Sonntag, 22. November 2020

DAs C-WORT XXVIII - Dummbatzen, Egoisten und welche, die nicht zu Ende denken, auch wenn sie es gut meinen.

Anne Frank & Sophie Scholl - kein Vergleich scheint nunmehr zu hanebüchen, keiner zu schamlos. 

In Halle setzt ein Nazi den Lockdown mit dem, was Anne Frank durchleben und letztendlich durchsterben mußte, gleich. Auf einer anderen Demo vergleicht ein von den Eltern geschultes Kind, seine durch Corona eingeschränkte Geburtstagsfeier mit Anne Franks Schicksal. Auf noch einer anderen Demo erklärt sich eine junge Frau zur Leidensgenossin von Sophie Scholl, da auch sie unter großer Gefahr für die Freiheit kämpfe. Ein entnervter Ordner benennt die Unverschämtheit ihres Vergleiches und sie verläßt, vermutlich gekränkt weinend, die Rednertribüne. 

"Wir sind das Volk", das stimmt und stimmt keineswegs. Da reissen sich, tief in ihrer kleinbürgerlichen Ehre gekränkt, verängstigte, feige Mitbürger die aufregenden, ambivalenten Ereignisse von 1989 unter den Nagel und machen sie zu Dreck.

Seit der Noch-Präsident der USA den bisher für uns, die gesegnete "Erste" Welt, geltenden demokratischen Gesellschaftsvertrag aufgekündigt hat, breitet sich eine Infektion, die nicht von biologischen Viren verbreitet wird, pandemisch aus.  

Mein Lieblings-Rabbiner, Jeschajahu Leibowitz, hat einmal gesagt, dass das einzig Gute an der Demokratie sei, dass man nach Ablauf der Wahlperiode jemand anderen wählen kann. 

"I won the vote." Und wenn er es nur oft genug wiederholt, wird es zur Wahrheit, zu dem was 70 000 000 - in Worten 70 Millionen - amerikanische Bürger als wahr ansehen könnten. Ubu Roi wird übertroffen.

"Wir sind das Volk." Sind sie es? Wer bin ich? 

Anti-Rassisten verweigern die Solidarität mit Bekämpfern des Antisemitismus, Juden lieben Trump, weil er Friedensverträge mit arabischen Staaten ermöglicht hat (Hat er?), LGBTQ gegen Cis-Weisse, Genderbewegte gegen Sprach-Traditionalisten, jeder gegen jeden, zu einem Zeitpunkt wo nichts wichtiger wäre als Solidarität.

Ich bin ratlos und trage meine Maske und halte Abstand und kotze in meine Ellenbogenbeuge.

Freitag, 30. Oktober 2020

Volker Pfüller - Ein guter Mann

 

IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN!

Ich war also gewarnt, aber lag trotzdem falsch. 

1978, Alexander Lang inszeniert "Miss Sara Sampson" von Gotthold Ephraim Lessing, das zentrale Trio: Gudrun Ritter, Katja Paryla und Christian Grashoff. Ich, zwanzigjährig, spiele meine erste wirkliche Rolle, die Tochter der Marwood, Arabella, sitze in Volkers Bühne, in dem von ihm entworfenen Kostüm und bin gänzlich ahnungslos, überwältigt in Liebe - zum Theater. 

1981, wieder Alex, wieder Volker, diesmal Büchners "Dantons Tod", im schönsten Kostüm meines Lebens, in einem roten Raum schwebe ich im weißen Empirekleid, ein totgeweihter Engel, weiß geschminkt umschattet von Rot, Ahnung der drohenden, kommenden Brände. Volker hat es mir so sehr leichter gemacht.

Volker, ein gutaussehender Riese von einem Kerl, stabil und warm, idealer Kontrapunkt zu Alexanders schlacksiger Intensität. Immer unangestrengt elegant gekleidet, was schon an sich eine Sensation war in unserer höchst unkleidsamen DDR. 

Er war unser Ruhepunkt.

"Ich habe Theater eigentlich gemacht, weil ich gerne Theater gemacht habe." V.P.

1986, Stella, immer weint eine von uns Frauen, Volker beruhigt, Alex verrät uns nicht, dass wir das Satyrspiel zu Medea sind, das Lachen des Premierenpublikums ist ein Schock. Aber unsere Kostüme, Kleider überlegt mit Gaze, den Schatten der Vergänglichkeit, unsere Gesichter ins Extrem geschminkt, tragen uns durch die Verwirrung.

1995, die Dreigroschenoper, Volker muß betonieren, Alex, irritiert von der Unterhaltsamkeit des Materials, kämpft dagegen an. 120 Vorstellungen machten Mühe.

Ich beginne, mich als Regisseur auszuprobieren. In den Kammerspielen des DT, mein erster Shakespeare, die Zähmung der Widerspenstigen: Volker entwirft die Kostüme. Was waren die bunt und wild und eigenartig. Inge Keller, als Matrone trug einen Hut mit Ente, den habe ich besonders geliebt. Die klassische Gassenbühne, ihre Zentralperspektive ins Extrem getrieben,  erdachte Phillip Stölzl, einer seiner Studenten.

Er hat Türen geöffnet für Begabungen, ihnen Möglichkeiten eröffnet, uneigensüchtig.

Zu Premieren verschenkte er seine Kostümentwürfe, zauberhafte Vorahnungen unserer Rollen.

Für ein Lina Werthmüller Musical in Bremen baute er mir einen italienischen Eissalon in hellblau, rosa und creme, die Schwangerschaft der zentralen Figur verbildlicht durch ihren wachsenden Bauch mittels einer im Sofa versteckten Gasflasche.

Mein Vater in seiner letzten Rolle am Theater 89, Ein Kind unserer Zeit von Horvath, Volkers Plakat trifft es auf den Punkt, ein Mann verstirbt ohne Widerwehr auf eine Bank im Schnee.

Die Kinder-Tier-Gedichte meines Vater illustriert von Volker - er wußte wie Kinder schauen, ohne sie zu verharmlosen.

Dann haben wir uns eine Weile nicht gesehen, wie das so passiert am Theater.

Jahre später in einer kleinen Galerie in der Chausseestrasse, ich tippe ihm auf die Schulter, er dreht sich zu mir um, sieht mich an und sagt: Ich freue mich, dich zu sehen. Ein Glücksmoment. Ich erwerbe einen wunderbaren Holzschnitt von Beckett, so filigran, dynamisch. Er begleitet mich, neben meinem Schreibtisch, täglich.

So tut es auch sein Mann in Rot und eben seine Neujahrskarten.

Wenn die die sterben, die nicht sterben sollten, ist es besonders schlimm. Und viele Arschlöcher leben so sehr lang. 

Ein Künstler und ein Gentleman, wie oft gibt es das? Zu selten.


IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN! 

Corona 2020 und dann ist auch noch Volker ist gestorben, kurz nach einer letzten Premiere mit Sascha Stillmark in Rudolstadt - er hatte ein gutes Leben, glaube ich.

Donnerstag, 8. Oktober 2020

DAS C-WORT XXVII - Ich bin überfordert, wer nicht.

Ganz Berlin ist ein Corona-Hotspot, die BVG streikt, die Liebigstrasse soll geräumt werden (Link zum Manifest der Besetzer weiter unten.), der infizierte panische Noch-Präsident inszeniert sich als wiederauferstandener Messias, in Peru liegen Kranke in Turnhallen, Brasilien brennt, Berg Karabach auch, Belarus und Syrien und Moira und und und...

Ich war im Theater.

Im Deutschen, bei Polleschs "Melissa kriegt alles". Es beginnt mit der Videoeinspielung eines sich füllenden Zuschauerraums und den Reaktionen des Publikums auf das Bühnengeschehen aus dem ursprünglichen "The Producers"-Film von Mel Brooks. 

Wenn ihr diesen Film irgendwo sehen könnt, tut es, Gene Wilder und Zero Mostel, besser geht es nicht. Zero Mostel ist ein jüdischer Komiker alter Schule und Gene Wilder hieß eigentlich Joel Silberman, zusammen schenken sie uns die ganz große Kunst des aus Verzweiflung geborenem absurden Theaters. Die Neuverfilmung ist leider flach. (Mehr Informationen zu Zero Mostel weiter unten.)

"Melissa kriegt alles". Die obligate, regelmäßig dazugehörende, übliche, unvermeidliche Brechtgardine, Kathrin Angerer spricht den ersten Satz: Ein Brief! Melissa kriegt alles? Damit ist Melissa abgearbeitet. 

Worum geht es? Um den Draufblick, den Fremdblick auf sich selbst, auf die Bühne und uns selbst, um episches Theater und die Dialektik, um Brechts "Die Mutter" und die zum modischen Zitat verkommene russische Revolution, um Mütter als Kämpfer und Mütter als männliches Wärmebild, um die Intendantin Helene Weigel, wie immer unterschätzt, um einen Bankraub ohne Bank, eine Pizzeria ohne Pizza, um die tödlichen Kämpfe des Circus Maximus und unser ungefährlicheres Guckkastentheater, dass uns aber auch vom endlosen Zwang des im Kreisen stattfindenden sich ewig wiederholenden Tötens befreit hat, um Trance als Reaktion auf unvereinbare Wahrheiten, Fake News, um die Macht des Autoren über die Spielweise, den "Ton" des Spielers, wobei ich vermute, dass sich Pollesch hier der implizierten Ironie bewusst ist. Wie immer bei Pollesch renne ich seinen Gedankensprüngen hinterher, obwohl ich diesesmal einige Wiederholungen gut hätte missen können. 

Aber dann für Momente ein wunderschöner Gedanke beim Sinnieren über neues und altes Theater: der Faustkeil, uralt und uns doch noch immer von nöten. Nicht immer "ist alles Neue, besser als alles Alte", das Neue bedarf des Alten.

Ich wünschte Frau Angerers Stimme würde mit ihr altern, denn dem letzten Text über die Verzweiflung darüber, das man seinen Kuchen nicht haben und essen kann, dass immer ein Entweder / Oder gefordert wird, wo man doch beides ersehnt, hätte einer erwachsenen Stimme bedurft. 

Komisch, dass selbst Pollesch manchmal bei Frauenfiguren ins Klischee verffällt. Allerdings fehlte heute die zweite weibliche Darstellerin, Katrin Wichmann, vielleicht wäre sie ein der Kontrapunkt gewesen. 

Der Applaus war schön. Alle waren so froh mal wieder im Theater zu sein. Die auf der Bühne und wir unten.

http://liebig34.blogsport.de/ 

Zero Mostel - Wiki schreibt: Während der McCarthy-Ära wurde er 1955 vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe vorgeladen. Mostel weigerte sich vor dem Ausschuss sowohl sich selbst zu belasten wie auch andere zu denunzieren und berief sich dabei auf den 5. Zusatzartikel der Bill of Rights. Er wurde daraufhin auf die Schwarze Liste gesetzt und auch mit einem Berufsverbot belegt. Siehe auch "Der Strohmann" von Woody Allen

 

Samstag, 3. Oktober 2020

Das C-Wort XXVI - Ups!

Der Plan. Meine Freundin und ich wollen in den Herbstferien verreisen, nach Budapest. Ich bin nicht mehr dort gewesen seit irgendwann in den frühen 80ern und Judith hat gute Freunde dort. Perfekt. Die Donau, Jugendstilbäder, tolle Eiscreme und jede Menge schöne Erinnerungen an die Vaci Utca und ihre Buchläden gefüllt mit Westbüchern. Herr Orban versucht seit Jahren mit großer Macht dieses Land in seine private Diktatur-Spielwiese zu verwandeln, aber noch hat er nicht gewonnen. Oder? In die Türkei würde ich augenblicklich nicht reisen. Nach Polen? Europa verändert sich.

Stop. 

Neue Überlegung: was ist mit unserem Carbon-Footprint, na gut, wir könnten mit dem Zug fahren. Aber sollten wir gerade jetzt überhaupt ins Ausland fahren? Vierzehn Tage Quarantäne im schlechtesten Fall. Und das in einem Land, in dem wir nicht mal ein kleines bisschen die Sprache verstehen. Ja ist igen, Restaurant etterem. Da hört's schon auf. Übrigens, Quarantäne heißt karantén. 

Stop.

Unsere Reise nach Budapest wird auf ungenaue Zeit verschoben. Nicht schlimm. Ein läppisches Luxusproblem.

Wir entscheiden uns für eine Inlandreise. Wird es Foer oder Bayern? Nach Bayern ist die Anreise kürzer. Bayern it will be.

Stop.

Und jetzt ist Berlin-Mitte, da wo ich wohne, ein Risikogebiet, ein Hotspot. Was wir für neue Wörter kennenlernen. Fahren wir trotzdem? 

Immer mehr werden als infiziert erkannt, Gott sei Dank, sterben nicht mehr so viele. Noch nicht? Hat sich der Virus verändert, ist die Zielgruppe jung genug, keine üblen Folgen erwarten zu müssen? 

Stop.

Ich weiß es nicht.

Stop.

 


Donnerstag, 1. Oktober 2020

Zweimal Becket und Pierrot Lunaire mit Dagmar Manzel in der Komischen Oper in Szene gesetzt von von Barry Kosky.

Dagmar, meine pünktlich punktuelle Freundin über Jahrzehnte. Wir sehen uns ewig nicht, aber wenn, dann ist es immer gut. Sie ist es, derentwegen ich meine Laufbahn als Schauspielerin an den Nagel gehängt habe. Ich war gut, sie war berauschend. Außerordentlich. Ereignis.

Die Komische Oper in Zeiten von Corona, die meisten Sitze sind mit rotem Samt abgehängt, dazwischen, in komplizierter Hygiene-Ordnung, verstreut in Zweier- und Dreiergruppen, wir wenigen Zuschauer. Auch die Saaldecke ist abgehängt, aber nicht wegen Corona, sondern wegen akuter Baufälligkeit.

AKT 1: NOT I - NICHT ICH

Der Text soll nach Mister Becketts Wünschen sehr schnell gesprochen werden. Die Uraufführung in den USA durch Jessica Tandy dauerte 24 Minuten und der Autor kommentierte: "Sie haben mein Stück zerstört." Billie Whitelaw erarbeitete es mit dem Dichter und Lisa Dwan schaffte es in 9 Minuten und 50 Sekunden und auch noch mit irischem Akzent. Der Kopf muß starr sein, um das Licht zu fangen, der Körper nahezu bewegungslos, das Gesicht mit Schwarz abgedeckt, bis auf den Mund. Eine Tortur, eine Trance, ein heiliges Märtyrium. 

DER MUND. Er spricht über den Tod hinaus, will er das Leben festhalten, was das Tempo notwendig machen würde? Wenn die Toten zu uns sprechen könnten, welche gewichtigen Wahrheiten könnten wir von ihnen erfahren? Was erfahren wir über uns in der "letzten" Sekunde?

Eine ungeliebte, einsame, alte, sprachlose Frau spricht, erbricht in letzter Not Sprache. Es spricht aus ihr. Nicht sterben wollen. Nicht sterben können, weil sonst alles umsonst gewesen ist?

Ein Mund, zuerst ganz klein, Lippen, Zähne, Zunge, Rachen, mit der Zeit vergrößert mein Auge ihn. Er könnte mich verschlingen.

AKT 2: ROCKABY

Ein Schaukelstuhl, ein Fenster, zugezogene Jalousien, eine Einsamkeit. Sterben, sterben. "Mehr". Ein Jalousie wird hochgezogen. Nicht aufhören, nicht sterben, nicht ohne Hoffnung sein, Hoffnung auf was? Hoffnung auf wen? Dann doch sterben. 

Der Schaukelstuhl schaukelt, wippt, stoppt, schaukelt weiter, wippt. "Wipp sie weg!"

AKT 3: Pierot Lunaire

Ein Kind träumt poetische und böse Träume. Es will lieben, es will töten, der Mond ist sein fremder Freund.

Wie leicht Dagmar dies alles erscheinen lässt, als wäre es die natürlichste Sache der Welt sich so zu äußern. Ich bin gefordert, muß Aufmerksamkeit aufbringen, Konzentration. Welch einen Luxus uns das subventionierte Theater bietet: Kunst, die nicht auf allgemeine Zustimmung angewiesen ist. Und doch äußerst dringlich ist.


Montag, 28. September 2020

DIE GROSSEN TRAURIGKEITEN UNSERER GESCHICHTE

Durch Zufall bin ich wieder einmal auf "Kuhle Wampe" gestossen, diesen alten Film, dieses uralte Doku-Drama, das alle Ossis mit Filmaffinität irgendwann mal gesehen haben. Ernst Busch spielt und singt und auch Herta Thiele. Berliner Arbeiter demonstrieren, reden, leiden, lieben. Wie "Menschen am Sonntag" aber mit Klassenkampf. 

Ich stoße auf den Namen eines der Autoren: Ernst Ottwald, geboren am 13. November 1901 in Zippnow, heute Sypniewo, in Westpreussen; gestorben am 24. August 1943 in einem sowjetischen Lager bei Archangelsk. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Mitglied beim Freikorps, dann folgte der harte Umschwung zur KPD. 

1932 haben Slatan Dudow, Bertolt Brecht und er dieses Drehbuch geschrieben und den Film realisiert. 1932!

Bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 stand sein Werk auf der Schwarzen Liste; sein Name war zusätzlich mit einem Kreuz versehen, um ihn als einen der „eigentlichen Schädlinge oder zu kennzeichnen, „die auch für den Buchhandel auszumerzen wären“. (Wiki)

Es folgte die Flucht über Dänemark und die Tschechoslowakei nach Russland. Gerettet. 1936 gerät er aber dort im Zuge der infernalischen stalinistischen Säuberungen unter Spionageverdacht, wird 1936 verhaftet und zur Zwangsarbeit in ein Lager bei Archangelsk deportiert. Dem Vorschub geleistet hatte Georg Lukács mit seinem Verdikt in einer Kritik von Ottwalts Romanen: „Es bedarf nicht langer Erörterungen, um klar zu sehen, dass solche ‚Helden‘, ohne mit ihren Verfassern identisch zu sein, doch deren Klassenlage treu widerspiegeln.“ Seine Frau Waltraut Nicolas, die ebenfalls verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt wurde, erfuhr erst viele Jahre später von seinem Tod.(Wiki)

Solche Hoffnung, solcher Verrat. Wie überlebt man das? Wie lebt man danach weiter? Hatten wir jemals solche Hoffnung? Wurden wir jemals so enttäuscht? Aller Täuschungen beraubt? Überleben, weiter leben. Trotzdem. Wir sind schon eine lahme, verwöhnte Truppe. Oder? Ich möchte das wirklich verstehen, aber kann ich es?


Waltraud Nicolas wurde 1936 gemeinsam mit ihrem Ehemann verhaftet, kam für drei Jahre in Untersuchungshaft und dann wurde sie zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sie kehrte "schweigend" nach Deutschland zurück, überlebte und verstarb 1963.




II

Wir sahn zuviel. Wir sind zu schwer beladen

Mit Lastern, Lügen, Wahn und Grausamkeit,

Mit allen Schrecken dieser wilden Zeit,

Was sollen wir an friedlichen Gestaden?


Wir wissen schon zuviel von Tod und Grauen,

Nun fürchten wir uns vor den hellen Straßen.

Wir lebten unter Schatten; wir vergaßen,

Was Liebe heißt und Lächeln und Vertrauen.


Rührt uns nicht an, laßt uns vorübergehen!

Vergeßt, daß wir vor langen, langen Jahren

Lebendige und eure Freunde waren!


Wir haben zuviel Last mit uns gebracht;

Ihr würdet unsre Sprache nicht verstehen

Denn euch gehört der Tag und uns die Nacht.


III

Wir zögern noch und bleiben häufig stehen,

Wir traun noch nicht dem Wunder, das geschah;

Uns scheint, es müßte gleich wie Rauch vergehen

Und altes Grauen wäre wieder da...


Wir haben es verlernt, ins Licht zu sehen,

Wir kannten nur das Nein und nie ein Ja;

Was unsrer Sehnsuch nur im Traum geschehen,

Ist uns auf einmal so erschreckend nah,


Daß unsre Hand sich scheut, es zu erfassen,

Als könnte rascher Zugriff es zerstören,

Und wandeln in Vernichten und Verneinen;


Das Dunkel hat uns noch nicht losgelassen,

Und manchmal, wenn wir Kinder lachen hören,

Dann möchten wir beiseite gehn und weinen.

Waltraut Nicolas: Schattenland. Sonette. Hoffmann und Campe Verlag Hamburg 1948, S. 22/23.

(Textauszug S. Jenkner)

Freitag, 25. September 2020

Thailändischer Nudelsalat mit Rind und Tamarinde & Warmer Blumenkohlsalat mit Kichererbsen und Granatapfel

Was die Menschen in den unterschiedlichen Klimazonen an eßbaren Pflanzen gefunden haben, ist überwältigend. Granatapfel und Tamarinde, im Zuge meiner Do-it-yourself Kochausbildung lerne ich ständig Neues kennen. Für beide Rezepte muß man vorher zu einem guten Asia-, bzw. Lebensmittelladen gehen, aber der Weg lohnt sich. 

Wenig unverbrauchte Reste. Kräuter im Topf halten übrigens länger, wenn man sie von unten gießt. Granatapfel erzeugt fiese Flecken auf allem, wenn man nicht aufpasst beim Entkernen, z.B. auf der Tapete. Aber seine frische, vorbeihuschende Süße ist sehr sexy. Tamarinde kannte ich bisher nur aus den gegen Verstopfung helfenden Früchtewürfeln. Sauersüß und etwas mehlig.  

Thailändischer Nudelsalat mit Rind und Tamarinde 

Zu Besuch eine Karnivorin, die auch Salat mag und Schärfe, ich wollte nicht zu viele Kohlenhydrate, ach, schnell sollte es auch gehen. Perfekt.

Wieder aus Marion's Kitchen entlehnt.

Die Zutaten:

Steak oder Filet

Glasnudeln

PflanzenöI

4 kleine rote Schalotten, zerhäckselt

½ Gurke geschnipselt

100g Kirschtomaten halbiert

1 Chilischote zerkleinert

½ Tasse Minzblätter zerschnitten

¼ Tasse Thaibasilikum, wenn es gemocht wird

Das Dressing: 

1/2 Tasse Öl (z.B. Raps), 3 El weisser Essig, 2 El brauner oder Palmzucker, 1 El  Tamarindenpaste, 1/2 zerdrückte Knoblauchzehe, Koriander, Chiliflocken, Salz nach Gefühl

Limettenschnitzen zum Servieren.

Die Marinade: 

1 El Fischsauce, 1 Tl braunen oder Palmzucker

Die Zubereitung:

Das Steak 10 Minuten in der Marinade einlegen

Glassnudeln in 2, 3 Minuten in heißem Wasser einweichen. Wasser abgießen, mit der Schere etwas handlicher schneiden und in eine Schüssel legen.

Pflanzenöl bei hoher Hitze im Wok heiß werden lassen, das Steak auf jeder seit 1 Minute lang anbraten, Hitze runter, 2 bis 3 Minuten weiterbraten. Dabei immer wieder wenden. Auf einen Teller legen, ruhen lassen, dann in Scheiben schneiden.

Die Nudeln mit den Zwiebelchen, den Rinderstreifen, Kirschtomaten, dem Chili und dem Basilikum vermischen. Das Dressing darüber gießen und gut durchmischen. Mit Limettenvierteln servieren.

Essen.

Schmeckt ganz leicht, saftig und würzig. Wir haben anstatt der Tomaten, Chinakohl verwendet.

Warmer Blumenkohlsalat mit Kichererbsen und Granatapfelkernen

Erfunden von Nigella Lawson, schnell gemacht, unaufdringlich orientalisch und vielfältig im Geschmack. 

Die Zutaten:

3 El Olivenöl

1/2 Tl Zimt

2 tl Kreuzkümmel

1 kleiner Blumenkohl zrteilt in Röschen

400 g Kichererbsen aus der Dose

Harissa nach Vorliebe

Granatapfelkerne

Petersilienblätter glatt

Die Zubereitung:  

Ofen auf 200 Grad vorheizen.

Öl in eine Schüssel gießen, Zimt und Kreuzkümmel dazu und gut vermischen. Blumenkohlröschen von allen Seiten darin wälzen. Dann in eine Backform legen und 15 Minuten brutzeln lassen. 

In die unabgewaschene Schüssel die Kichererbsen kippen und je nach Bedürfnis mit Harissa würzen. Mischen. Tomatenviertel rein. Mischen.Nach den erwähnten 15 Minuten, die gewürzten Kichererbsen und Tomaten über den Blumenkohl kippen. Mischen. Nochmal 15 Minuten in den Ofen.

Aus dem Ofen nehmen, salzen (brauchte ich nicht), Granatapfelkerne darüber streuen und die Petersilienblätter auch und als Beilage ein Löffel Jogurth.

Essen. 



Freitag, 18. September 2020

62 - Es ist besser alt zu werden, als tot zu sein.

Mein Körper ist eine unfaßbar aufregende und herrliche Maschine. 

Bedenkend, was ich alles von ihm verlange, was ich mit ihm anstelle, ist es unfassbar, wie gut er arbeitet, wie zuverlässig, wie geduldig. 

Wie lang ist die durchschnittliche Laufzeit moderner technischer Geräte?

Bei einer Angiographie durfte ich mein Herz sehen, zart, eine Akeleiwurzel, die rhytmisch und elegant ihren zarten Tanz aufführt, der mich am Leben hält. Seit 1958.

Meine Lungen akzeptieren, notgedrungen, das Nikotin, das ich täglich in sie hineinatme. Meine Leber nimmt mir meinen Whisky nicht übel. Meine Galle, meine Niere, meine Därme, meine Bauchspeicheldrüse, sie und viele andere Organe, Adern, Nerven, Sehnen, Muskeln versehen bisher zuverlässig ihren Dienst, mit nur einem Zweck, dem Erhalt meiner Person. 

Und dann die Neuronen und all die anderen durch sie vernetzten Teile meines Hirns - ich denke Mist, ich denke Kluges, ich habe tolle Ideen und dämliche, ich fühle, ich verdränge, ich erinnere mich, ich vergesse - so sehr viel zu tun, und meine "graue Masse" tut seit 62 Jahren dafür ihr Bestes. Ok, Namen sind nicht ihre Stärke, dafür liefert sie exotische Details mit verlässlicher Schnelle. Den Zugang zu ihr zu verlieren, ihre Dienste nicht mehr verlässlich zu erhalten, ist meine größte Angst.

Bisher. Ein bisschen Ärger mit den Zähnen, Paradontose, Implantate helfen, Ödeme auf den Stimmbändern, OP und ich habe immer noch die Rechte an meiner kratzigen, dunklen Stimme. Wasser im Ohr, ein großartiger Arzt hilft, ich kann bis heute sehr gut hören. Proktologische Untersuchungen im Jahresrhytmus, mein Vater ist am Darmkrebs gestorben, kleine Schnippeleien und mein Leben geht weiter.

Insertionstendopathie gluteus medius rechts. Die aktuelle Irritation. Mein rechtes Bein muckert, will nicht so, wie ich es will. Dieses rechte Bein läuft für mich seit 60 Jahren, über Stock und Stein, beim Kinderwatscheln, sportivem Langlaufen, ziellosem Herumwandern, beim Betrachten großer Städte und coronabedingtem Spazierengehen in Berliner Parlks, es läuft, es läuft, und nun will es gerade nicht so richtig. Das darf ich ihm nicht übelnehmen. Mein Gluteus Medius darf nach 62 Jahren auch mal meckern. Das Recht muß ich ihm zugestehen. Ich will meinen Körper nicht als zu besiegenden Feind enmpfinden, sondern als geliebten Mitarbeiter

Der gluteus maximus. Ein schöner Hintern ist eine Freude.

Sonntag, 13. September 2020

Kulturwochenende in Berlin am Ende des Sommers

1
Joachim Meyerhoff liest aus seinem Buch "Hamster im hinteren Stromgebiet".

"ZEIT IST HIRN"

Wir sind sehr viele an diesem Spätsommernachmittag im Freilichtkino Friedrichshain bei einer Veranstaltung von Radio 1. Ganz ungewohnt, solche Menschenmassen. Maske tragen bis zum nummerierten Platz, der Abstand wird eingehalten, die Stimmung ist lässig. Es ist angenehm warm, aber während der anderthalbstündigen Lesung fallen Blätter auf mich. Noch ist Sommer. 

Meyerhoff hat mit knapp über 50 einen Schlaganfall erlitten. Schlagartig hat ihn etwas angefallen. Die Bühne ist sehr weit weg, ein winziger Mann sitzt an einem Tisch und liest seinen Text in ein Mikrophon. Er hält mein Interesse, ich kichere, lache sogar. Das könnte auch mir passieren, jetzt oder morgen. Schwingt da Angst in meinem Lachen? Er ist ein ok Schreiber, aber ein großartig genauer Erinnerer. 

Was seine Kinder, die er ganz offensichtlich sehr liebt, über seine Beschreibungen denken, würde mich interessieren. Jedenfalls bin ich irgendwie froh, dass mein Vater seine Eindrücke meiner Teenagerzeit nicht veröffentlicht hat.

2
RomCom nennen es die Amis, Romantische Komödie, Kiss Me Kosher von Shirel Peleg. Die Produktion entstand an 27 Drehtagen in vier Sprachen – hauptsächlich in Englisch sowie teilweise in Deutsch, Hebräisch und Arabisch - in und um Tel Aviv und Jerusalem.

Die Synchronisation ist die böseste Krux des Films. Eigentlich reden die Figuren in Englisch, Hebräisch und Deutsch und Arabisch miteinander, eigentlich haben sie heftige Akzente, verstehen sich nicht oder nur halb, die deutsche Synchronisation läßt nichts davon erahnen. Die Großmutter zum Beispiel, Deutsch geboren, mit vier Jahren von ihren Eltern versteckt, die im KZ umkamen, und von einer Deutschen gerettet, nach dem Krieg vermutlich nach Israel geflohen und sie raucht Kette - ihre deutsche Stimme spricht ohne Spuren von Jiddisch, ohne Gefühle für die Sprache mit der sie aufwuchs und die sie hassen lernte, ohne die Folgen, die Kettenrauchen auf die Stimmbänder hat. Als wenn man einen Film über den Turmbau zu Babylon in einer allen verständlichen Sprache drehen würde. Faul und unachtsam. Schade.

Dass der Film trotzdem halbwegs funktioniert ist ein Wunder. Moran Rosenblatt & Luise Wolfram spielen das zentrale Liebespaar. Luise Wolfram sieht aus wie die Wiederkunft aller herrlichen Renaissanceportraits, ihre Schönheit unirdisch, ihr Spiel ganz geerdet. Moran Rosenblatt verschenkt ihren Charme freigiebig. 

 

 

Schön, dass das Nicht-Problem der Geschichte die lesbische Liebe ist. Es gibt genug andere Konflikte, den Holocaust, den arabisch-israelischen Dauerkrieg, Palästina, unterschiedliche Erwartungen an eine Beziehung und ehemalige Liebhaberinnen. Ein Film, der der deutschen Falle fast entgeht, er wird fast nie bedeutungsschwanger, immer kurz vorher wird geschnitten oder ein Witz gemacht.

3
Galerie-Wochende in Berlins Mitte - Andreas Greiner - Olafur Eliasson - Andreas Gursky - Robert Capa 1945.

Bei Capa habe ich geheult. 1945, das erste Rosh-ha-Shana nach der Verwüstung in einer kleinen Berliner Synagoge, die noch steht, die Betenden sind amerikanische Soldaten und Überlebende. So viel Trauer in den Augen und Körpern. 

Greiner sollte man sich unbedingt ansehen. Hatte den Namen noch nicht gehört. Er photographiert Bäume, den Wald. Den sterbenden Wald. Ohne Sentimentalität. Seine Bilder sind so bearbeitet und verpixelt, dass sie wie 3D Ölgemälde aussehen. Eine künstliche Intelligenz hat aus 10 000 seiner Harz-Bilder ein Video erschaffen, der Soundtrack ist Mendelsohn-Bartoldys Chorwerk "Abschied vom Walde" in extremer Verlangsamung. Kiefern. Grüne Kiefern. Tote Kiefern. 

Eliiasson - ich habe schon bessere Arbeiten von ihm gesehen, aber immer wieder beeindruckt mich die Verbindung von Technik, Licht und körperlicher Erfahrung, die er ermöglicht.

Gursky - ein Bauhausgebäude in weiß und rot, vier Kanzler von hinten und eine Madonna mit Kind.

Freitag, 11. September 2020

Tasche geklaut - Stop - Und nun?

Ein Treffen in einem Cafe in der Nähe meiner Wohnung, das Gespräch ist interessant, meine Tasche hängt an der Stuhllehne zum Fenster hin. Später rekonstruieren wir, dass ein junges Paar, mit "südeuropäischem" Akzent hinter uns Platz nahm, bestellte, bezahlte und ging. Und meine Tasche wohl mit ihnen.

Um 12 Uhr mittags im hellen Sonnenschein, stehe ich, ohne Schlüssel, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Telefon vor meiner verschlossenen Wohnung und begreife wie waghalsig ein Leben ohne in meinem Hirn abgespeicherte Telefonnummern sein kann. (Soll ich sie mir an unzugänglichen Körperstellen eintätowieren lassen?) Die Nummer meiner Eltern als ich Kind war, weiß ich noch, 424511. 

Vier Menschen haben einen Schlüssel zu meiner Wohnung, aber keine ihrer Nummer kenne ich auswendig. Verrückt, keine Nummer, außer meiner eigenen, die mir nichts nützt, weil mein Telefon im Besitz eines Diebes ist, der wahrscheinlich nicht mit mir reden will. 

Bei verschlossener Tür würde der Schlosser die Tür aufbrechen müssen, nicht gut, also muß jemand mit Schlüssel gefunden werden. Hingehen kann ich nicht, denn im Zusammenspiel von Ausweis und Schlüssel könnten die neuen Besitzer meiner Dinge leicht auch noch meine Wohnung besuchen, um von dort das eine oder andere mitzunehmen. Der netteste Hausmeister der Welt bietet mir sein Telefon zu Nutzung an. Ich kann googeln, aber wonach? Kein Mensch setzt seine Nummer noch ins Telefonbuch oder dessen digitales Equvivalent. 

Lange Rede kurzer Sinn, nach einer Stunde verschwitzter intelektueller Akrobatik, Gesprächen mit Fremden und Verwirrten, ist mein Kind, hilfreich wie immer, mit dem Rad und dem Schlüssel auf dem Weg zu mir. 

Zwischendurch bietet mir ein Nachbar Unterschlupf, eine anderer ein neues Vorhängeschloß für den Keller, ein dritter einen Apfel und ein Engel eine Zigarette an. 

Wohnung öffnen, noch alles da, Erleichterung, Schlosser kommt, reizend, gutaussehend, still UND kompetent, wechselt Türschlösser aus.

2688 Festnetz-Anrufe später, (Ja, ich habe noch Festnetz und eine Mailadresse bei AOL!) sind Karten gesperrt, neue bestellt, Anzeige erstattet, Telefon gekauft, gehortetes Bargeld gefunden, Freunde benachrichtigt. Bei den albernen Punktesammelkarten versuche ich es gar nicht, perdu, ein zauberhaftes, gemaltes "Ausweisbild" meiner damals etwa 8-jährigen Nichte auch. 

Der gestohlene Ausweis hatte das einzige gute Passphoto meines Lebens, photographiert in der deutschen Botschaft in London vor 12 Jahren im September, als mir schon einmal die Tasche entwendet worden war. Das neue biometrische Bild zeigt eine verkrampfte Frau mit einem Hängelied, die panisch versucht, den Kopf gerade zu halten und keinerlei Mimik zu zeigen. Etwas, dass mir, wie alle die mich kennen, wissen, sehr schwer fällt. Im Ergebnis sehe ich aus, wie eine mißmutige Kindermörderin.

Ein Absacker Gin Tonic und dummes Fernsehen beenden den Tag.

Um 3 Uhr früh stehe ich im Bett, der Schreck war angekommen.

Leicht sentimentale Fußnote: Die einzige Abbuchung, die von meinem Konto gemacht wurde, vor der Kartensperrung, waren 9 Euro 80 bei MacDonald.