Dienstag, 1. März 2011

Thomas Brasch

Hamlet gegen Shakespeare

Das andere Wort hinter dem Wort.
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht:
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.
 
 
 
Meine Großmutter

Auf einem alten Foto ist sie eine schöne Frau
auf einem Berg: Am Rand.
Verächtlich sieht sie in die Kamera:
Schließlich ist mein Vater Fabrikant.
 
Ihr erster Mann erschoß sich mit 29. Den zweiten
verließ sie in München für den dritten und
wurde katholisch wie er. Als
die Nazis sie holten, rief sie: Was
wollt ihr von mir: Ich bin keine Jüdin mehr.
 
Im Konzentrationslager schrieb sie Gedichte. Die
steckte sie in den Ofen, bevor sie entlassen wurde
in die Irrenanstalt. In der Zelle schrieb sie 
einen Roman
über die Auswanderung eines Ameisenstaates von
Deutschland nach Amerika nach Afrika 
nach Deutschland.
 
Ich liebe Lissy, sagte ihr Mann, als
sie zurückkehrte in die Wohnung. Hier
ist dein Zimmer neben der Küche. Sie sagte:
Ich lasse mich scheiden. Und nahm ihren 
zerbeutelten Hut. Dann
bist du nicht mehr katholisch, sagte er, und 
gehst wieder
ins Lager. Sie legte den Hut aus der Hand: 
Zu euren Diensten:
eure Ameise will ich sein. Und schloß sich in ihr 
neues Zimmer ein.
 
Nach dem Krieg lebte sie zur Untermiete und
war angestellt bei der englischen Postzensur: Tag
für Tag schnitt sie faschistische Zeilen aus
deutschen Briefen. Als das Postgeheimnis wieder 
Gesetz war,
zog sie von München nach Potsdam,
zeigte mir ihren Gott, den ich nicht sah, kratzte
unter alten Frauen Scheiße
aus den Laken, sagte zu ihrem Sohn: Warum
gehst du nicht auf den Hof
spielen und fiel tot neben den Küchenherd.
 
Die Rätsel sind gelöst:
ihr Hirn sprang über.
Sie wollte nicht Heimat sagen:
Sie hatte kein Dach darüber.
 
Aus Thomas Brasch Was ich mir wünsche. Gedichte
 
Gibt es kein Wort in meiner Sprache,
dass sie in Rausch versetzt wie Wein?
Das ihren Willen gänzlich taumeln lässt
und ganz verschwinden dann?
Das sie in meine Arme sinken läßt - betrunken?
Gib mir das Wort, dass ich's ins Ohr ihr träufle
gegen ihre Krankheit!
Vernunft heisst diese Krankheit.
Doch wie heisst das Mittel gegen sie -
wie heisst das Zauberwort?
 
Aus: Der Papierflieger


Was ich habe, will ich nicht verlieren,
aber wo ich bin, will ich nicht bleiben,
aber die ich liebe, will ich nicht verlassen,
aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen,
aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben,
aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.

2 Kommentare:

  1. ich liebe frauen krieg lustspiel und lovely rita

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  2. Katka Kurze schrieb:
    WENN MAN WOANDERS WÄR-
    vielleicht an der Küste
    vielleicht nebenan
    woanders
    wenn man an einer Post stehen könnte oder am Meer
    ...im Schnee vielleicht
    im Schnee vieleicht
    der unter den Füßen knirscht
    an einem Berg, bei einer Hütte
    woanders
    ach,am MEER
    die Füße im Wasser am Abend
    die nackten Füße im kalten Wasser am Meer
    nur woanders
    am Meer, an der Post, am Dienstag oder morgen
    nur woanders-
    aber wo nur, wo, wo ist man woanders
    wo ist man denn anders?
    (1966)See More

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