JS.: Rainer Carow hatte viele Kämpfe auszutragen, um seine Filme in der DDR realisieren zu können. Er soll sieben Jahre lang darum gerungen haben, das Drehbuch von „Coming Out“ gegen den Widerstand von, unter anderen, Karl-Heinz Maede, dem Generaldirektor der DEFA, durchzusetzen. Carow holte zur Unterstützung Gutachten ein, psychologische, soziologische, juristische, weißt Du etwas darüber?
MF.: Heiner hatte vor „Coming Out“ viele Jahre keinen Film gemacht, aber in der Zeit, soviel ich weiß, auch andere Stoffe eingereicht, die abgelehnt wurden. Ob es sieben Jahre waren, erinnere ich nicht mehr genau. Er wollte einen Film mit dem Arbeitstitel „Paule Panke“ drehen, der unter anderem wegen einer schwulen Nebenfigur nicht gewollt war. Laut Heiner haben er und unser Autor Wolfram Witt sich darauf hin gesagt: Ok! Dann erst recht! Dann kriegt ihr jetzt ein Buch, in dem das Thema Homosexualität im Zentrum steht!
Natürlich gab es eine breite Ablehnung dem Buch gegenüber. Maede sagte wohl, dass es einen solchen Film nie geben würde, so lange er DEFA-Chef ist! Heiner war Mitglied der Akademie der Künste und bei einer Veranstaltung traf er auf Kurt Hager, den obersten „Meinungsmacher“ der DDR. Er diskutierte mit ihm seine berufliche Situation und beklagte, dass all seine Projekte abgelehnt würden. Dieses Gespräch war dann sozusagen das „grüne Licht“. Der Film wurde über die Köpfe der mittleren Leitungsebene (Maede inklusive) durchgesetzt. Die Gutachten kenne und besitze ich. Aus heutiger Sicht sind sie wenig spannend, aber damals haben sie ihren Zweck erfüllt. In einem wurde hervorgehoben, dass es in den Konzentrationslagern der Nazis eine recht starke Solidarität zwischen den Insassen mit dem „roten Winkel“ und denen mit dem „rosa Winkel“ gegeben hat. Neben dem Original-Drehbuch und meinem Filmvertrag habe ich die Gutachten in Kopie dem Schwulen Museum in Kreuzberg überlassen und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Natürlich gab es auch während des Drehs seitens derer, die über Drehgenehmigungen zu entscheiden hatten, Versuche der Zensur, die Heiner aber glücklicherweise abschmettern konnte. Den Paragraph 175 gab’s zwar schon lange nicht mehr, aber die Berührungsängste der „Genossen“ waren groß.
JS.: Dirk Kummer war sehr jung damals, es war sein erster Film überhaupt, und für Dich wohl der zweite, wie war Carow als Schauspieler – Regisseur? (Und Du hast inzwischen bei Dirk Kummer gedreht, was war das für ein Film?)
MF.: Dirk hatte damals über die Akademie der Künste eine Meisterschülerschaft bei Heiner Carow für Filmregie und war eigentlich für den Dreh von „Coming Out“ als zweiter Regieassistent am Start. Bei den Probeaufnahmen für die Hauptrolle war Dirk immer der Spielpartner für die jeweiligen Schauspieler. Dabei fiel Heiner auf, wie gut Dirk spielen kann und hat dann Dirk gefragt, ob er die Rolle des „Matthias“ im Film spielen wolle. Wenn Dirk nicht vor der Kamera stand, hat er beim Dreh seinen Job als Assistent gemacht.
Heiner Carow war ein großartiger Schauspieler-Regisseur, hat sehr intensiv mit seinen Darstellern gearbeitet, das Maximum an Konzentration und Emotion gefordert, war manchmal über die Schmerzgrenze hinaus unerbittlich und seinen Schauspielern ein extrem launischer Liebhaber. Eine derart intensive Arbeit ist mir in meinem beruflichen Leben leider nie wieder begegnet.
Mein erster DEFA-Film war „Käthe Kollwitz“ und ich durfte den Sohn der wunderbaren Jutta Wachowiak spielen.
Meine erste Arbeit mit Dirk Kummer als Regisseur war für seinen TV-Film „Geschlecht Weiblich“. Dirk hat eine sehr professionelle, extrem konzentrierte, vertrauens- und liebevolle und entspannte Atmosphäre am Set geschaffen! Großartig! Den Film habe ich sehr gemocht und Ulrike Krumbiegel hat für ihre Hauptrolle den Fernsehpreis bekommen! Dirk und ich sind bis zum heutigen Tage sehr eng befreundet.
JS.: Du warst 28 als Du „Coming Out“ gedreht hast, und, so wie ich es in der taz gelesen habe, war der Film auch dein persönliches „Coming Out“? Hast Du Probeaufnahmen gemacht oder warst Du gleich besetzt? Wie war Deine Reaktion auf das Drehbuch, falls Du das überhaupt noch erinnerst?
MF.: Mein persönliches „Coming Out“ hatte ich als Teenager, aber für mich war es „politische Mission“, mich nach diesem Film, der dazu aufruft, aus dem Versteck zu kommen, auch in der Öffentlichkeit (Interviews) zu „outen“.
Wolfram Witt hatte mich mal in Frankfurt/Oder auf der Bühne gesehen, Heiner von mir erzählt und so wurde ich zu Probeaufnahmen eingeladen. Beim Casting war ich der erste und Heiner mochte mich sehr. Aber er wollte nicht glauben, dass gleich der erste Schauspieler sein „Phillipp“ ist und wollte weitere Kollegen sehen. Beim zweiten Casting wollte Heiner überprüfen, ob Dagmar Manzel und ich als Paar funktionieren und beim dritten Casting ging es dann darum, ob Dirk Kummer und ich zusammenpassen. Es war also ein ziemlich langes Prozedere über mehrere Monate! Ich habe das Drehbuch bis auf wenige Passagen sehr geliebt und wollte die Rolle natürlich unbedingt spielen! Als junger Schauspieler eine Hauptrolle bei DEM Heiner Carow zu spielen, war der Sechser im Lotto! Für den hätte ich auch ein Tablett durch’s Bild getragen! Zudem hat mich das Thema des Films selbst betroffen und ich fand es mehr als an der Zeit und sehr wichtig, dass dieser Film in der DDR gemacht wird! Heiner sagte mir nach Beendigung aller Probeaufnahmen, dass er einen zweiten Favoriten für die Hauptrolle hätte, der der Geschichte eine ganz andere Stimmung und Handschrift geben würde und dass er sich jetzt überlegen muss, WELCHEN Film er drehen will. Er hat sich für den Film mit mir entschieden und ich war überglücklich.
JS.: Sicher, die Gesetzgebung der DDR war, zu unserer Zeit, hinsichtlich Homosexualität schon recht fortschrittlich, der §175 war 1968 endlich abgeschafft worden, aber trotzdem weiß ich, dass Freunde sehr unter der provinziellen und kleingeistigen Denkart großer Teile der Bevölkerung gelitten haben. Es war nicht verboten, aber unerwünscht. Würdest Du diese Einschätzung teilen?
MF.: Absolut! Kuschelnde Genossen passten nicht ins Bild! Es gab zwar seit Anfang der Achtziger die ersten Printveröffentlichungen, Theaterabende, Kontaktanzeigen in der „Wochenpost“ und einen „Aufklärungsfilm“, der vom Hygienemuseum Dresden in Auftrag gegeben wurde, aber trotzdem war das Thema Homosexualität in der Öffentlichkeit nicht präsent. Vor allem nicht in der DDR-Provinz, woran sich ja leider bis heute (weltweit) nicht wirklich viel geändert hat. Ostberlin war die Ausnahme, wie es alle Großstädte bis heute noch sind. Dass Ostberlin für alle Schwulen und Lesben sehr attraktiv war, wussten natürlich auch unsere obersten Genossen. Und in den Achtzigern zog ein Gespenst auf, das auch die DDR-Oberen zum Umgang mit Homosexualität in der Öffentlichkeit zwang, nämlich HIV und AIDS. Die Mauer war nah und die Panik auf allen Seiten groß! Wir haben bei den Dreharbeiten zu „Coming Out“ natürlich auch darüber diskutiert , aber dann bewusst darauf verzichtet, HIV oder AIDS zu thematisieren, da es unsere Geschichte gesprengt hätte und kontraproduktiv zu dem gewesen wäre, das wir mit diesem Film erzählen und öffnen wollten.
JS.: Die Besetzungsliste klingt wie ein Ausschnitt aus der Sammlung meiner Lieblingsschauspieler, Dagmar Manzel, Michael Gwisdek, Werner Dissel, Gudrun Ritter, Walfriede Schmidt, Axel Wandtke, Pierre Bliss (heute Sanoussi-Bliss), Gudrun Okras und und und, war es eine eher angestrengte oder heitere Drehzeit?
MF.: Es war schon eine harte Drehzeit, denn wir haben ja hauptsächlich nachts gedreht! Die Kollegen hatten zum Teil tagsüber Proben und abends Vorstellungen, bevor sie zum Dreh kamen! Aber wir hatten alle sehr viel Spass und haben extrem viel rumgeblödelt! Einmal bei nem Nachtdreh im „Burgfrieden“ gab es eine sehr lange Pause, weil umgebaut und umgeleuchtet werden musste. Gudrun Okras und mir war langweilig! So sind wir heimlich um die Ecke ins „Café Nord“ gegangen, haben uns jeder drei Cola-Vodka gegönnt, bisschen getanzt und kamen dann sehr beschwingt zum Drehort zurück. Heiner hat natürlich „die Lunte“ gerochen, war stinksauer und hat uns beschimpft. Aber wir haben dieses „bisschen Leben“ gebraucht, mussten die nächsten Takes laut Buch sowieso „betrunken“ spielen und alles war letzten Endes so, wie der Regisseur es haben wollte. Immer, wenn ich diese Szene jetzt im Film sehe, muss ich innerlich kichern und schicke ein kräftiges „Prösterchen“ zu Gudrun, wo auch immer sie jetzt sein mag!
JS.: Einige der zärtlichsten Szenen sind die mit Werner Dissel, er strahlt eine solche Traurigkeit und Erschöpfung aus und wird doch nie sentimental, besonders im Zusammenspiel mit Micha Gwisdek und Dir entsteht da ein Bild von einem Versuch generationsübergreifender Verständigung. Wie hast Du Werner bei den Dreharbeiten erlebt?
MF.: Heiner hatte die Rolle des alten Mannes ursprünglich zwei anderen, sehr namhaften, Kollegen angeboten, die dann leider beide Berührungsängste hatten. Werner kannte ich vor dem Dreh nicht persönlich. Bei meiner ersten Drehbuch-Lektüre habe ich die Erzählung des alten Mannes gehasst. Ich dachte: Jetzt kommt wieder der typische DDR-Zeigefinger mit „Arbeiterklasse“, Naziverbrechen, antifaschistischer Solidarität etc. Die wirkliche Potenz dieser Szene hatte ich nicht erkannt. Werner hat diesem „Papier“ auf zauberhafte und sehr berührende Weise Leben eingehaucht! Großartig, was da passiert, zumal die Tragik der Geschichte immer wieder durch die gespielte Zickigkeit von Gwisdek und das Partytreiben gebrochen wird. Für mich war die Szene sehr hart! Heiner hat mich getreten, wollte das Weinen anders! Und versuche mal zu heulen, wenn dich 200 Komparsen und das komplette Team dabei anstarren und denken: „Nu heul doch endlich, du Depp! Wir wollen nach Hause!“ Keine so schöne Erinnerung!
JS.: Die Premiere war am 9.11.1989, am Tag als die Mauer geöffnet wurde, das war sicher ein surrealer Vorgang, als mitten in eure Premierenfeier Einer mit der Nachricht reinplatzte?
MF.: Ja das war absolut surreal! Keiner konnte ahnen, dass sich die DDR auf so banale Weise erledigen würde! Der Abend war einzigartig und hat unseren Film auf ewig mit dem Fall der Mauer verbunden.
Ich habe den Abend schon unzählige Male in vielen TV- und Zeitungsinterviews beschrieben und verzichte jetzt hier darauf!;)
JS.: Eure Premiere, die Premiere des ersten DDR-Films der Homosexualität zum zentralen Thema nahm, wurde durch das staatliche ‚Coming Out’ zum Nebenereignis, trotzdem haben damals eine Millionen Menschen den Film gesehen und er hat bis heute „Kult“-Status. Es ist ein sehr ruhig erzählter Film, ohne extrovertiertes Drama, die Bildsprache ist nahezu karg, wie erklärst Du Dir die große Wirkung selbst heute noch, wo es, Gott sei Dank, schon mehr als einen Film zum Thema gibt, wenn auch immer noch lächerlich wenige?
MF.: Viele schwule Filme, damals und heute, sind „aus dem Ghetto für’s Ghetto“ gemacht! Unser Anspruch war es, eine realistische, ehrliche und berührende Geschichte zu erzählen. Der Zuschauer wird eingeladen, nicht mit Effekten oder falschem Pathos gelockt, nicht verschreckt, aber emotional und moralisch verwickelt und JEDER Zuschauer kann sich mit den Figuren dieser Liebesgeschichte identifizieren! Liebe ist Liebe, Fleisch ist Fleisch! Auch ich nehme im Film oder im Theater den großen Anspruch viel lieber an, wenn er mir schlicht, fast bescheiden nahe gebracht wird. Mein Lieblingsfilm zu Thema „Coming Out“ ist die britische Produktion BEAUTIFUL THING – rührend, voller Humor und Herz, einfach fabelhaft!
JS.: Apropos Bildsprache, wenn ich mir den Film ins Gedächtnis rufe, sind da Bilder, besonders die kahle Neubauwohnung, die einsam und kühl wirken, obwohl doch z.B. Deine Filmwohnung auch der Ort der ersten Liebesnacht ist. Dies und eure zurückhaltende Spielweise hat mir großen Eindruck gemacht. Diese Figuren gestehen sich ihre großen Gefühle gar nicht zu, es ist ihnen fast peinlich, wenn sie leidenschaftlich, zornig oder verzweifelt werden. Das finde ich sehr modern, nur ist es hier nicht cool, sondern wohl das Ergebnis der Idealisierung des Mittelmaßes, dass in der DDR mehr oder weniger latent betrieben wurde.
MF.: Ich stimme Dir zu! Nur bin ich davon überzeugt, dass sich Heiner nie der Idealisierung des Mittelmaßes unterworfen hätte, sondern es ihm darum ging, das richtige Angebot zu finden, mit dem sich jeder identifizieren kann und das niemanden ausschließt. Dass er das geschafft hat, beweist, dass die Liebesgeschichte bis heute angenommen wird und nichts an Kraft verloren hat! Das hat sich mir bei allen Festivals und Publikumsgesprächen in all den Jahren und in all den Ländern immer wieder bestätigt.
JS.: Du hast erzählt, dass Du bis heute zu Festivals und anderen Gelegenheiten eingeladen wirst, um an Diskussionen zum Film teilzunehmen, auch in Länder, wo das Hauptthema von „Coming Out“ bis heute nur selten und dann kontrovers diskutiert wird. Wie sind Deine Erfahrungen mit solchen Zuschauergesprächen, wie weit ist die Spanne der Erwartungen und Irritationen? Kannst Du Dich an besonders eindrückliche oder erschreckende Gespräche erinnern?
MF.: Die Zuschauergespräche waren immer sehr lang und intensiv. Oft haben mir heterosexuelle Zuschauer erzählt, wie schön und erotisch sie die Liebesgeschichte finden. Schwule Zuschauer berichteten, dass sie sich in diesem Film absolut wieder finden, weil ihr eigenes „Coming Out“ genauso oder ähnlich abgelaufen ist. Unser Film ist ja auch ein sehr gutes Abbild des Lebensgefühls im Ostberlin kurz vor dem Mauerfall. Dieses Abbild ist natürlich für Zuschauer aus der westlichen Welt sehr fremd und irritierend. In Canada oder Italien wurde mir beschrieben, dass unser Film neben der Liebesgeschichte, die noch immer berührt und die man ja aus seiner Welt ähnlich kennt, einen einzigartigen, fast dokumentarischen Blick hinter den Eisernen Vorhang bietet!
Viele Leute haben mir immer wieder zum Dank ohne Worte die Hand gehalten, oder mich umarmt.
Im letzten Oktober wurde unser Film zum ersten mal in Sankt Petersburg gezeigt. Nach der Vorführung kam ein Junge auf mich zu, der sehr aufgewühlt schien und mir danken wollte. Er erzählte mir, wie schwer es für Schwule in der russischen Macho-Gesellschaft und unter dem Druck der eigenen orthodoxen Kirche sei, sich in der Öffentlichkeit zu outen. Ich hatte das Gefühl, dass er innerlich brannte! Er tat mir unendlich leid und seine Situation machte mich wahnsinnig wütend! Mir wurde klar, wie wichtig mein öffentliches Zu-Mir-Stehen für viele Menschen ist und wie wichtig das Statement unseres Filmes nach all den Jahren noch immer ist. Das einzige, was ich dem jungen Mann raten konnte, war, dass er sich von seiner Kirche verabschieden kann, in der für ihn kein Platz ist, ohne seinen Glauben aufgeben zu müssen. Das Goethe – Institut Sankt Petersburg war Mitveranstalter der Filmvorführungen in Russland. Tage vor der Veranstaltung ging bei den dortigen Mitarbeitern ein Drohanruf ein von einem Anwalt der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Wortlaut: „Sie bringen die westliche Sodomie nach Russland!“
Danke für das schöne, interessante Interview zu diesem wunderbaren Film. Hat mich richtig berührt.
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