Dienstag, 14. August 2018

New York - Splitter 4

541,3248 Meter hoch ist das derzeit höchste Gebäude New Yorks, das One World Trade Center. 

In der Waagerechten gleicht die Skyline einer sehr unregelmäßigen Zahnreihe, oder einer surrealen Achterbahn. Klein neben riesig. Alt, einst groß, mit Art Deco Ornamenten neben schwarzem Glasquaderprotz. Hier ein mittelhohes Gußeisenbau, dann kurze schmale Ziegelhäuser, die plötzlich an futuristische angekippte Türme stoßen. Sexy sind die Senkrechten, alle Bauten streben nach oben, selbst noch die kleinsten Häuschen. 

Ich laufe wie ein Hans-Guck-in-die-Luft viel mit nach oben gerecktem Kopf durch die Strassen, denn manche Gebäude, die untenrum ganz gewöhnlich daherkommen, bieten in der Höhe die wunderbarsten Verzierungen. Halbsäulen mit prächtigen Architraven, wunderschöne unbenutzbare Balkone in schwindelnder Höhe, neogothische An- und Aufbauten. Stammt daher der Name von Batman's Gotham? Nein, Wiki weiß es besser.

Das Haus in dem wir freundlicherweise wohnen dürfen, ist aus rotbraunem Backstein,  schmal, mit vier Stockwerken, die Treppe steil und eng, die Dielen alt, knarrend und herrlich, keine Wand ist gerade. 






Alles außer Taxis und dem unablssig nachgeschenkten dünnen Kaffee ist teuer. Aber die Leute sind verblüffend freundlich, vielleicht nur oberflächlich, aber oberflächliche Freundlichkeit ist mir lieber als tiefgernstemeinte Grobheit. Jeder versucht dir eine genaue Wegbeschreibung zu liefern, die Kellner sind blitzschnell und wenn was nicht in Ordnung ist, wird es ersetzt, die Taxifahrer bedanken sich dafür, dass du Kunde warst - viele von ihnen sprechen genauso gut oder schlecht Englisch wie ich. Als ich meine Metrocard mitgewaschen hatte, hat mich die Transportlady "on the house" kostenlos U-Bahn fahren lassen. Ich hatte schon mindestens fünf nette Gespräche mit mir völlig unbekannten Leuten. Dabei muß das Leben in dieser Stadt anstrengend sein, alles ist teuer, die Mieten absurd, viele arbeiten in mehr als einem Job, das Transportsystem hat heftige Tücken, von der medizinischen Versorgung will ich gar nicht reden. Circa 20 Prozent der Bewohner dieser Stadt sind arm. Und wir treffen oft auf solche, die es gänzlich aus dem Alltag geworfen hat, durch Unglück, Armut, Krankheit, Trauma, Sucht. Ihre aggressiven Forderungen, theatralischen Ausbrüche oder unterwürfigen Bitten schneiden einen Riß in meine touristische Freude an dieser Stadt.

Montag, 13. August 2018

New York - Splitter 3

Wir laufen viel. Ich habe sehr dicke Füße. 

Es ist Wochenende und die vereinten Nationen von New York und seine Besucher sind unterwegs. Auffällig viele Inder, oder sind es Pakistani? Chinesen von hier und auch die aus China. Orthodox jüdische Familien in bedauernswert zu warmer Kleidung, die Frauen mit den welthäßlichsten Perücken und noch einer wollenen Mütze obendrauf. Amüsierwillige Vertreter aller Regionen und Religionen der Welt und ihre Kinder essen Eis und Hot Dogs und Falafel, natürlich halal, Dunkin Donats serviert garantiert koscher. Sie trinken literweise Wasser, strömen in Läden hinein und beladen aus Läden heraus, fahren in stickigen U-Bahnen,  die dauernd Störungen haben, weil die Folgen von Hurrikan Sandy immer noch nicht vollständig beseitigt sind. 

Wir starten in der 14. Strasse und lassen uns, eine Idee der Lieblingsnichte, von indischen Damen die Wimpern verlängern, die Frau im Nachbarsessel bekommt ihre Augenbrauen mit Hilfe eine zwischen den zwei Händen und Lippen der Kosmetikerin kunstvoll aufgespannten Fadens gezupft, es wirkt wie ein uralter indischer Tanz, allerdings nur mit dem Oberkörper ausgeführt. 

Danach mit der Subway zur 79. Strasse und Columbus Avenue.

Flohmärkte - gestern fielen sie ins Wasser wegen Regen, aber heute strahlt die Sonne und wir stöbern. Ein Mann gräbt am Ufer der New Yorker Flüsse nach altem Glas, ich habe von ihm eine kleine blaue Flasche von 1910 erstanden. 

Dann, weil an der Strecke gearbeitet wird, erst rauf zur 125. Strasse und mit dem Expresszug wieder runter zur 42. Strasse, dann von West nach Ost durch Manhattan Midtown und weiter zum Fährhafen an der 34. Strasse.   

Mit der Fähre über den East River nach DUMBO - Down Under the Manhattan Bridge Overpass - viele Stadtteile haben hier Kosenamen, Tribeca ist das Triangle Below Canal Street, Le Petit Senegal liegt an der 116. Strasse östlich des Morningside Parks, im Garment District, dem Textilbezirk, konzentriert sich die New Yorker Bekleidungsindustrie, es gibt auch den Diamond District, den Meatpacking District und den Theater District, in South of Houston Street verbirgt sich SoHo.

An einem kleinen Strassenkiosk kaufe ich ein weiches warmes Brötchen mit frischem Hummer aus Maine, nicht billig, aber köstlich! Überhaupt kann man sich hier durch die Köstlichkeiten der Welt fressen und auf Reisen nimmt man bekannterweise ja nicht zu.

Noch ein Flohmarkt unter der schon gestern zu Fuß überquerten Brooklin Bridge und dann zurück nach Manhattan mt der Fähre, weil schifffahren so schön ist, und dann fünf Blocks zu Fuß weiter zum Empire State Building, das die höchste Aussichtsplattform New Yorks sein eigen nennt. 

Wir haben die Tickets blöderweise nicht vorher online gebucht und müssen also warten. Lange warten. Einer der Einlasser versüßt das Herumstehen durch kurze King Kong Impros. Nach gefühlten 100 Stunden sind wir 86 Stockwerke hoch über New York. Gigantisch, ein Lichtermeer in der wahren Bedeutung des Wortes. Die anderen zwei Millionen Besucher, so wirkt es auf mich, können das allerdings nicht sehen, weil sie zu beschäftigt sind, sich selbst, einander oder das, was sie mit ihren eigenen Augen ansehen könnten, zu fotografieren. Noch nie war ich so kurz davor Leuten ihre Handys aus den Händen zu schlagen. Und das sage ich, der ich mein Handy liebe.

Wie schon erwähnt, wir laufen viel und ich habe sehr dicke Füße während ich dies schreibe.

Als Nachtrag zum Freitag: im Metropolitan Museum eine Ausstellung über die katholische Kirche und deren Einfluß auf die Mode. Heavenly Bodies - Himmlische Körper, ein passender Titel.


ENGEL VON HINTEN






UND VON VORN




Unwesentlicher Nachtrag: die Strafen für Angriffe auf Taxifahrer und Angestellte der New Yorker Verkehrsbetriebe unterscheiden sich erheblich. Wenn mann einen Taxifahrer schlägt, erwarten einen 25 Jahre Gefängnis, beim Busfahrer sind es nur sieben. Was mag das bedeuten?



  

Sonntag, 12. August 2018

New York - Splitter 2

Schlechtes Theater gibt es hier auch. Es gibt den Broadway und Off-Broadway und Off-Off-Broadway und wahrscheinlich noch unzählige Off-Off-Off-Off-Broadways und zahllose hart arbeitenden Truppen mit besten Absichten und wenig Zeit und noch weniger Geld. Gut gemeint ist leider furchtbar, wenn das Handwerk fehlt. Und warum ist Humorlosigkeit ein solch existentieller Bestandteil von Theater, das uns etwas nahebringen will?

Alle Flohmärkte wurden heute wegen mittelstarken Regens abgesagt. Die U-Bahn funktioniert am Wochenende nur partiell, da Hurrikan "Sandy" vielerlei Reparaturarbeiten nötig macht. Das kenne ich ja, ohne Hurrikan, von der Berliner S-Bahn.

Williamsburg in Brooklyn, einst vorwiegend Wohnstatt orthodoxer Juden, heute gentrifiziert und trotzdem sympathisch. 
Wiki sagt: Nach einem Artikel aus dem Jahr 2015 hat Williamsburg ungefähr 220.000 Einwohner, etwa 80.000 von ihnen sind Juden. 55 Prozent gelten als arm, weitere 20 Prozent bezeichnen sich als bedürftig.

Eine Konditorei in Williamsburg, eine Millionen verschiedener Kuchen und Torten, das Publikum, die Essenden, Fressenden nicht älter als 35. 

Über die Williamsburg Bridge laufen, die Brooklyn und Manhattan verbindet, ist wie alle Filme, die man je gesehen hat, auf einmal zu sehen. "Es war einmal in Amerika" im Rücken, "Spiderman" über dem Kopf und "King Kong" in der Aussicht. Heute gab es auch noch Nebel! WTF!!!! (What The Fuck) 



Die waagerechten Linien dieser Stadt sind völlig aus dem Häuschen. Klein, riesig, mittelgroß stehen nebeneinander ohne sich zu stören. Altes, was hier etwa 150 Jahre meint, und ganz Neues, Stahl und Glas und irritierende Verformungen, in brüderlicher Nähe. Aber die Senkrechten sind das, was sexy ist. Brutal und hart oder leicht und einladend. 


Groß und Klein in Manhattan





9/11 war, als der Krieg das sicher geglaubte Haus verwüstete. Ein Trauma für diese Stadt, wahrscheinlich für das Land. All die anderen Katastrophen der letzten 70 Jahre verblassen dagegen. Man soll Tote nicht gegeneinander aufrechnen, aber diese 3000 Ermordeten reihen sich in meinem Kopf in eine riesige Menge von Kriegs- und Terroropfern auf der ganzen Welt, besonders in der so überaus verächtlich als Dritte Welt benannten, ein. Hier aber werden sie wie Märtyrer verehrt. 
Ground Zero, der Bodennullpunkt, ein gigantischer Gedenkplatz. Für die zwei zerfetzten Türme werden sieben World Trade Center gebaut und ein Memorial Museum und ein  Peacetower und ein Einkaufszentrum. Aber man war doch klug. Die Orte, wo die beiden Türme standen, sind jetzt zwei tiefe rechteckige Becken, die Wände von Wasser überlaufen, das in der Mitte des Bodens in einem schwarzen quadratischen Loch verschwindet. An den Rändern sind die Namen der Toten ins Metall geschnitten. Ich muß zugeben, es ist ein verblüffend beeindruckendes Bild - Pantha rhei, alles bewegt sich fort und nichts bleibt. Gut, dass wir Abends da waren, die Dunkelheit erhöhte das Pathos, gibt ihm aber auch Subtilität.


Wir stehen genau in Ground Zero, im künftigen Nullpunkt einer Atomexplosion. 
Die Zeit 11.07.1968
https://www.zeit.de/1986/29/bomben-im-vulkan/seite-2

Samstag, 11. August 2018

New York - Splitter

Wäre ich 25 und ohne familiäre Bindungen würde ich sofort New Yorker werden wollen.

In Tegel am Sicherheitscheck steht vor uns ein solcher New Yorker, er ist hin und her gerissen:  "Ich will hierbleiben, ich hasse Trump, ich habe Heimweh."

Acht Stunden später am Flughafen in New York landet etwa gleichzeitig mit uns eine Maschine aus Tel Aviv, Männer mit pelzbesetzten Hüten, Frauen mit unkleidsamen Perücken und zu warmer Kleidung für 31 Grad und hohe Luftfeuchtigkeit warten mit uns auf ihr Gepäck. Ich werde ihnen hier immer wieder begegnen, sie sind ein Teil dieser Stadt, kein Exotikum wie in Berlin. Zu Präsidentenwahlen kommen in Isael lebende amerikanische Juden mit billigen Flügen in großer Zahl, um ihre meist konservativen Stimmen abzugeben. 

In Brooklyn hat mir mal eine fromme Frau vor Jahren auf die Füße gespuckt, weil ich im Hochsommer meine Ärmel über die Ellbogen hochgezogen hatte. Meine Schwester stotterte entsetzt: "Die bauen sich ein Ghetto, auch wenn man sie nicht hineinzwingt." Ich rate jedem dazu, den Roman "Unortodox" von Deborah Feldman zu lesen, denn die Gründe für diese Einkapselung sind so tragisch, wie sie furchtbar sind.

New York. Auch das, was ich nicht kenne, kenne ich aus Filmen, Filmen über die Mafia, über Law and Order, aus dünnen Komödien und Diamanten der Cinematographie. In meinem Filmgedächtnis bin ich eigentlich schon immer Bewohner dieser Stadt, von Hell's Kitchen bis zur Upper East Side, von Soho bis Harlem. Sinatra hat hier gesungen und Duke Ellington gejazzt, De Niro geboxt, Barbra Streisand geliebt. Al Pacino, Sarah Jessica Parker, Godzilla, King Kong, die Ghost Busters, Marilyn Monroe, Jane Fonda, Andy Warhol, Basquiat, Madonna, Rosemary's Baby, Denzel Washington, Woody Allen und Diane Keaton - die Liste ist wirklich nahezu unendlich - sie alle und die Bilder, die sie bevölkern, sind mein imaginäres New York.
"If you can make it there, you make it anywhere."

https://de.wikipedia.org/wiki/Manhattan

Mit einem Schiff der Circle Line fahren wir um die Insel Manhattan, einen der fünf New Yorker Bezirke, auf dem Hudson, dem East River, dem Harlem River, um 59,5 Quadratkilometer Landfläche herum. Der Tourkommentator benennt weltbekannte Orte, irrwitzige Mietpreise, Filmtitel, Celebrities, immer wieder taucht das tiefsitzende Trauma von 9/11 auf, immer wieder die Opfer und Leistungen amerikanischer Soldaten in weitentfernten Kriegen. Vom Wasser aus kann man am Ufer hie und da noch den harten Granit sehen auf dem das ungeheure Konstrukt gebaut wurde.

In einem monströs gigantischen Laden für jugendliche Bekleidung stehe ich, auf die Lieblingsnichte wartend, neben zwei exotisch aussehende Mädchen im intensiven Austausch auf - - - schwyzerdeutsch, daneben nölen sich zwei Chinesen in tiefstem New Yorker Dialekt an, eine Familie wechselt blitzschnll vom Russischen ins Englische, überhaupt viel Russisch, Hebräisch, Deutsch, Japanisch ist zu hören, und natürlich Englisch in jedweder Färbung, manchmal so versungen, dass es kaum noch als Englisch zu erkennen ist. Und alle schreien irgendwie, in Berlin habe ich das Gefühl, dass unsere Nicht-Weißen Mitbürger sich eher leiser verhalten, vorsichtiger. Natürlich mir Ausnahme pubertierender Deutschtürken.

Der Times Square, vor Jahren dreckig und bevölkert von Huren, Zuhältern, Kleinganoven und ihrem Zielpublikum, den Touristen, hat sich in ein geldgeiles Panoptikum von Werbung und Broadway-Show-Karten-Dealern verwandelt.








Karten für Bette Midler in "Hello Dolly" können bis zu 1300 $ kosten. Unter 90 $ geht gar nichts. "Hamilton" ist nach wie vor ausgebucht bis zum Sanktnimmerleinstag.

New Yorker sprechen mehr und lauter als Berliner, scheint mir, ich komme leichter ins Gespräch mit Unbekannten. Meine Neigung wildfremde Leute anzuquatschen, wird hier als normal angesehen, gefällt mir, in Berlin schlägt mir da schnell Irritation, Mißtrauen entgegen.

Am Times Square halbnackte Mädchen, die Brüste mit dem Star-Spangled Banner bemalt, auf den Köpfen klägliche Nachahmungen indianischen Federschmucks. Wenn das mal kein kultureller Übergriff ist.


Diese Hot-Dog-Stände sind im Besitz von schwerbeschädigten US Kriegsveteranen

Eine junge Tanzende, der ich ein Kompliment zu ihren "moves" mache, ruft ihrer Freundin begeistert zu: "I love old people!"

Am Ufer des Hudson, direkt neben Pier 83, da wo die Circle Line ablegt, ein haushohes Poster:
 

COP-SHOT 
$ 10,000 CASH REWARD 
For information leading to the arrest and conviction 
of anyone shooting a NYC Police Officer


Frauen sind entweder New York - dünn, was heißt trendig hagermager und Gym-gestählt, oder fett. Nix dazwischen. Männer tragen traurige Bäuche oder stolzieren mit halsverkürzenden Muskelpaketen und surrealen Six-packs.


Auf einem öffentlichen Mülleimer: 
Wenn die Rechte von Immigranten verwehrt werden
Sind die Rechte der Bürger in Gefahr.

Als New Yorker muß man für den Eintritt ins Metropolitan Museum nur so viel bezahlen, wie man sich leisten kann. Großartig. Dazu demnächst mehr.

Sonntag, 5. August 2018

Stimmen

Der Klang der Stimme eines Menschen, wenn er spricht, wenn er singt, lacht, seufzt, hustet, murmelt, ist für mich eines seiner persönlichsten Eigenschaften. Sie bestimmt ganz stark meine erste Reaktion auf ihn. 

Könnt ihr euch an die Quietschstimmen von Ulbricht & Honecker erinnern? Gräßlich. Trump klingt als hätte er Essensreste auf den Stimmbändern, irgenwas Brösliges und Schleimiges. Und er presst die Luft weg, als würde sie extra kosten. Der Klang kommt nur aus dem oberen Teil seines Körpers. Immer zu viel Druck, viele Sätze die nach oben kippen. Es kostet mich geradezu körperliche Anstrengung ihm zuzuhören.

Till Schweiger könnte noch hübscher sein, als er vielleicht mal war, aber seine hohe, in der Kehle eingeklemmte Stimme, schließt für mich jede erotische Wirkung aus. Wenn Alan Rickman mit seinem hinreißenden, asymmetrischem Gesicht ein Sonnett spricht, stellen sich meine Unterarmhaare steil auf vor Vergnügen.
https://www.youtube.com/watch?v=p2Ja0Paz04s  

Auf arte lief heute eine Doku über Freddie Mercury, was für ein Organ! Einer seiner Bekannten erzählte, wie er ihn in der Metropolitan Opera beobachtet hätte, als er zum ersten Mal Montserrat Caballé singen hörte - mit dem Gesichtsausdruck eines glücklichen Kindes.
https://www.youtube.com/watch?v=Y1fiOJDXA-E 

Dann der Mitschnitt eines Clubauftrittes von Joni Mitchell aus den Siebzigern, lange vor dem fiesen Kehlkopfkrebs, mit den mühelosen Höhen eines Singvogels, leicht und klar. 
https://www.youtube.com/watch?v=GFB-d-8_bvY 

Meine Stimme ist rau und dunkel seit meiner Geburt, die Folge einer Fehlkonstruktion meines Kehlkopfes. Meine Mutter erzählte, wie sie mit mir, drei Jahre alt, in einen Laden ging, in dem eine Freudin names Sloma als Verkäuferin arbeitete. Auf den lauten, tiefen, sonoren Ruf "Loma!" hin, schauten sich die Kunden nach dem Verursacher um und wollten nicht glauben, dass ich es war, winzig, mitsamt goldenen Locken und babyblauen Augen. Ich kann nicht zählen, wie oft ich in der Pubertät für einen Jungen gehalten wurde, unter anderem auch im Wartezimmer eines Gynäkologen!
In den ersten Jahren am Theater als blonde jugendliche Naive bin ich oft dazu verdonnert worden, eine Oktave höher zu sprechen. Kleines Mädchen, hohe, zarte Stimme - keine Bedrohung - Mumpitz. Ich hab mich mit den Jahren an meine Stimme gewöhnt, mittlerweile mag ich sie.

Die Stimme von Dagmar Manzel, ein Zauberwerkzeug, scheinbar mühelos wechselnd von Sprache zu Gesang, von Grobheit zur Zartheit. Sie hat jahrelang hart daran gearbeitet, und jetzt wirkt es, als wäre keine Anstrengung nötig. Kunst. Intelligenz, so glaube ich, hilft übrigens auch bei der Wirkung des Stimmklanges.
https://www.youtube.com/watch?v=A5f52ZwDM-4 

Rod Stewart klingt als hätte er wochenlang übelst gesumpft und doch streichelsanft und sehr sexy. 
https://www.youtube.com/watch?v=95zxtaKQBBc 

Ganz selten gibt es Klänge, die mir, ohne Mitwirkung meiner Ratio, die Tränen in die Augen treiben. Ein seltsames Erlebnis. Ohrenerotik, Klanggefühl, was trifft da was in meinem Gehörgang?
Billy Joel, wenn er die letzte Strophe von "Leningrad" singt. Hab es gerade nochmal probiert, Wörter und Klang wirken gemeinsam, und ich weine, wie ein Pavlowscher Hund beim Klang der Essensglocke speichelt. Bei Faith No More in "Easy", gibt es so einen Stöhner, Ian Mackellen mehrmals in "Richard III", und wenn die Lieblingsnichte ein Essen besonders genießt, gibt sie ein guturalen Laut von sich, und meine Mutter, wenn sie mir zum Einschlafen "Von der Freundlichkeit der Welt" vorsang. Sie konnte nicht wirklich singen, aber es war wunderschön und ich schlief friedlich ein.

Auf die Erde voller kaltem Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.
 
Keiner schrie euch, ihr wart nicht begehrt
Und man holte euch nicht im Gefährt.
Hier auf Erden wart ihr unbekannt
Als ein Mann euch einst nahm an der Hand.
 
Von der Erde voller kaltem Wind
Geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind.
Fast ein jeder hat die Welt geliebt,
Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.

https://www.youtube.com/watch?v=LgD_-dRZPgs

Samstag, 4. August 2018

Facebook bittet um Entschuldigung

f steht für Fehler: Facebook entschuldigt sich.
Die Kampagne wurde von Wieden+Kennedy Amsterdam entwickelt, die Post Production des TV-Spots lag bei MPC Amsterdam und WAVE Amsterdam (Audio). Die verantwortliche Mediaagentur ist Mindshare.

Die Krupp-Werke bedauern ihre gänzlich amoralische Beteiligung an der Vernichtung einer unschuldigen Bevölkerungsgruppe. IG Farben und Monsanto und die Bayer AG bitten um Verzeihung, weil sie sich an der Tötung Tausender dumm und dämlich verdient haben. Ist das so vorgekommen? Nie. Die Nürnberger Prozesse haben versucht einen Ansatz von Gerechtigkeit wiederherzustellen, aber der Markt hat sie letztendlich negiert.

Facebook mag ich, inclusive aller mißtrauischen Vorbehalte, weil es für mich halt funktioniert. Snapchat ist mir zur schnell, Instagram zu bildfixiert, aber auf meiner Facebook-Seite kann ich entspannt blöd rumquatschen. Und ich bin mir bewußt, dass die Mehrzahl meiner fb-Freunde keine wirklichen Freunde sind, doch hier begegne ich Menschen, die zumindest prozentual von meiner gemütlichen, unangefochtenen liberalen Meinungssicherheit abweichen.  
Facebook entschuldigt sich gerade in Werbespots für schlechten Service. Gefällt mir. Ein kostenloser Service, der daran Millionen verdient, dass seine Benutzer sich bei ihm wohlfühlen, denn sonst würden unzählige Werbekunden ihn nicht weiterhin finanzieren, muß an der Zufriedenheit seiner Nutzer interessiert bleiben. Die gehen sonst weg und nutzen andere Dienste, wie Snapchat, Instagram oder whatever.
Das ist direkter und uns allen nachvollziehbarer Kapitalismus. "Mir schmeckt nicht, was Du produzierst, also kaufe ich von nun an woanders." Da mußt Du Dir was einfallen lassen - infolgedessen werden Markt-Algorithmen umgeschrieben. 
Ich bin, was Großunternehmen betrifft, bekennender Zyniker, aber diese Kampagne ist wirklich clever gemacht. Nicht, dass ich glaube,  dass Herr Zuckerberg jetzt ein schlechtes Gewissen hat, nächtelang nicht schlafen kann und am Sinn seines Lebens zweifelt, aber hier funktioniert das Verhältnis Kunde und Verkäufer noch. Oder falle ich gerade wieder auf psychologisch hintertückisch gewiefte Werbung rein?

Dienstag, 31. Juli 2018

Hitze, Witze, Ritze, Sitze, Kitze, Blitze, Spitze, Schwitze, Spritze, Zitze, Litze, Sitze, ...

Was reimt sich auf Hitze? Witze, Ritze, Sitze, Kitze, Blitze, Spitze, Schwitze, Spritze, Zitze, Litze, Sitze. und für schlechte Reime ginge auch noch Mütze und Grütze.

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 Ein sehr schwaches Hitzegedicht

Seit Tagen, Wochen nichts als Hitze,
Selbst wenn ich am Computer sitze,
Tiefnachts, spür ich, wie ich schwitze.

Vor Tagen gab es plötzlich Blitze,
Ein Atemholen, doch nur klitze-
klein, schon wieder Schweiß in jeder Ritze.
Der Sommer treibt es auf die Spitze,
Mir fehlen langsam selbst die Witze,
Denn mein Gehirn ist nur noch Grütze.

Wie bau ich ein die armen Kitze,
Die sicher leiden in der Hitze?
Nur Kochmilch fließt aus Rickes Zitze.

Ach, gebt mir doch 'ne fette Spritze
Eiskalten Wassers, ich dusch euch hitze-
frei. Seht, staunt dann wie ich flitze

Zum nächste See. Nur noch 'ne Pfütze.
Ach ja, die Litze.
Kein Platz, 

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Sommerabend
(Schönes Hitzegedicht)

Die große Sonne ist versprüht,
der Sommerabend liegt im Fieber,
und seine heiße Wange glüht.
Jach seufzt er auf: "Ich möchte lieber ..."
Und wieder dann: "Ich bin so müd ..."

Die Büsche beten Litanein,
Glühwürmchen hangt, das regungslose,
dort wie ein ewiges Licht hinein;
und eine kleine weiße Rose
trägt einen roten Heiligenschein.
Rainer Maria Rilke 

Sonntag, 29. Juli 2018

Landleben, Bulldoggen und Kirschdiebe

Eine ganze Woche Landleben mit einer wunderbaren Freundin - Housesitting mit gemeinsamer Verantwortung für einen großen Garten und zwei Hunde. Mal was ganz anderes. So viel Grün, trotz der Hitze. So viel notwendige Arbeit. Aber auch: Starren aufs abgemähte Feld, frischgepflückte Brombeeren von der Nachbarin, Schnittlauch vom Kräuterbeet, unendliche Ballspiele mit den schwarz-weiß gepunkteten Hunden, ein Gewitter, wie es sich gehört, träges Schwimmen im trüben, aber seidenweichen See zusammen mit vielen hinreißenden Kindern. Werden unsere Kinder immer übergewichtiger, oder bilde ich mir das ein?
Ich bin keine Gärtnerin, meine Freundin ist es, Gott sei Dank, und ich bin ein außergewöhnlich begabter Hundebespaßer.  
Genauer, ein pubertärer, hechelnder, wilder, kleiner Bully und eine alte, schnaufende, kuschelsüchtige französische Bulldogge haben mein Herz erobert. Ich vermute, ich habe mich verliebt. Als wir die beiden Rabauken heute in der Hundepension abgegeben haben, kam ich mir vor, wie die böse Stiefmutter, die die süßen Kleinen ins lieblose Heim abschiebt. Die können vielleicht mitleiderregend gucken! Oh weh!
Und dann, mit schlechtem Gewissen in die Stadt zurückkehrend und einer umständlichen Umleitung folgend, habe ich zufällig eine Wandmalerei an einem Haus in Weißensee entdeckt. 
Während ich dies schreibe, schwitze ich im Sitzen.
Der Kirschdieb

An einem frühen Morgen, lange vor Hahnenschrei
Wurde ich geweckt durch ein Pfeifen und ging zum Fenster.
Auf meinem Kirschbaum - Dämmerung füllte den Garten -
Saß ein junger Mann mit geflickter Hose
Und pflückte lustig meine Kirschen. Mich sehend
Nickte er mir zu, mit beiden Händen
Holte er die Kirschen von den Zweigen in seine Taschen.
Noch eine ganze Zeitlang, als ich wieder in meiner Bettstatt lag
Hörte ich ihn sein lustiges kleines Lied pfeifen.

Bertolt Brecht 1938
© 44Pinguine

Samstag, 28. Juli 2018

Achtung, Achtung!

Vertrauen und Achtung, das sind die beiden unzertrennlichen Grundpfeiler der Liebe, ohne welche sie nicht bestehen kann, denn ohne Achtung hat die Liebe keinen Wert und ohne Vertrauen keine Freude. 

H. v. Kleist

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Achtung, Achtung!, Obacht, Beobachtung, Beachtung, Verachtung, Hochachtung, Mißachtung, Selbstachtung, Nichtachtung, in Acht und Bann legen, sich in acht nehmen, achtgeben / Acht geben, erachten, außer acht lassen, achtsam, achtbar, beachtlich, achtungsgebietend, achtlos, Achtungsbezeugung.
  Andacht?

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Seid nicht selbstsüchtig; strebt nicht danach, einen guten Eindruck auf andere zu machen, sondern seid bescheiden und achtet die anderen höher als euch selbst.  

Philipper 2,3

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! Achtung !

Du sollst, die anderen höher achten, als dich selbst. Sie nicht mehr lieben, aber höher achten. Mhm. 
Achten Sie auf Ihre Worte!
Achten wir auf unsere Worte!
Jeder von uns wünscht sich, geachtet zu werden, hofft, dass er beachtet wird, dass auf ihn Acht gegeben wird. Etymologisch betrachtet, könnte wir es, mit wir alle wollen erkannt werden, übersetzen. 
Verachtung schmerzt. Mißachtung kann uns geradezu unsichtbar machen. 
Unerkannt. Unverstanden. Ungesehen.
Achtsamer Umgang ist nicht nur nette Geste, nicht bloß belanglose Harmlosigkeit, er verlangt Interesse und Bemühung. Um jemanden achtungsvoll zu behandeln, bedarf es manchmal beachtlicher Anstrengung. Und leichtfertige Unachtsamkeit, kann bei manchen Menschen zu verfrühtem Tode führen. Denn unser aller Selbstachtung ist ein verletzbares Ding. Obacht!
Ich beobachte zunehmend achtlosen Umgang miteinander. Schnell gepostet, schnell vergessen. Wir verbuchen das unter realistischem Umgang mit der Welt, unter Ironie, unter witzgeschütztem Zynismus. Aber Verächtlichmachung Anderer ist letztendlich nur billig. Ich lasse die Verletzlichkeit des Anderen außer Acht. 
Haben Sie heute jemanden beachtet? Wurden Sie heute mißachtet? Wen verachten Sie? Wem gebührt Ihre Hochachtung?
Acht mal Acht ist 64.
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TREUE PFLICHT
 
An ihr liegt Alles mir.
Was acht' ich mich?
Mein Sinn ist Freund mit ihr
und hasset sich.
Was ich beginne spat und früh,
Was ich gedenk, ist sie,
die Werthe, die.

Und leb ich mich gleich tot
in solcher Pein,
noch hat es keine Not;
sie, sie kans sein,
die mir das Leben wiedergiebt,
die mich so sehr betrübt,
als sie mich liebt.

Habt Achtung auf mein Leid,
auf meine Qual,
ihr, die ihr Wächter seid
in Amors Saal'.
Hebt alle meine Tränen auf
und schafft mir Freude drauf
für guten Kauf.

Paul Fleming
 
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Acht f. ‘Aufmerksamkeit, Beachtung’, heute vornehmlich in Wendungen wie (sich) in acht nehmen, außer acht lassen, achtgeben, achthaben, in denen der substantivische Charakter des Wortes verblaßt ist. 
Ahd. ahta ‘Überlegung, Meinung, Ansehen’ (um 800), mhd. aht(e), mnd. mnl. acht(e), nl. acht, aengl. eaht sind verwandt mit got. aha ‘Sinn, Verstand’, ahjan ‘meinen’ und lassen eine Verbalwurzel germ. *ah- ‘denken, meinen’ erkennen. Ob sich die germ. Gruppe mit außergerm. Formen wie griech. óknos (ὄκνος) ‘Bedenklichkeit, Zaudern’, okné͞in (ὀκνεῖν) ‘zögern, Bedenken tragen’, toch. B āks- ‘wach sein’ verbinden und der Wurzel ie. *ok- ‘überlegen’ zuordnen läßt, ist nicht mit Sicherheit zu erweisen. 
Vom Substantiv abgeleitet ist achten Vb. ‘schätzen, aufpassen, Rücksicht nehmen’, ahd. ahtōn (um 800), mhd. ahten ‘erwägen, beachten, schätzen’, asächs. ahton, mnd. mnl. nl. achten, aengl. eahtian ‘schätzen, achten, erwägen’; vgl. anord. ætla (aus *ahtilōn) ‘meinen, glauben, vorhaben, beabsichtigen’; dazu Achtung f. ‘Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Ansehen’, ahd. ahtunga (9. Jh.), mhd. ahtunge ‘Überlegung, Wertschätzung’. Imperativisches habt, gebt Achtung! wird verkürzt zum Kommando- und Warnungsruf Achtung! (Ende 18. Jh.). 
achtbar Adj. ‘geachtet, angesehen, achtenswert, anerkennenswert, beachtlich’, mhd. aht(e)bære, zu mhd. ahte im Sinne von ‘Schätzung, Stand, Rang’, danach eigentlich ‘rangtragend’. achtsam Adj. ‘aufmerksam, wachsam, behutsam’ (16. Jh.); früher bezeugt ist unachtsam Adj. ‘nicht auf das achtend, worauf man achten sollte’, mhd. unahtsam. beachten Vb. ‘achten auf, berücksichtigen, Aufmerksamkeit schenken’, ahd. biahtōn (10. Jh.), mhd. beahten; beachtlich Adj. ‘bemerkenswert, wichtig’, geläufig seit 19. Jh., spätmhd. beahtlich. erachten Vb. ‘wofür halten, ansehen’, ahd. irahtōn (9. Jh.), mhd. erahten. verachten Vb. ‘als schlecht, minderwertig ansehen, geringschätzen, verschmähen’, mhd. verahten; verächtlich Adj. ‘Verachtung ausdrückend, abfällig, verachtenswert’ (15. Jh.); Verachtung f. ‘Geringschätzung, Abscheu’, spätmhd. verahtunge.

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Früher, da ich unerfahren
und bescheidner war als heute.
hatten meine höchste Achtung
andre Leute.
Später traf ich auf der Weide
außer mir noch mehre Kälber,
und nun schätz ich sozusagen
erst mich selber. 

Wilhelm Busch

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http://woerterbuchnetz.de/DWB//wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GA01898#XGA01898 

Montag, 23. Juli 2018

Eine S-Bahnfahrt ist lustig

Viertel vor Elf in Berlin. (Kein Knoppers.) Hackescher Markt. Es ist Sonntagmorgen. Ausflugslaune. S-Bahnfahrt.

Erste Durchsage noch auf dem Bahnsteig: "Wegen eines Zugschadens verkehren die Züge heute unregelmäßig". Der unsere nach Strausberg Nord verzögert sich um acht Minuten. Keine große Sache. Bis Wuhletal zuckeln wir, langsamer als sonst, aber vorwärts.

Zweite Durchsage: "Infolge der Verspätung wird dieser Zug in Strausberg enden." Leiser Unmut macht sich breit, ein Mann ist von Westkreuz aus schon zweieinhalb Stunden unterwegs und seine Arbeit hätte vor einer Stunde beginnen sollen. Ein anderer muffelt allgemeine negative Zukunftsaussichten in seine BZ. Die meisten anderen grinsen abgeklärt.

Dritte Durchsage, wir befinden uns nun in Mahlsdorf: "Da wir auf den entgegenkommenden Zug warten müssen, verzögert sich die Weiterfahrt und ich gehe jetzt erstmal aufs Klo". Erstes Kichern, erster Austausch von verblüfften Witzen. Auf die Frage an den Zugführer, auf seinem Weg zur Toilette, ob genug Zeit für eine Zigarette wäre: "Weeß ich doch nich, hier is Rauchen verboten, aber ick hab ja sowieso nischt zu sagen."

In Birkenstein stehen wir wieder, der Zugführer, ganz offensichtlich aufgebracht, fegt plötzlich durch das halbgefüllte Abteil und ranzt die Fahrgäste mit Fahhrrad an, dass sie völlig falsch säßen und durch das unsachgemäße Abstellen ihrer Räder, wenn der Wagen denn voll wäre, Unfälle verursachen würden. Dann ist er weg und wir fahren weiter. Die ausgeschimpften Passagiere entwickeln einen solidarischen Galgenhumor. Das "Einsteigen bitte" aus dem Lautsprecher klingt wie ein gestöhnter Fluch.

Hoppegarten (Mark) und die vierte Durchsage: "Wegen Zugführerwechsels kommt es zu einer Verzögerung der weiterfahrt". Gelächter bei denen, die nicht dringend irgendwo hin müssen. Der Zugführer des Gegenzuges watschelt gut gelaunt vom anderen Ende des Bahnsteigs heran, unserer verläßt laut schimpfend den Zug, um auf der Gegenseite Richtung Westkreuz zu gondeln.

Wir schaffen es ohne weitere Aufenthalte bis Strausberg, der nachfolgende Zug wird uns  die drei letzten Stationen bis Strausberg Nord bringen, aber in den fünf Minuten Wartezeit erfahren wir noch von einer Mitreisenden, dass sowas in der DDR nicht vorgekommen wäre, weil dort der Mensch im Mittelpunkt gestanden hat. Da ham wer was gelernt.

30.06.2015, 12:27 Uhr
Liveticker "Berlin am Morgen" In Schieflage: An einer Weiche vor dem Bahnhof Hoppegarten ist am Montagabend ein Zug der S-Bahn S5 entgleist. Die Bergung soll...Foto: dpa/Paul Zinken