Sonntag, 7. November 2021

The French Dispatch und Riders Of Justice

Ich habe nur ein einziges Zeitungabonnement. Mehr oder weniger pünktlich, einmal die Woche steckt in meinem Briefkasten mit einem US-Poststempel ein Umschlag mit dem NEW YORKER drin. Die Titelseite ist gezeichnet oder gemalt, die Cartoons reichlich und gut, die viele Artikel richtig lang und enorm fundiert, und, was so sehr besonders ist, großartig geschrieben. 

Herr Wes Anderson hat eine Liebeserklärung an diese Zeitung gefilmt, an ihren Witz, ihre Intelligenz und beharrend traditionelle Ästhetik, letztere macht das Lesen, den optischen Vorgang umso mehr zur Freude.

Alles ist fein, tolle Schauspieler noch für den letzten gemurmelten Halbsatz, frecher Eklektizismus, unverschämter Einsatz jedes erdenklichen visuellen Mittels, Zitate aller Art - alles hoch artifiziell, nie gänzlich ernst, auch der Tod noch ein Bonmot. Benicio del Toro allein erlaubt sich Tiefe ohne die andere Waagschale der Komödie zu überlasten. 

Ein Film zum Dauerlächeln während man ihn sieht, zart, schnell, fein, doch außer einer heiteren Zeit und einigen Bildeinfällen bleibt nicht viel hängen.

Vor Jahren zappte ich durchs Programm und blieb bei einem merkwürdigen Film hängen. Mir erging es, wie es mir, nochmals viele Jahre früher, beim Ansehen von Monty Pythons Flying Circus im Dritten ergangen war, ich fühlte mich verstanden. Das war Humor, der mich lachen machte, immer hart an der Grenze zur Gewalt oder sogar zur Bösartigkeit, aber diese Grenze wie durch ein Wunder nie überschreitend. 

Der merkwürdige Film war "Adams Äpfel" von Anders Thomas Jensen und ich habe ihn mittlerweile wohl zehnmal gesehen.  Mein allererstes Mal mit Mads Mikkelsen! 

"Wilbur Wants To Kill Himself" (Mads als Doktor), Men and Chicken" (Mads als charmante Folge von Inzest), "Dänische Delikatessen" (Mads als Fleischergeselle) und heute abend: "Riders of Justice", Gerechtigkeitsreiter oder, wie es der deutsche Verleih entschied "Helden der Wahrscheinlichkeit" (Gott hilf bei verdeutschten Titeln, ich dachte erst, es handele sich um eine Dokumentation über Statistiker.) 

Kurze Abschweifung, Mads Mikkelsen: wo Hollywood erwartbare Varianten von Bösewichtern sieht, es sei ihm sehr gegönnt, sehen seine skandinavischen, meist dänischen Regisseure, alles mögliche, Lehrer, Ehemänner, Pfarrer, Ärzte, einen Soldaten, was weiß ich, und er verwandelt sich. (Und mit seinem prägnanten und unüblich schönen Gesicht ist das noch einen Zacken toller.) Ich vermute er amüsiert sich prächtig in seinem Zwitter-Dasein.

"Helden der Wahrscheinlichkeit", der Film macht Sprünge zwischen Rachedrama, Komödie, Klamotte, philosophischem Diskurs und psychologischem Drama, die nicht funktionieren können und es doch tun. Er ist ernst und albern, tieftraurig und bedient gleichzeitig die erwarteten Klischees, er ist weise und zutiefst unsicher, ob seiner "Weisheit".

Die Frage nach dem Sinn des Lebens fand ich immer schon blöd, der Sinn des Lebens muß das Leben sein. Aber trotzdem kann ich nicht verhindern, dass, wenn mir Unglück geschieht, die Frage nach dem WARUM? im Hirn tobt. Gibt es Schuldige an diesem, meinem Unglück? Wäre dieses, mein Unglück verhinderbar gewesen? Habe ich mein Unglück verdient? 

Ein Ver-Zweifler erzählt eine Geschichte, weil er die Willkür des Lebens und des Todes etwas entgegensetzen will. Und was kann er entgegensetzen? Eine Geschichte.

Troja wird erobert, seine Bewohner versklavt, wir erzählen uns ihre Geschichte. Ein dreissigjähriger Jude in Galiläa predigt gewaltlosen Widerstand und wird gekreuzigt, wir erzählen uns seine Geschichte. Die Toten der Pest, der Kriege, der Unmenschlichkeit, sie sind tot und nichts bleibt von ihnen, als ihre  Geschichten.

Samstag, 16. Oktober 2021

ICH HABE EINE MEINUNG. ODER ZWEI. ODER ...

William Shatner aka Captain Kirk der USS Enterprise fliegt im stolzen Alter von neunzig Jahren für zehn Minuten, oder waren es elf und eine Unsumme in den Weltraum, Prinz William, 39, Herzog von Cambridge, ohne Beruf, meint, "es gäbe „fundamentale Fragen“ hinsichtlich des CO2-Ausstoßes von Flügen in den Weltraum. Wichtiger als nach bewohnbaren Planeten im Weltall zu suchen, sei die Suche nach Lösungen für den Klimawandel."  (Zitat: Merkur.de)

Ein Professor an der Universität von Michigan zeigt Studenten und Studentinnen seines Kurses für Komposition, um ihnen den Weg vom Stück "Othello" zu Verdis Oper gleichen Namens zu veranschaulichen, eine Aufzeichnung des einer Inszenierung mit Lawrence Olivier in Blackface von 1965 ohne vorherige Triggerwarnung. Schock, Erschütterung, Briefe, Entschuldigungen, mehr Briefe, der Professor muss den Kurs verlassen. (NYT)

Frau Heidenreich redet im Fernsehen Dinge, die ziemlich platt und auf fade Pointen aus wirken und wird dafür verurteilt, als hätten sie das Vierte Reich ausgerufen. (Markus Lanz)

Herr Nuhr ist ein mittelguter Kabarettist, David Chappelle ein großartiger mit sehr eigenen Meinungen zu Rassismus und Transphobie, Mrs. Rawling äußert diskutierbare Ideen, gegen alle drei wird mit Wortkanonen geschossen, als wären sie gewissenslose Kannibalen, die unschuldige Babies zum Frühstück vernaschen. (verschiedene Quellen)                                               

Habt Meinungen. Habt zwei oder drei, so viele ihr wollt. Verteidigt sie. Stellt sie zur Diskussion. Kämpft um sie. Aber vergesst nicht, dass es (nur) eure Meinungen sind.

Es gibt wissenschaftliche Fakten und Meinungen und die sind nicht das gleiche. Faktisch, statistisch, wissenschaftlich beweisbar die einen und offen für Befragung, Zweifel, Ambivalenzen die anderen.

meinen: ‘eine bestimmte Ansicht haben, annehmen, denken’, althochdeutsch meinen (8. Jh.), mittelhochdeutsch meinen ‘sinnen, (nach)denken, seine Gedanken auf etw. richten, (feindlich oder freundlich) gesinnt sein, einem etw. angenehm machen.                                                            (DWDS)

Meine Meinungen sind meine Ansichten, sind, wie ich auf etwas schaue, es einordne, damit es zu mir und meinen anderen Meinungen passt. Andere haben andere Meinungen und noch andere reden einfach nur Müll. Ja, die gibt es auch, sie verweigern sich aus Denkfaulheit oder Ignoranz oder anderen traurigen Gründen wissenschaftlichen Fakten und meinen, dass wäre trotzdem ok. Nein, die Erde ist nicht flach, nein, Covid ist keine Erfindung einer Geheimen Weltregierung, um uns auszurotten, zu chippen, zu dezimieren. Viren sind fucking real. 

Wenn Du Dir nicht 100 prozentig sicher bist, informiere Dich, höre zu, denke nach und 

HALT DEN MUND, AUCH WENN ES DIR MÜHE MACHT,

bis du mehr weißt, und dann bleib dabei oder ändere deine Meinung und das ist auch ok, denn gute, schlaue Leute ändern ihre Meinung, wenn sie dazulernen, wenn sie Gründe finden, neu und anders zu denken. 

Dienstag, 12. Oktober 2021

Verwickelte Zustände

2021 Deutschland. Die Wahl in Berlin ist so chaotisch und regelwidrig abgelaufen, dass, wäre dies ebenso in Weissrussland abgelaufen, weltweit alle anständigen Demokraten mit gutem Recht nach Wahlwiederholung geschrien hätten.

2021 Deutschland. Wir streiten miteinander über die rechte Art zu gendern, Diskrimination zu verhindern, Minoritäten zu ihren Rechten zu verhelfen. Wir schreien einander nieder, beschuldigen einander, setzen zunehmend engere Grenzen. Wer hat die moralische Oberhoheit? Und was macht er dann damit? Interessiert uns die Meinung der "schweigenden Mehrheit" überhaupt noch? Und wenn nicht, warum nicht? Weil wir schlauer sind? Weil die blöd, reaktionär und unbelehrbar sind?

2021 Deutschland. Insgesamt hat die AfD an Zustimmung verloren. Aber in zwei östlichen Bundesländern hat sie mehr als 30 Prozent der Stimmen gewonnen. In Thüringen und in Sachsen. Warum? In Dresden wird jedes Jahr eine Minute in Erinnerung an die Bombardierung geschwiegen, in Erinnerung an die Bombardierung Dresdens, nicht der von Coventry oder Londons. Menschen, die jahrzehntelang in einer wirklichen Diktatur gelebt haben, mit allem was dazu gehört, Geheimdienst, Verhaftungen, Folter, Wahlfälschung und realer Lügenpresse schreien wutenbrannt über Impfdiktatur und Fake-News. Haben wir nichts gelernt? Über unsere Feigheit, über unsere Geschichtsvergessenheit, über unseren Unwillen endlich uns selber auch in die Verantwortung zu nehmen?

2021 Deutschland. Ein Covid-Test kostet jetzt 19,90 €, nur Menschen, die nach medizinischer Indikation nicht geimpft werden dürfen, Kinder und Hartz IV Empfänger sind ausgenommen, soweit ich weiß. Was heißt das? Ich will nicht geimpft werden, aber will ins Kino, in eine Gaststätte oder vergleichbares und zahle jetzt fast 20 € Eintritt, den Genesene und Geimpfte nicht bezahlen müssen. Als Impfgegner, Impfzweifler fühle ich mich sowieso schon als Teil einer mißachteten Minderheit (Die Impfquote soll deutschlandweit bei ca. 75 Prozent liegen. Jepee!) Und jetzt wird auch noch mein Portemonnaie angegriffen. Ich bin ein Opfer!

2021 Deutschland. Mein Kollege Jan Josef Liefers verbringt eine Schicht auf einer Intensivstation, zwei Schwangere sterben in dieser Zeit an Covid, ihre Babies werden gerettet. Er ist erschüttert, aber zum impfen mag er nicht auffordern.

Aber auch: ich gehe als Geimpfte in ein Restaurant, auf dem Weg zum Tisch mit Maske, am Tisch, Maske runter, zum Klo, Maske rauf, macht das wirklich Sinn? 

2021 Deutschland. Habt ihr auch manchmal Angst, dass sich ein Freund oder Bekannter überraschend als Querdenker outen wird? Was dann? Vernünftig diskutieren? Ignorieren und auf bessere Zeiten hoffen? Abhaken und trauern? Verzweifeln?

Paul Alexander, Jahrgang 1946, ist einer der letzten Menschen, der in einer eisernen Lunge lebt. 1952 erkrankte er im Alter von sechs Jahren an Polio / Kinderlähmung. Die Krankheit zerstörte seine Muskeln einschließlich seines Zwerchfells, lähmt ihn vom Hals abwärts und lässt ihn nicht mehr atmen. https://www.immerda-intensivpflege.de/lebensmut-trotz-schwerer-krankheit/

2021 Deutschland. Und von der uns allen drohenden menschheitseiten tödlichen Klimakatastrophe mag ich gar nicht reden.

 



 

Samstag, 9. Oktober 2021

Ordnung ist mein halbes Leben

Ordnung ist mein halbes Leben. Naja, nicht das halbe, aber ich bin schon ganz schön ordentlich, aber eigentlich nur, weil ich völlig chaotisch bin. 

Und ich war einst ein fröhlicher Chaot, Klamotten, wo sie fielen, zu spät, zu früh, wo ist mein Ausweis, schon wieder zu spät - und dann kam das wirkliche Leben und um 6 Uhr begann die Frühschicht im Krankenhaus und später dann um 10 die Probe im Theater und aus mir wurde, als Rettung in der Not, eine Preussin, die ihr Chaotentum in den Griff bekam, indem sie seitdem immer überall zu früh eintraf.

Also kurz gesagt, ich war unordentlich, schlampig und desorganisiert, aber dann geschahen zwei entscheidende Dinge. Erstens wurde ich Untermieterin einer zauberhaften Frau, die noch konfuser war als ich, und ich mußte, aus Gründen des Überlebens und um nicht völlig zu verwahrlosen, anfangen mich und mein Chaos in den Griff zu bekommen. Und zweitens begannen die Gene, die meine Eltern mir schenkten, ihre zeitlich verzögerte Wirkung zu zeigen. 

Ein Beispiel, mein Vater sortierte seine Bücher nach Kategorien und alphabetisch. Und wo stand die Bibel? Unter "Große Philosophen", das machte Sinn, aber auch unter "G", wie Gott, Autor. 

Mit solchen Vorbedingungen, wie konnte ich der Lust zur Ordnung entkommen? 

Meine Bücher sind nur nach Kategorien geordnet. Nein, alphabetisch, nie. 

 

 
Aber mein Geschirr ist nach Farben sortiert, meine Kleider ebenfalls, ich schreibe viele Listen und bin mehr als überpünktlich. Mazel, Schicksal oder Genetik. Wer weiß. Hätte schlimmer kommen können. Meine Eltern waren wenigstens keine Nazis oder ähnliches Gesocks. Ordung ist mein halbes Leben, aber die andere Hälfte ist immer noch ein einziges Chaos.

HUMANS IM CHAMÄLEON

Elf Akrobaten aus Australien erzählen Geschichten über unseren Körper, mit Können, Eleganz, Zärtlichkeit und Muskeln. Ich habe eine Stunde und zehn Minuten lang nicht mein Sodawasser getrunken, nicht weggeguckt, nicht aufgehört zu staunen.

Zu was menschliche Körper in der Lage sind, wenn sie so phantastisch gut trainiert, so aufeinander konzentriert, so intelligent choreographiert sind. (Regie: Yaron Lifschitz)

Es beginnt mit zwanzig Minuten, in denen sich die Elf zu wilden Streichern mit wunderbarer Musikalität die Bühne erobern mit Salti aller Arten, Flick Flacks, Sprüngen übereinander, Gleitern untereinander durch, Hebungen, Würfen, Falltricks, präzise, überraschend, schnell und gedehnt und rasend. 

Ich habe dauernd die Schulter meiner Freundin gepackt, das mache ich immer, wenn mein Herz doppelt schlägt. Ich entschuldige mich hiermit bei ihr.

Dann folgen mit fließenden Übergängen thematische Soli, Pas de deux und Gruppentänze, eine Szene über die Verzweiflung, darüber, dass wir unseren Ellenbogen niemals mit unserer Zunge berühren werden können, musikalisch begleitet von "To dream the impossible dream", eine über die Wunder, die Arme vollbringen, wenn die Beine sich verweigern, eine ungewöhnlich erotische Liebeswerbung zu "Please, please, please" von James Brown, bei der die Begehrenden mal kopfüber tanzen, oder auf dem Gesicht des anderen stehend, oder zum Päckchen verstrickt in des Partners Armen hängend. Kleine, zarte Mädchen heben große Kerle, ein sehr großer Mann trägt sechs Menschen auf seinen Schultern, die Varianten der Verschlingungen menschlicher Wesen scheint endlos, Kamasutra, Escher, Palucca, La la la Human steps, Zirkus und Clownerie, was es gibt, wird genutzt.

Und wie sorgsam sie miteinander umgehen, während sie ihre Körper schinden und doch so wirken, als wären sie noch nicht am Limit, es wäre noch mehr möglich. Sie geben alles und bewahren sich einen Rest. 

In letzter Zeit hatte ich im Theater des öfteren das Gefühl, ich schulde dem Regisseur, den Darstellern meine Aufmerksamkeit und genüge ihren Anforderungen nicht wirklich, heute abend haben mir elf Artisten einen Genuss geschenkt.

https://chamaeleonberlin.com/de/shows/humans/#a_company_in_residence

Sonntag, 29. August 2021

EIN THEATERABEND

Ein Theaterabend.

Er ist lang. Ich darf nicht in Gemütlichkeit verfallen.

Die Ästhetik ist karg & makellos, der für das Licht notwendige Theaternebel pufft allerdings immer noch deutlich sichtbar von dem Ort, an dem die ihn produzierende Maschine steht, bevor er sich elegant verteilt. Das Licht ist präzise, die Übergänge weich, unmerklich, das zusätzliche Neon des Bühnenbildes sichert ab, dass es nicht schön aussehen darf und ist immer leicht zu grell.

Die Musik erklingt ohne Unterlaß und begleitet oder führt die emotionalen Bögen der Inszenierung, Bassteppiche, wechselnde Rhythmen, langsam anwachsende Intensität auf ein Crescendo hin, langer Nachklang. Emotionale, dramaturgische Wendungen, Spannungsmomente, auch das, was man gemeinhin Ausbrüche nennt, selbst die wortlosen Phasen sind durchkomponiert. Ich werde akustisch beim Ohr genommen und geleitet. Dabei ist es wichtig, dass die Lautstärke über weite Strecken leicht über dem mir angenehmen Level liegt. Das trifft auch für die Mikroports der Schauspieler zu.

Die Schauspieler. Tolle Leute dabei.

Sprechduktus, Bewegungstempo, Blickrichtung sind mit leichten Abweichungen, für alle Darsteller gleichermaßen festgelegt. Ein Wort, zwei Worte, drei sind die Ausnahme, Pause, ein Wort, zwei Worte, die Ausnahme. Die körperliche und geatmete Anspannung ist konstant hoch, Momente der Entspannung, Unterspannung, Abwesenheit werden vermieden. Stille und Stillstehen kommen nicht vor. Brüche sind unerwünscht. 

Kann mich ein Schauspieler aus sich heraus ohne akustische Beihilfe beim Kragen nehmen und hinreißen?

Hier sind Strenge gegen die Spieler und Strenge gegenüber dem Publikum angestrebt.

Nicht mein Interesse, mein Vergnügen, mein Zorn sollen angesprochen werden, ich werde zum Teil einer Gemeinde bestimmt, zum Teilnehmer eines Gottesdienstes, eines vermuteten antiken Rituals.

Vielleicht ist es Teil meines Erbes als Bewohner der DDR, dass ich konstanter Erregung gegenüber, sei es Begeisterung oder, wie an diesem Theaterabend, Ergriffenheit, eine mißtrauische, widerborstige Ablehnung zeige.

Der Wettkampf des Intensiven mit dem Noch-Intensiveren ermöglicht keinen Gewinner.

Ungebrochenes Leiden, unbefragte, weil nur ertragene Tragödien, ohne den notwendigen Zweifel, der lebensrettenden Irritation: warum ist es geschehen und wie hätte es vermieden werden können, entlassen mich ärgerlich, hilflos und erschöpft.





Montag, 16. August 2021

Bestürzte Beobachtung.

Ich poste auf Facebook meine Irritationen, mal schlau, mal unbedacht und junge, bzw. jüngere Menschen antworten mit Gegenmeinungen, Erklärungen die ich nicht unbedingt teile, aber nachvollziehen, verstehen kann. Gleichaltrige und Ältere antworten häufig aus ihrer biographischen Verzweiflung heraus, andere vertreten die vermuteten Interessen der Jungen mit geradezu emphatischer Wut. 

Alter ist keine eineindeutige Wertungs-Kategorie, manche alte Meinungen haben sich als überlebt und verwerfbar erwiesen, andere sind aus konkreten Erfahrungen gewonnen und haben Bestand. Das gleiche gilt für die Meinungen der Jungen. Sie können Dinge denken, die neu und aufregend sind, alte Bequemlichkeiten in mir in Frage stellen und fragwürdige Gewissheiten entblößen. Und manchmal geraten sie in alte Fallen und werden moralisierend, monolithisch, selbstgerecht und, so denke ich, reaktionär. 

Alte, weiße Männer - eine Un-Kategorie - weiß, rosa, beige, verschiedenste Schattierungen von Hautfarbe.

Nur scheint momentan selten ein offenes, interessiertes Gespräch über solche Widersprüche möglich zu sein. Entweder / Oder. "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich." Unterstellungen nehmen ihren Lauf und, was ich besonders hasse, mir wird erklärt, was ich eigentlich wirklich denke. 

Ich denke alles Mögliche. Ich will alles Mögliche denken dürfen. Das ist der Vorteil einer Demokratie, alles darf gedacht werden und auch befragt, gesagt, diskutiert werden. Nur wenn Schaden droht, Menschen gefährdet werden, greift der Staat ein. 

Bemerkung am Rande: Wenn die BVG das Wort "Schwarzfahren"  aussortiert, wirkt das wie vorauseilender Gehorsam, aber vor wem eigentlich? Schwarzfahren stammt ab von dem jiddischen Wort "shvarts", dass heißt Armut. Ist arm sein, möglicherweise auch un-woke? Das wäre zu begrüßen, wenn damit Armut abgeschafft würde.

Ob ich gendere oder nicht ist meine Sache. Und ich muß damit leben, dass andere Leute anders denken. Ob ich Triggerwarnungen für Verhätschelungen halte, die Auseinandersetzungen mit der wirklichen Welt verhindern oder nicht, it's open for discussion. Ich muß aushalten, dass Menschen glauben, die Welt wäre flach, Darwin sei ein Idiot, den Klimawandel gäbe es nicht. Aber, mir scheint, die Akzeptanz meiner Mitmenschen für Abweichungen von der festgelegten Norm nimmt ab. Und das zu einer Zeit, in der die wirklichen Abgründe noch tiefer zu werden scheinen.

Jeder, der nicht meinen Tod, meine Selbstauflösung, meine Unterwerfung fordert, jeder, der mir meine Existenz mit ihren irrationalen Komplikationen zugesteht, jeder, der sich nicht unumstößlich sicher ist, dass er im Recht ist, fühle sich hiermit eingeladen, sich mit mir zu streiten.


Sonntag, 15. August 2021

Ein Caesar Salat, nur ein bisschen anders.

New York ist für mich, among many other things = unter anderem, der Inbegriff des perfekten Ceasar Salates, gewaltig groß, frisch, beißend, überraschend. Die Stadt ist laut, schnell, zu schnell, dreckig und dieser klare, heftige Salat ist wie eine Erholungspause von all der Überforderung, eine klare Ansage, eine Feststellung von Geschmack, eine Auszeit von der Menge der Eindrücke.

Zuhause in Deutschland, in allen möglichen Städten begegneten mir viele Versionen von etwas, dass sich Ceasar-Salat nannte, alle lascher, unentschiedener, im schlimmsten Falle geradezu unerkennbar.

Woraus besteht das Wunderding? Aus Romanasalat, Olivenöl, Zitrone, Knoblauch, Anchovis, Parmesan.

Und wem das nicht reicht, der gibt Worcestersauce (Hä?), Dijonsenf (Ok.), Croutons (Naja!), oder gebratene Hühnerbrüste dazu.

Ich nicht.

Nun hier eine Variante, die ich (wieder einmal) von Nigella Lawson gestohlen habe: Romanasalat halbieren und mit der geschnitten Seite nach oben in eine Backform legen. Ofen auf etwa 210 Grad aufheizen, über die Salatherzen ein Dressing aus 2 Eßlöffeln Olivenöl, einer zerdrückten Knoblauchzehe, dem Saft einer halben Zitrone und dem Abrieb ihrer Schale träufeln, dann in den Ofen schieben und circa 10 Minuten abwarten. Zwischenzeitlich ein oder zwei Spiegeleier braten bis das Weiße fest, das Gelbe aber noch flüssig ist. 

Den Salat aus dem Ofen holen, Parmesan drüber reiben und das Spiegelei oder die Eier drauflegen.

Die Salatstrünke sollten noch Biß haben, damit man was zum Beißen hat.

Warmer Salat, klingt gräßlich, ist aber ein Genuß.

Freitag, 25. Juni 2021

THE WORLD ACCORDING TO MARVEL

SPOILERWARNUNG FÜR ALLE BISHERIGEN MARVELPRODUKTIONEN!

ICH LIEBE SUPERHELDENFILME. 

Was kann ich zu meiner Verteidigung sagen? 

Meine Mutter hat als Emigranten-Kind in Los Angeles Comicbücher gesammelt und mußte sie zurücklassen, als es zurück nach Deutschland ging? (Inclusive Superman Heft 1!) Und sie hatte ein Faible für die Thorfilme, tja, blonde witzige Männer, ihr "Ekke"-Komplex. Es war ein Riesenspaß mit ihr, imerhin schon achtzigjährig, mit Popcorn und Cola und Drei-D-Brille bewaffnet, diesen wahrlich gut gemachten Trash zu gucken. Jetzt ist sie fort und unser Kino am Potsdamer Platz auch, Disney Plus und alleine gucken ist nicht dasselbe. Aber; coranabedingt, tue ich es doch.

Ich liebe auch andere, ernsthafte Dinge? Manche Menschen, das Wort ist nicht genderbar, (oder?) lieben Torte, manche Proust, manche mathematische Gleichungen. Ich halt, unter vielem anderen, SUPERHELDENFILME

Wikipedia liebe ich auch, aber nur ein bisschen: Liebe (über mittelhochdeutsch liep, „Gutes, Angenehmes, Wertes“ von indogermanisch *leubh- gern, lieb haben, begehren) ist eine Bezeichnung für stärkste Zuneigung und Wertschätzung.

SUPERHELDENFILME. Marvel, DC eher weniger. 

Kevin Feige hat die meisten dieser Filme produziert. X-Men und Deadpool laufen zwar extra, werden aber sicher noch zueinander finden. Herr Feige ist schlau, klug, ob aus Geschäftssinn oder weil er die Welt beobachtet und ihrer Veränderung folgt oder aus einer Mischung von beidem. 

Noch in Iron Man II wurde Scarlett Johansson von Iron Man lässig mit ziemlich sexistischen Bemerkungen begrüßt, Heute hat Marvel mit Wonder Woman, Captain Marvel, Black Widow, der Valkyrie, Wanda Maximoff, Storm, Jean Grey und anderen viele starke, eigenwillige weibliche Frauen in Hauptrollen. 

Captain America ist schwarz. Endlich. Vor drei Jahren habe in Washington Square Park in New York Black Panther im Freilichtkino gesehen, einen tollen Film mit fast ausschließlich schwarzen Besetzung und auch im Publikum waren wir als Weiße in deutlicher Minderzahl. Was für ein Erlebnis, einmal für zwei kurze Stunden Film aus der anderen Perspektive, der nicht "wichtigen", zu erleben

Wanda Vision erzählt von PTSD und gibt uns gleichzeitig eine Geschichte der Vorabendserie. Ich habe sicher nicht alle Referenzen erkannt: I love Lucy, Die Partridge Familie, Verliebt in eine Hexe, Zauberhafte Jeannie, Mary Tyler Moore.

18.00 Uhr bis 18.30 und dann eine weitere halbe Stunde bis 19.00 Uhr, das war zwischen 7 und 13, also 1965 und 1971 meine erlaubte Fernsehmenge an Wochentagen.

Und jetzt Loki, die Serie. Die Infinity-Stones als Briefbeschwerer in einer anderen Zeitebene? Hamlets Vater starb durch einen Schlaganfall, Mephisto war Klempner, Shen-Te eigentlich ein Mann, Bachs 9. hat Mozart komponiert - WTF? Mal sehen, wo das noch hingeht.

Überhaupt die Unverschämtheit mit der Mythologien und sämtliche Science Fiction Motive der letzten zweihundert Jahre und gleichzeitig unsere jetzige Zeit aufgesaugt und durchgeschüttelt werden, ist ein Abenteuer. Zeus & Co kämpfen gegen Aliens (Wonder Woman), ein AI will die Welt retten und sie zu diesem Zweck auslöschen (Age of Ultron), Kämpfe auf einem fiktionalen Balkan und in einem der Kolonialisierung entkommenen High-Tech Land in Afrika (Sukovia & Wakanda), Nazi-Super-Bösewichte und Sozialrevolutionäre (Captain America & The Falcon and the Winter Soldier), der Kalte Krieg und Space War. Und immer Familienaufstellungen, feindliche Brüder, unerreichbare Väter, geliebte, leidende Mütter.

Für mich ist es, als sähe ich meine Welt durch ein Kaleidoskop, amerikanische Superpowervisionen treffen auf gebrochene Helden und die Unvermeidbarkeit einer witzigen Bemerkung. Die Kämpfe interessieren mich weniger, aber das Spiel zwischen manchmal irritierendem America First Gehabe und den irren Typen, die dafür kämpfen oder in diese Kämpfe hineingeraten und die überraschend glaubwürdigen Verdrehungen in die sie hineingeraten, ist mein Spaß.

ICH LIEBE SUPERHELDENFILME.


Sonntag, 13. Juni 2021

Machtmißbrauch, Sexismus, Rassismus = Theater?

Die, meist schmuddeligen Bretter, die mir, irrerweise, immer noch die Welt bedeuten, haben einen ganz eigenen Geruch. Schweiß, geflossen aus Angst und Leidenschaft, Schminke, fettig und süßlich, Staub, immer Staub, erhitzter Staub unter Scheinwerfern, kalter Staub wiederverwenderter Kulissen, die Ausdünstungen von Menschen, spielender Menschen, Menschen im Lampenfieber, helfender Menschen, schauender Menschen. Und die Ausdünstungen aller vergangenen Vorstellungen, der gelungenen und der vergeigten, vermischen sich in diesem stinkenden, duftenenden Mischmasch. Menschen, die diesen Geruch lieben, sind nicht besonders, aber eigenartig. Sie stürzen sich in einen Beruf, der weder sozial, noch finanziell vielversprechende Angebote macht, die Arbeitszeiten sind Scheiße, Anerkennung ungewiss, aber sie, wir wollen, wir müssen diesem Duft nachjagen. Junkies, hooked on theatre.

Seit September 2020 habe ich den nicht mehr gerochen. Ein Junkie auf Entzug.

Machtmißbrauch, Sexismus, Rassismus = Theater?

In letzter Zeit lese, höre ich, wenn über diesen für mich magisch parfümierten Raum gesprochen wird, mindestens einen der drei anderen Begriffe auch. 

Es fing ganz wunderbar an, endlich wird das archaische Machtsystem des deutschen Stadttheaters in Frage gestellt. Endlich. Das Ensemblenetzwerk gründet sich, der GDBA wacht auf. Ein Aufbruch in wütender Liebe zum Theater.

Die Organisationsform des deutschen Stadttheaters wurzelt im Feudalismus und bewirbt sich gleichzeitig um Aufnahme ins Weltkulturerbe. 

Bei Wiki finde ich, dass "ursprünglich am feudalen Hof ein Intendant der Verwalter des (z. B. königlichen oder fürstlichen) Fundus oder der Kleiderkammer war, im Absolutismus bezeichnete man hiermit den Steuereintreiber." Die nahezu ungebremste Machtfülle des Intendanten begünstigt seinen Mißbrauch dieser Macht. 

Die Gagen für die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler sind geradezu lächerlich niedrig und ungerecht verteilt zwischen den Geschlechtern, wie allerorten, zu Ungunsten der Frauen. Regieassistenti*innen werden noch schlechter bezahlt und heftiger ausgebeutet. Die Arbeitszeiten aller Leute mit NV Solo-Verträgen sind empörend schlecht geregelt. 

Regisseur*innen verwechseln ihre vereinende, zielgebende Aufgabe mit intellektueller Überlegenheit und herablassender Berechtigung, weil sie es können und verletzen das zerbrechliche, kostbare Verhältnis von Schauspieler*innen und Regisseur*innen immer wieder durch Rücksichtslosigkeit, Ungeduld und mangelndes Talent.

Also gilt es, neu nachdenken, andere, zeitgemäßere Organisations- und Schutzformen zu entwickeln.

Aber allmählich beginnt sich der Ton der Diskussion zu verändern. In diesem schrecklichen Jahr, in dem die Theater nicht spielen konnten, verwandeln sich diese Orte vor meinen lesenden Augen in schlammige, tiefschwarze Abgründe, in denen notgeile weiße Männer hilflose Mitarbeiter*innen  verfolgen, systemischer Rassismus ungehindert Amok läuft, von Angst geschüttelte Schauspieler*innen unter menschenunwürdigem Druck arbeiten. Eine "toxische", systemisch rassistische, ergo kunstfeindliche Umgebung in der ich seit vielen, vielen Jahren meine produktive Zeit verbringe.

Die katholische Kirche wirkt im Vergleich wie ein kinderbespaßendes Bällebad. 

Was habe ich nicht mitbekommen? Während ich inszeniert habe an kleinen, mittleren und großen Theatern und mit freien Gruppen?

Alle Welt und ihr Onkel entschuldigt sich schnellstens und glaubwürdig. Abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass man sich selbst ent-schulden kann, bezweifle ich auch, dass auf diese Art neues Verständnis entsteht. Öffentliche Kritik und Selbstkritik kenne ich gut aus meiner DDR-Schulzeit und habe es schon damals nicht gemocht, ein übles Ritual basierend auf moralischer Erpressung.

Mir scheint es fast so als würde hier keine neuen Kommunikationsformen gesucht, sondern Urteile gefällt, Strafen erlassen, Machtbereiche abgesteckt. Die weg, wir rein, und dann wird alls anders, besser. Eine monumentale, verzweifelte Selbstzerfleischung einer sowieso gefährdeten Kunstform, geführt in digitalen Foren mit Wortgewalt und gnadenloser, verallgemeinernder Wut

Der Stücke-Kanon muß weg ist noch einer der harmlosesten Verbesserungsvorschläge. Kleist weg. Schiller weg. Shakespeare weg. Weil ihre Figuren nicht unserer positiven Erwartung an den modernen Menschen entsprechen. What the fuck? Die meisten Menschen entsprechen nicht unseren Erwartungen. Das ist die Freude unseres Berufes, zu versuchen Konstellationen und Biographien zu verstehen, die uns vollkommen fremd scheinen und sich letztendlich als bekannt entblößen.

"Wenn wir unsere Vergangenheit nicht kennen (verstehen), werden wir keine (bessere) Zukunft haben." Was in klarem Deutsch heißt, wir machen den selben Scheiß wieder und wieder.

Irgendwann geht mir in diesen Auseinandersetzungen die Kunst verloren. 

Ich bin ziemlich alt, weiß, jüdisch, weiblich und noch viele andere Dinge. Das heißt was? Ich sollte besser gar keine Meinung haben? Meine Meinung ist sowieso systemisch rassistisch? Mich mochten Leute nicht, weil mein Nachname sie ärgerte, oder weil ich eine laute Frau war, oder weil ich aus dem Osten war. So what the fuck?

Wie werden wir probieren, wenn wir nicht mehr angstfrei, grenzenlos spinnen können? 

Sind alle Ankläger Opfer, die in gerechter Wut aufbegehren? Welche Eigeninteressen spielen eine Rolle? Könnten wir uns darauf einigen, nicht grundsätzlich selbstgerecht zu sein?

Ich habe in meiner Zeit als Theaterarbeiter nicht den Eindruck gehabt, es ginge hier grundsätzlich anders zu, als in der übrigen Welt. Soziale Abhängigkeit und Unsicherheit führt zu Ungerechtigkeit und sind ein gewöhnlicher und immanenter Teil des kapitalistischen Systems, in dem wir alle leben. 

Sind wir sauer auf uns selbst, weil wir besser verdienen, wenn wir uns nicht ganz treu bleiben? Verkaufen wir unsere Besonderheit für Anwesenheit in der Presse? Sind wir neidisch? Haben wir unrealistische Ansprüche? Ist Opfer sein ein Alleinstellungsmerkmal?

Wollen wir Gerechtigkeit? Für jeden? Gibt es die? Wo? Wie?


Beide Bilder sind Ausschnitte eines Frescos an der Decke des Domes in Florenz.