Anne Frank & Sophie Scholl - kein Vergleich scheint nunmehr zu hanebüchen, keiner zu schamlos.
In Halle setzt ein Nazi den Lockdown mit dem, was Anne Frank durchleben und letztendlich durchsterben mußte, gleich. Auf einer anderen Demo vergleicht ein von den Eltern geschultes Kind, seine durch Corona eingeschränkte Geburtstagsfeier mit Anne Franks Schicksal. Auf noch einer anderen Demo erklärt sich eine junge Frau zur Leidensgenossin von Sophie Scholl, da auch sie unter großer Gefahr für die Freiheit kämpfe. Ein entnervter Ordner benennt die Unverschämtheit ihres Vergleiches und sie verläßt, vermutlich gekränkt weinend, die Rednertribüne.
"Wir sind das Volk", das stimmt und stimmt keineswegs. Da reissen sich, tief in ihrer kleinbürgerlichen Ehre gekränkt, verängstigte, feige Mitbürger die aufregenden, ambivalenten Ereignisse von 1989 unter den Nagel und machen sie zu Dreck.
Seit der Noch-Präsident der USA den bisher für uns, die gesegnete "Erste" Welt, geltenden demokratischen Gesellschaftsvertrag aufgekündigt hat, breitet sich eine Infektion, die nicht von biologischen Viren verbreitet wird, pandemisch aus.
Mein Lieblings-Rabbiner, Jeschajahu Leibowitz, hat einmal gesagt, dass das einzig Gute an der Demokratie sei, dass man nach Ablauf der Wahlperiode jemand anderen wählen kann.
"I won the vote." Und wenn er es nur oft genug wiederholt, wird es zur Wahrheit, zu dem was 70 000 000 - in Worten 70 Millionen - amerikanische Bürger als wahr ansehen könnten. Ubu Roi wird übertroffen.
"Wir sind das Volk." Sind sie es? Wer bin ich?
Anti-Rassisten verweigern die Solidarität mit Bekämpfern des Antisemitismus, Juden lieben Trump, weil er Friedensverträge mit arabischen Staaten ermöglicht hat (Hat er?), LGBTQ gegen Cis-Weisse, Genderbewegte gegen Sprach-Traditionalisten, jeder gegen jeden, zu einem Zeitpunkt wo nichts wichtiger wäre als Solidarität.
Ich bin ratlos und trage meine Maske und halte Abstand und kotze in meine Ellenbogenbeuge.
Ich glaube, daß Ihre Ratolsigkeit für einen funktionierenden Verstand spricht, wo alle, die sich ihrer Gewißheiten so sicher sind, ihn längst verloren haben.
AntwortenLöschenNach dem ersten Entsetzen, Wut, Abscheu über diese Aneignungen der Opfer des Nationalsozialismus frage ich mich. Wie kommt es dazu?
AntwortenLöschenVermutungen
Es ist jahrzehntelang versäumt worden, eine demokratische Kultur zu entwickeln. Politisches Handeln zu kultivieren. Demonstrationen waren weitestgehend Sache der „Linken“, der „Umweltschützer“ .
Die Instrumente demokratischen Mitwirkens lagen brach. Man kann nun natürlich sagen - selber Schuld. Klar. Ist aber auch eine Sache, das in Schulen beispielsweise zu vermitteln - die zahlreichen Möglichkeiten politischen Handelns, das über Alle-Vier-Jahre-zur-Wahl-gehen hinaus geht.
Nun geschieht das. Die Entdeckung: Man kann Demonstrationen angemelden. Jeder. Und das führt dazu, wahr genommen zu werden. Aber nicht dazu, Veränderungen der politischen Entscheidungen zu erwirken. Ein Gefühl von Ohnmacht.
Um dieses Gefühl von Ohnmacht wird auszudrücken, werden Vergleiche herangezogen. Die etwas verdeutlichen sollen. Ich fühle mich wie…
Die - wenn ich wohlwollend bin - hilflosen - Vergleiche schlagen hohe Wellen. Noch mehr Wahrnehmung. Fühlt sich gut an, richtig an, wenigstens wahrgenommen werden. Öffentlichkeit.
Wenn die Öffentliche Wahrnehmung sich so steigern würde, wenn sich mit Tieren im Schlachthof verglichen würde - würde man genau da ansetzen und weiter machen. Da schreit aber keiner auf, die Tiere im Schlachthof interessieren die Öffentlichkeit nicht. Das Barometer ist das Entsetzen - das ist der Kompass.
Das ist ähnlich wie die Hakenkreuze, Sieg heil Rufe, Glatzköpfe, Bomberjacken, die nach dem Mauerfall hochschwappten. Eine Mischung aus dem Funktionieren der Provokation und der Sehnsucht - Herr zu sein, oder jetzt als Opfer wahrgenommen zu werden.
Es ist schwer zu ertragen. Es ist unsere Geschichte.
Und es ist auch jahrelanges Sparen im Bildungswesen, jahrelanges einseitiges Leistungszüchten, jahrelanges einstimmen schon in den Schulen auf ein Funktionieren im Kapitalismus - Bildungspolitik: Wie können wir die Schulen noch effizienter, noch elitärer machen , für wenige alles, für den Rest runtergerockte Schulen, große Klassen, das Nötigste - bleibt da wo ihr seid.
Die Erzählung war einst eine andere: Die Stärke unseres Bildungssystems war gerade die, daß jede/r Abitur machen könnte und studieren - es gab Zeiten, da musste Bafög nicht zurück gezahlt werden.
Es ist sowohl an den Inhalten wie auch an den Strukturen geschliffen und gefeilt worden - bis sie schleifen und feilen.
Das Ergebnis: erleben wir.
Es gibt das eine nicht ohne das andere. Demokratie bedarf Pflege - in den Bildungsstätten, in dem Bewusstsein aller. Das sie nämlich gelebt wird.
Und auch wenn das schwer erträglich ist - daß diese Dame sich mit Sophie Scholl vergleicht - daß sie eine Demonstration anmeldet um zu Wort zu kommen ist etwas Gutes.
Und das sie jetzt öffentlich zerstört wird mit Häme - ist das gut?
In diesem Blog wurde sie nicht zerstört, auch nicht mit Häme. Aber zornig bin ich, denn ihr Vergleich ist nur ein Versuch in einer langen Liste der letzten Monate, wo solcherlei respektlose, diffamierende Verglaiche politisch eingesetzt werden. Das ist keine Hilflosigkeit, das ist 'Häme" gegenüber den Toten.
AntwortenLöschenDiese erwachsene junge Frau äußerte sich bewusst öffentlich, also wird ihr Auftritt öffentlich wahrgenommen - nicht nur mit Spott wegen ihres (tatsächlichen oder vorgetäuschten) Bildungsdefizits, sondern auch durchaus analytisch als ein weiteres Symptom für die absichtsvolle Bagatellisierung von Diktaturen, die zunehmend mit unglaublicher Hybris über Leiden und Sterben wirklicher Opfer hinweglatscht und damit Geschichte umzuschreiben versucht.
AntwortenLöschen"Ich fühle mich wie Sophie Scholl"... Das ist kein Vergleichen ihrer Gefühle mit den vorgestellten Gefühlen von Sophie Scholl, das ist eine gefühllose anmaßende Gleichsetzung.
(Philipe Lancon, Überlebender des Terroranschlags auf Charlie Hebdo, spricht von der Unhintergehbarkeit der Erfahrung.)
Vielleicht ist diese Aneignung der Namen von bekannten, berühmten Opfern des Nationalsozialismus auch eine Potenzierung der Haltung: Nun ist aber auch mal gut, wir möchten uns nicht mehr unserer Schuld erinnern - wir möchten mit ihr nichts mehr zu tun haben.
AntwortenLöschenAlso werden die Opfer banalisiert, indem sich Menschen mit Ihnen gleich setzen, sich Ihre Namen nehmen, wie Markenzeichen, wie eine Ché Guevara Mütze. Denen das nicht zusteht. Niemandem steht das zu. Es ist genauso verbrecherisch wie die Leugnung. Nur viel perfider und weitaus schlimmer - es ist zersetzend. Weil so vorzugehen die Realität der Vergangenheit überlagert und verrückt und zudeckt mit brauner Soße.
Die Relativierung der Ungeheuerlichkeit, der nicht in Worte zu fassenden Grausamkeit der Verbrechen des Nationalsotialismus hat aber schon lange vorher begonnen und wird nicht allein und gezielt von dieser Strömung von Menschen mit rechter Gesinnung betrieben.
Ihr Anlysebeitrag bietet einen hilfreichen Perspektivenwechsel. Ich habe beruflich mit diesem Bildungssystem zu tun, das Sie kritisieren. 'Dummheit', also den Nicht-Gebrauch des eigenen Verstandes, ist zunächst mal immer selbstverschuldet. Aber dem Gebrauch des eigenen Verstandes keinen Raum zu geben, keine Muße im bildenden Sinne des Wortes - das ist die Schuld unseres Bildungssystems. Da bin ich ganz bei Ihnen.
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