Samstag, 21. Mai 2011

Max Frisch - Fragebogen 2 - Wieso weinen die Sterbenden nie?

1.    Haben Sie Angst vor dem Tod und seit welchem Lebensjahr?

2.    Was tun Sie dagegen?

3.    Haben Sie keine Angst vor dem Tod (weil Sie materialistisch denken, weil Sie nicht materialistisch denken), aber Angst vor dem Sterben?

4.    Möchten Sie unsterblich sein?

5.    Haben Sie schon einmal gemeint, dass Sie sterben, und was ist Ihnen dabei eingefallen:
a.was Sie hinterlassen?
b.die Weltlage?
c.eine Landschaft?
d.dass alles eitel war?
e.was ohne Sie nie zustandekommen wird?
f.die Unordnung in den Schubladen?

6.    Wovor haben Sie mehr Angst: dass Sie auf dem Totenbett jemand beschimpfen könnten, der es nicht verdient, oder dass Sie allen verzeihen, die es nicht verdienen?

7.    Wenn wieder ein Bekannter gestorben ist: überrascht es Sie, wie selbstverständlich es Ihnen ist, dass die andern sterben? Und wenn nicht: haben Sie dann das Gefühl, dass er Ihnen etwas voraushat, oder fühlen Sie sich überlegen?

8.    Möchten Sie wissen, wie Sterben ist?

9.    Wenn Sie sich unter bestimmten Umständen schon einmal den Tod gewünscht haben und wenn es nicht dazu gekommen ist: finden Sie dann, dass Sie sich geirrt haben, d. h. schätzen Sie infolgedessen die Umstände anders ein?

10.    Wem gönnen Sie manchmal Ihren eigenen Tod?

11.    Wenn Sie gerade keine Angst haben vor dem Sterben: weil Ihnen dieses Leben gerade lästig ist oder weil Sie gerade den Augenblick genießen?

12.    Was stört Sie an Begräbnissen?

13.    Wenn Sie jemand bemitleidet oder gehasst haben und zur Kenntnis nehmen, dass er verstorben ist: was machen Sie mit Ihrem bisherigen Hass auf seine Person beziehungsweise mit Ihrem Mitleid?

14.    Haben Sie Freunde unter den Toten?

15.    Wenn Sie einen toten Menschen sehen: haben Sie dann den Eindruck, dass Sie diesen Menschen gekannt haben?

16.    Haben Sie schon Tote geküsst?

17.    Wenn Sie nicht allgemein an Tod denken, sondern an Ihren persönlichen Tod: sind Sie jeweils erschüttert, d. h. tun Sie sich selbst leid oder denken Sie an Personen, die Ihnen nach Ihrem Hinschied leidtun?

18.    Möchten Sie lieber mit Bewusstsein sterben oder überrascht werden von einem fallenden Ziegel, von einem Herzschlag, von einer Explosion usw.?

19.    Wissen Sie, wo Sie begraben sein möchten?

20.    Wenn der Atem aussetzt und der Arzt es bestätigt: sind Sie sicher, dass man in diesem Augenblick keine Träume mehr hat?

21.    Welche Qualen ziehen Sie dem Tod vor?

22.    Wenn Sie an ein Reich der Toten (Hades) glauben: beruhigt Sie die Vorstellung, dass wir uns alle wiedersehen auf Ewigkeit, oder haben Sie deshalb Angst vor dem Tod?

23.    Können Sie sich ein leichtes Sterben denken?

24.    Wenn Sie jemand lieben: warum möchten Sie nicht der überlebende Teil sein, sondern das Leid dem andern überlassen?

25.    Wieso weinen die Sterbenden nie?

HANS BALDUNG GRIEN .THREE AGES OF THE WOMAN AND THE DEATH (1509-1510)  
H.B. GRIEN DEATH AND THE MAIDEN (1518-1520)

H.B. GRIEN DEATH AND THE MAIDEN (1517)

3 Kommentare:

  1. Olaf Brühl hat gestern zufällig gelesen, was Dürer über das Sterben seiner Mutter aufgeschrieben hat, ohne Beschönigung - sie ist nicht grad lächelnd und friedlich eingeschlafen, es war "hart"- (wie meistens) ...

    Johanna Schall Nicht weinen, heisst doch nicht, dass man friedlich stirbt. Weinen ist, glaube ich, sehr spezifisch gemeint.

    Heimhart von Bültzingslöwen Ach Hannah, ich weiß nicht, meine Erfahrungen sagen eher, daß die Sterbenden uns weit überlegen sind, weil sie innerlich abgeschlossen haben, wir hingegen mit ihnen nicht, so seh ich es! LG H

    Johanna Schall Ich denke, da sind die Sterbenden genauso verschieden, wie die noch nicht Sterbenden, oder?

    Heimhart von Bültzingslöwen Das hast Du sicher recht, aber ich bin im Sterben nun mal geprägt von diesen sogenannten jungen straken Frauen, Du weißt, wen ich meine, und da war es genauso, daß die Sterbenden Trost spendeten, wo die Lebenden heulten

    Johanna Schall Ist mir mit einem guten Freund ebenso gegangen.

    Olaf Brühl
    meint, Ihr geht vom Sterben im Krankenhaus oder zuhause aus - nach Krankheiten und im Alter. Ja, es hat viele Gesichter - aber das betrifft einen bestimmten Kreis. Und MF schreibt eben "nie" und das finde ich problematisch und finde dort auch keine Metaphorik oder Transzendenz, sondern eine irgendwie Einseitigkeit - zumal das Sterben, wie wir hier irgendwie ausblenden, eben zB Kinder auf der Straße in Gaza trifft, die furchtbar weinend sterben, Kinder sterben eben auch, nicht abgeklärt, weise oder irgendwie getröstet. Das sehen wir doch - von all dem andren abgesehen (der eine Bursche weinte, als man ihn mit seinem Kumpel im Irak 2005 an den Baukran hängte) usw....

    Heimhart von Bültzingslöwen spannender Gedanke, muß ich mal weiterdenken

    Johanna Schall Aber Mf spricht vom Sterben und das ist eine Einschränkung, du sprichst vom gemordet werden und natürlich hat er sich nur eine Scheibe der tausenden möglichen herausgenommen. Das ist doch die Last der meisten deutschen Filme z.B. alles erzählen anstatt eine Sache wirklich.

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  2. auch zu Frage 25:
    Frisch schreibt "nie", weil er es nicht erlebt hat, offenbar.
    Stimmt aber nicht.
    Ich habe einen letzten Tag miterlebt, an dem der sterbende alte Mensch still Tränen weinte. Ohne Auflehnung, aber wahrscheinlich mit sanfter Traurigkeit.

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  3. Alexander Höchst26. Mai 2011 um 22:00

    Wir machen im Leben immer wieder Erfahrungen mit dem Sterben. Es muss nicht immer ein nahe stehender Mensch sein oder ein anderes Lebewesen das stirbt. Wenn eine Liebe stirbt, ist das mindestens genauso schmerzhaft und tragisch und es ist der Tod, der da vorbei schaut. Auch wenn es keinen Toten gibt. Es bleibt immer ein leerer Raum zurück, den wir nicht füllen können. Mit zunehmendem Alter haben sich einige solcher leerer Flecken in unserer emotionalen Welt eingegraben. Sie sind hartnäckig und man wird sie nie mehr los. Wir leben, lieben, hassen, vergehen täglich damit. Ich rede jetzt nicht von Kriegserlebnissen oder Mord, in denen das Sterben und Überleben eine andere Dimension einnimmt. Als Kind hatte ich besonders große Angst vor dem Sterben. Die Vorstellung, die Welt verlassen zu müssen, bevor mein Leben angefangen hat, fand ich unerträglich. Ich glaube, dass das Sterben immer in uns ist, egal, wo wir gerade im Leben stehen. Und so hat auch jeder das Recht sich zu diesem Thema zu äußern und ernst genommen zu werden.

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