Warum bekomme ich nicht solche Briefe? Warum?
An die Braut
[Gießen, nach dem 10. März 1834.]
"Prouve-moi que tu m'aimes encore beaucoup en me donnant bientôt des nouvelles." Und ich ließ dich warten! Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben. Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine Brust legen! B. wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich schrieb ihm. Ich verwünsche meine Gesundheit. Ich glühte, das Fieber bedeckte mich mit Küssen und umschlang mich wie der Arm der Geliebten. Die Finsternis wogte über mir, mein Herz schwoll in unendlicher Sehnsucht, es drangen Sterne durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten sich nieder. Und jetzt? Und sonst? Ich habe nicht einmal die Wollust des Schmerzes und des Sehnens. Seit ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen. Ostern ist noch mein einziger Trost; ich habe Verwandte bei Landau, ihre Einladung und die Erlaubnis, sie zu besuchen. Ich habe die Reise schon tausendmal gemacht und werde nicht müde. – Du frägst mich: sehnst du dich nach mir? Nennst du's Sehnen, wenn man nur in einem Punkt leben kann und wenn man davon gerissen ist, und dann nur noch das Gefühl seines Elends hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen so kalt? […] – Dieser Brief ist ein Charivari: ich tröste dich mit einem anderen.
Solche Kometen wie er, erreichen leider viel zu selten die Erde...!
AntwortenLöschenMärz 1834. Zu dieser Zeit war Büchner 20, seit 2 Jahren mit der drei Jahre älteren Wilhelmine verlobt, studierte in Gießen Medizin, recherchierte die historischen Hintergründe von DANTONS TOD und arbeitete am HESSISCHEN LANDBOTEN, der drei Monate später in den Druck ging.
AntwortenLöschenAls ich vor vielen Jahren Büchners Grab am Zürichberg besuchte, schoss mir die ewig gleiche Frage durch den Kopf, auf die es keine Antwort gibt, ausser von Büchner selbst: Warum drang nur sein Stern so flüchtig durch das Dunkel, um alsbald wieder zu verlöschen? Hat die Menschheit, die lügt, mordet und stiehlt so jemanden wie ihn nicht verdient? Das viel zu kurze Puppenspiel eines Genies, das auf dem Schaum der Welle daher kam, um gleich wieder zu gehen. Gott hab ihn selig.
Wer sich selbst überlebt, verfehlt seine Biographie. Letzten Endes können nur die abgebrochenen Schicksale als vollendet gelten. EMIL CIORAN
AntwortenLöschenCioran ist einfach herrlich, wenn man eine gute Depression braucht, findest du nicht?
AntwortenLöschen