Donnerstag, 1. Oktober 2020

Zweimal Becket und Pierrot Lunaire mit Dagmar Manzel in der Komischen Oper in Szene gesetzt von von Barry Kosky.

Dagmar, meine pünktlich punktuelle Freundin über Jahrzehnte. Wir sehen uns ewig nicht, aber wenn, dann ist es immer gut. Sie ist es, derentwegen ich meine Laufbahn als Schauspielerin an den Nagel gehängt habe. Ich war gut, sie war berauschend. Außerordentlich. Ereignis.

Die Komische Oper in Zeiten von Corona, die meisten Sitze sind mit rotem Samt abgehängt, dazwischen, in komplizierter Hygiene-Ordnung, verstreut in Zweier- und Dreiergruppen, wir wenigen Zuschauer. Auch die Saaldecke ist abgehängt, aber nicht wegen Corona, sondern wegen akuter Baufälligkeit.

AKT 1: NOT I - NICHT ICH

Der Text soll nach Mister Becketts Wünschen sehr schnell gesprochen werden. Die Uraufführung in den USA durch Jessica Tandy dauerte 24 Minuten und der Autor kommentierte: "Sie haben mein Stück zerstört." Billie Whitelaw erarbeitete es mit dem Dichter und Lisa Dwan schaffte es in 9 Minuten und 50 Sekunden und auch noch mit irischem Akzent. Der Kopf muß starr sein, um das Licht zu fangen, der Körper nahezu bewegungslos, das Gesicht mit Schwarz abgedeckt, bis auf den Mund. Eine Tortur, eine Trance, ein heiliges Märtyrium. 

DER MUND. Er spricht über den Tod hinaus, will er das Leben festhalten, was das Tempo notwendig machen würde? Wenn die Toten zu uns sprechen könnten, welche gewichtigen Wahrheiten könnten wir von ihnen erfahren? Was erfahren wir über uns in der "letzten" Sekunde?

Eine ungeliebte, einsame, alte, sprachlose Frau spricht, erbricht in letzter Not Sprache. Es spricht aus ihr. Nicht sterben wollen. Nicht sterben können, weil sonst alles umsonst gewesen ist?

Ein Mund, zuerst ganz klein, Lippen, Zähne, Zunge, Rachen, mit der Zeit vergrößert mein Auge ihn. Er könnte mich verschlingen.

AKT 2: ROCKABY

Ein Schaukelstuhl, ein Fenster, zugezogene Jalousien, eine Einsamkeit. Sterben, sterben. "Mehr". Ein Jalousie wird hochgezogen. Nicht aufhören, nicht sterben, nicht ohne Hoffnung sein, Hoffnung auf was? Hoffnung auf wen? Dann doch sterben. 

Der Schaukelstuhl schaukelt, wippt, stoppt, schaukelt weiter, wippt. "Wipp sie weg!"

AKT 3: Pierot Lunaire

Ein Kind träumt poetische und böse Träume. Es will lieben, es will töten, der Mond ist sein fremder Freund.

Wie leicht Dagmar dies alles erscheinen lässt, als wäre es die natürlichste Sache der Welt sich so zu äußern. Ich bin gefordert, muß Aufmerksamkeit aufbringen, Konzentration. Welch einen Luxus uns das subventionierte Theater bietet: Kunst, die nicht auf allgemeine Zustimmung angewiesen ist. Und doch äußerst dringlich ist.


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