwarzer (auch kleiner Mokka) – einfacher Mokka in kleiner Schale
Sperbertürke – doppelt starker, mit Würfelzucker aufgekochter türkischer Kaffee

Türkischer Kaffee passiert – türkischer Kaffee, bei dem der Satz herauspassiert wurde
Überstürzter Neumann – Schlagobers in einer sonst leeren Schale wird am Tisch des Gastes mit heißem Kaffee „überstürzt“.
Ungarischer Kaffee – starker gesüßter Kaffee wird aufs Eis gestellt, dann mit gekühltem Schlagobers vermengt und im Glas serviert
Verlängerter – ein kleiner Schwarzer wird mit der gleichen Menge an heißem Wasser verlängert
Weißer mit Haut – lichte Melange (heller Milchkaffee), der mit heißer, nicht verquirlter Milch serviert wird, worauf sich eine Haut bildet (Wien)
Zarenkaffee – starker Espresso, auf den eine Haube aus gezuckertem gesprudeltem Eidotter aufgesetzt wird