Freitag, 9. Februar 2018

Ein weiblicher Dinosaurier mault


 Älterer Mann mit entblößter Brust

Am liebsten beginnt Castorf seine Sätze mit dem Wort »Ich«. Und was hat er sich nicht alles schon genannt: Teutonischer Zuchtmeister! Postsozialistischer Beutelschneider! Oder einfach: Arschloch! Man weiß nie, was überwiegt bei diesen Selbstbezichtigungen: Narzissmus oder Selbstironie. Vielleicht sollte man sich Castorf tatsächlich als ein Arschloch vorstellen; allerdings als ein ziemlich liebenswürdiges.
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/43357/Sagen-Sie-jetzt-nichts-Frank-Castorf

Konzeptionsvortrag - Frank Castorf - Der Haarige Affe - Schauspielhaus Hamburg

Auf das obige Video bin ich zufällig durch Facebook gestoßen und habe es gänzlich fasziniert angesehen. 
Der Mann weiß viel, kann es in klare Worte und logisch-nachvollziehbare Zusammenhänge fassen, seine eigenen Interessen formulieren und mir Denkansätze anbieten. Und danach ging es in die Proben. Er hat die Konstruktion des Stückes genau studiert und wird es nun sezieren, in Frage stellen, dekonstruieren. (Man bemerke die Schritte vor der Dekonstruktion!)
Er wird Spieler und Spielerinnen (Müßte hier, zu der und die, noch das Spieler zugefügt werden?) verführen, aufhetzen, in Schwierigkeiten bringen, über ihre Sicherheitsgrenzen willig oder widerspenstig stürmen lassen, sie ernst nehmen, sie ärgern, sie anschreien, sie anhimmeln, über sie lachen, mit ihnen lachen, an ihnen verzweifeln, sie an sich zweifeln machen. Die Spieler werden Angebote machen, sich verweigern, ausweichen, übers Ziel hinausschießen, tändeln, über sich hinauswachsen, schwitzen, weinen, flirten, ächzen. 
Alle werden hart arbeiten. 
Und wenn eine, der für das Theater zuständigen Musen es will, oder gar alle drei, Thalia und Melpomene und Terpsichore in seltener Einigkeit zustimmen, entsteht großartiges Theater.  
Ich lese den Brief eines Teils der Mitarbeiter des Wiener Burgtheaters und den antwortenden Brief eines jungen Regisseurs und bin hin- und hergerissen. Ich mag Freundlichkeit auf Proben und werde selten laut. Aber was stört mich an diesen in ernsthafter Absicht geschriebenen Anklagen? Herrn Hartmann kenne ich nicht, Castorf schon, und er wird jetzt dauernd, auch noch mit Peymann in eine suppige Gruppe gepackt, die der alten, narzisstischen, größenwahnsinnigen Tyrannen. Und da haut was nicht hin, weder hinten noch vorn.
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14966:machtmissbrauch-am-theater-der-regisseur-tim-tonndorf-entgegnet-dem-kritiker-michael-laages&catid=101&Itemid=84 
Ich habe nur einmal mit Frank gearbeitet, eine tolle Arbeit, aber wir waren nicht wirklich für einander geeignet.  
Aber wir alle wollten bei ihm spielen, und nicht des möglichen Ruhmes wegen, sondern weil wir wußten, wir würden etwas Besonderes mit ihm erleben, etwas Beunruhigendes, Erhellendes, Neues
Auch Alex Lang war kein "netter" Regisseur, aber ein verflucht guter. Einmal wollte ich vor einer unserer Premieren nach Polen fliehen. Ich habe es nicht getan. Gott sei Dank. 
Ich hatte liebevolle Regisseure ohne Vision und Mistkerle, die auch keine hatten. Aber die, die die sich nicht mit dem Naheliegendsten zufrieden geben wollten, waren immer anstrengend.
Nett sein ist kein Kriterium, ein Arschloch sein ist es auch nicht. Aber intensive, kreative Arbeit geht meist höchst merkwürdige Wege.
Wann hören wir auf, diese seltsam protestantisch-deutsche Haltung von "Wer arbeitet, muss leiden!" zu reproduzieren? schreibt Herr Tonndorf, ja wann? Nie. 

Den leichten, weichen, in friedvoller Übereinstimmung stattfindenden Weg zur Wahrheit oder wenigstens einem Teil von ihr, gibt es nicht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, und keine Kunst ohne Mühe und Schweiß und Tränen und erschöpftes Lachen.
Warum machen wir diesen ganzen Quatsch? Was wollen wir erzählen? Wie wollen wir es erzählen? Warum überhaupt diese Faxen machen? Was wir tun ist der absurde Versuch den Schrecklichkeiten der Welt mit verspielter Verzweiflung zu begegnen. Und das soll leicht gehen? 
Die meisten von uns haben Glück, wir dürfen tun, was wir tun wollen, ohne in lebengefährliche Situationen zu geraten. Es bleibt ein Spiel. Und das soll dann auch noch ohne Einsatz gespielt werden?

Freitag, 2. Februar 2018

Jüdische Frauen schreiben manchmal gute Bücher

Durch ein Zusammentreffen nicht erklärbarer Umstände lese ich zeitgleich drei Bücher von jüdischen Autorinnen. "Untergetaucht" von Marie Jalowicz Simon, "Unorthodox"  von Deborah Feldman und, gerade fertig gelesen, "Die Gabe" von Naomi Aderman. Jeder Text auf seine Art heftig und konsequent. 

"Untergetaucht" von Marie Jalowicz Simon

Eine junge bürgerliche zwanzigjährige Jüdin in Berlin im Jahr 1942: der Vater stirbt, ihre Bekannten und Verwandten erhalten ihre Deportationsbefehle, sie taucht unter, drei lange Jahre wird sie alles tun, um nicht gefangen zu werden. Alles, das liest sich leicht und lebt sich schwer. Ihr Überlebenswille ist bewunderungswürdig und, aus der sicheren Position des Nichtbedrohten, erschütternd fragwürdig. Nach der Befreiung bekommt sie eine Wohnung zugewiesen, schleppt ihre wenigen Habseligkeiten in einem Leiterwagen durch Berlin und schläft, das erste Mal in Jahren, erschöpft und in Sicherheit auf den Boden ihrer Küche ein.

"Unorthodox" von Deborah Feldman

Deborah wächst in einer ultraorthodoxen Satmar-Gemeinde in Williamsburg in New York auf. Ihr Rabbi sagt, dass der Holocaust Gottes Strafe für den nachlässigen Umgang der Gemeinde mit den jüdischen Lebensregeln war. Nur ein gottzugewandtes, die moderne Welt verneinende Leben böte Rettung, selbst Englisch zu sprechen, oder in Deborahs Fall, zu lesen, erzürnt Gott. Deborah tut ihr Bestes und kann doch nicht genügen. 
Amazon sagt: Deborah Feldman führt uns bis an die Grenzen des Erträglichen, wenn sie von der strikten Unterwerfung unter die strengen Lebensgesetze erzählt, von Ausgrenzung, Armut, von der Unterdrückung der Frau, von ihrer Zwangsehe. Sie erzählt, wie sie den beispiellosen Mut und die ungeheure Kraft zum Verlassen der Gemeinde findet – um ihrem Sohn ein Leben in Freiheit zu ermöglichen.
  
Die eine erträgt Unfassbares, um zu überleben und die andere bezahlt für dieses Überleben einen hohen Preis. Schuld auf sich laden, Schuld abtragen, die eigentlich Schuldigen, kommen nur am Rande vor.

Und dann: 

"Die Gabe" von Naomi Aderman

Bei Amazon heißt es: Es sind scheinbar gewöhnliche Alltagsszenen: ein nigerianisches Mädchen am Pool. Die Tochter einer Londoner Gangsterfamilie. Eine US-amerikanische Politikerin. Sie alle verbindet ein Geheimnis: Von heute auf morgen haben Frauen weltweit die Gabe (Macht) – sie können mit ihren Händen elektrische Stromstöße aussenden. Ein Ereignis, das die Machtverhältnisse und das Zusammenleben aller Menschen unaufhaltsam, unwiederbringlich und auf schmerzvolle Weise verändern wird.

Ein englischer Frauen-Sci-Fi-Roman der ungewöhnlichen Art. Im Original heißt er "Die Macht", im Deutschen "Die Gabe", Gott gebe mir Geduld mit hilfreichen Übersetzungen.

Fünfzehnjährige Mädchen können plötzlich durch das Erwachen eines stillgelegten Organs elektrische Stromstöße aussenden, sie sind von einem Tag auf den anderen unerhörterweise physisch stärker als Männer. Durch innigen körperlichen Kontakt können sie diese Fähigkeit auch in ihren Müttern erwecken. Die grundsätzliche Konstellation von starkem und schwachem Geschlecht gerät ins Wanken. Der englische Titel "Die Macht" trifft es viel genauer. Was passiert nun? Ein Briefwechsel, 5000 Jahre später diskutiert die Möglichkeit einer friedlicheren Gesellschaft, wenn Männer ihren friedvolleren, sanfteren Einfluss geltend machen könnten.
Opfer und Täter Profile werden durcheinandergeschüttelt. Wütende Frauen vergewaltigen Männer mit Hilfe von elektrischen Stößen erzeugter Willigkeit. Ist es nur Macht, die uns, egal welchen Geschlechts, korrumpiert? Wir schauen gern auf uns, die Frauen, als das 'schwächere', aber eben auch bessere Geschlecht. Was geschähe, wenn wir 'stärker' wären? 

Samstag, 27. Januar 2018

Die erwünschte und verfickte Kommentarfunktion



Ich habe Meinungen.
Eine große Menge von Meinungen.
Manche sind gut begründet.
Manche entstehen nur aus meinem Bauchgefühl heraus.
Mit manchen liege ich völlig daneben.
Die gesellschaftliche Explosionskraft der #metoo-Debatte habe ich mächtig unterschätzt. Solche Nachlässigkeit ist mir schon mit anderen sozialen Eiterherden unterlaufen. Ich selbst hatte Glück, blieb verschont, und habe darum nicht genau genug hingeschaut und aufmerksam genug zugehört.
ABER. Aber ich bin lernfähig. 
Meistens.
Freunde mit geduldigen Zungen und klugen Köpfen reden mit mir, und selbst auf facebook hat mich, hin und wieder, eine Kommentatorin, ein Kommentator mit einer mir unbekannten, von mir vernachlässigten Sicht auf ein Problem dazu gebracht, eine meiner zahlreichen Meinungen zu überprüfen und zu verändern.


Aber. Aber was mich erzürnt, ankotzt, hilflos wütend macht, ist der selbstgerechte Alleinherrschaftsanspruch mancher Zeitgenossen auf die einzig wahre Wahrheit. In meinem Blog passiert das selten, auf Facebook des öfteren. Manchmal, ich gestehe es, poste ich dort eine Meinung, nur weil ich weiß, dass dann ein Wortschlachtfest beginnt. Shitstorm wird das im Neudeutschen benannt. Früher sagte man: "Now the shit has really hit the fan." = "Jetzt hat die Scheiße wirklich den Ventilator getroffen." Ein viel schöneres, weil bildlich nachvollziehbareres Bild.
 

Ich glaube, es ist verlockend, wenn das einzige Werkzeug, das man hat, ein Hammer ist, alles zu behandeln, als ob es ein Nagel wäre.
Der Psychologe Abraham Maslow 1966 
Der Spruch ist geklaut von einem fb -Freund.


Und bin ich nicht willig, so brauchen sie Gewalt. Wortgewalt. Ideologie. Mir wird unterstellt blind, blöd, blasiert oder bloß unfähig zu sein, objektiv zu urteilen. Der Ton ist wohlwollend überlegen, mitfühlend herablassend oder fassungslos empört. Die Möglichkeit des "sowohl als auch" oder des "ja, aber" wird grundsätzlich ausgeschlossen. 
Dieses entweder/oder hatte ich schon mal in der DDR, das akzeptiere ich nie wieder.
Es gibt Widersprüche. Es gibt Graubereiche. Nichts ist simpel, sicher und eingetütet.
Ich soll widerspruchslos glauben, dass Frauen nie lügen und Männer a priori nur Mißbrauch im Sinn haben? Nein, das glaube ich nicht. 
Auch wenn ich weiß, dass in unserer Welt Frauen, die es wagen, die Wahrheit zu sagen, einen harten Stand haben. Und auch, dass es Männer gibt, die sich in der Gewißheit ihrer Machtfülle erdreisten, mit Hilfe von körperlicher und sozialer Überlegenheit, gewalttätigen Zwang auf verschreckte Opfer auszuüben.
Aber. Aber?


Ist es wahr, dass ich als weiße europäische  Jüdin die Brutalität des Rassismus nicht verstehen kann, als verblendete, verwöhnte Frau  die grundsätzliche Verächtlichkeit männlicher Sicht nicht erkennen kann, als fast 60-jährige nicht verstehen kann, wie schwer es junge Menschen heutzutage haben?

Woher nehmt ihr eure eherne Gewißheit, zu wissen was richtig und rechtens ist? Wir könnt ihr eure Ohren, Hirne so exakt ausrichten, dass nur noch Bestätigung und keinerlei Zweifel euch mehr erreicht? Der Hashtag "metoo" ist eine wahrhafte Erschütterung eingespielter Machtmuster. Aber würdigen wir die Opfer solchen Mißbrauchs, indem wir nun selber brutal und flächenabdeckend auf vermutete Meinungsabweichler in den eigenen Reihen einhacken?
Catherine Deneuve und ihre Mitunterzeichnerinnen schlagen gewisse Bedenken vor bezüglich des intergeschlechtlichen Umgangs und werden als Dolch-in-den-Rücken-der-Bewegung-Stoßende verhöhnt.
Jemand erwähnt den gerichtlichen Freispruch von Woody Allen und wird als Apologet sämtlicher pädophilen Mistkerle aller Zeiten gebrandmarkt.

NEIN. Nein, es ist nicht alles und jedes das Gleiche. Vergewaltigung ist ein zu bestrafendes Verbrechen. Nötigung durch Mißbrauch von sozialer Macht sollte es sein. 
ABER. 
Durch Machtmißbrauch sind Körper und Seelen zerstört oder schwer verletzt worden. Fakt. Und deshalb soll ich jetzt mild lächelnd zustimmen, wenn dumme Frauen, ja, die gibt es auch, die Gelegenheit nutzen, um ihre elitäre Denkfaulheit in Politik zu verwandeln? Kunst soll nun ein Ort der objektiv ausgewogenen, von keiner Leidenschaft berührten, erotikfreien Betätigung sein. Kunst? 
Wer von uns könnte/wollte das? Jeden Tag, den wir leben, begehren wir, mißachten wir. Wir sind Menschen. Mann, Frau, Transgender, Homo, Lesbe, und was es der erotischen und gelebten Möglichkeiten noch geben mag, geben wird, wir irren während wir schaffen, wir erschaffen, selbst im besten Falle, keine gegen jeden ideologischen Einwand verteidigbaren Werke. Schuld ist ein elementarer Teil von Kunst und ein Teil ihrer Wahrheit.

Und, nebenbei, ein Künstler und sein Werk sind nicht deckungsgleich.

meinen  
Vb. ‘eine bestimmte Ansicht haben, annehmen, denken’, ahd. meinen (8. Jh.), mhd. meinen ‘sinnen, (nach)denken, seine Gedanken auf etw. richten, (feindlich oder freundlich) gesinnt sein, einem etw. angenehm machen’, asächs. mēnian, mnd. mēnen, mnl. mēnen, mienen, meinen, nl. menen, aengl. mǣnan, auch ‘klagen’, engl. to mean (germ. *mainjan) sind verwandt mit air. mīan ‘Wunsch, Verlangen’, aslaw. měniti ‘meinen, glauben, erwähnen, halten für’, poln. mienić ‘meinen, glauben’. Erschließbar ist ie. *mein-, *moin- ‘Meinung, Absicht, meinen’. Die Bedeutung ‘seine Gedanken auf etw. richten, (freundlich) gesinnt sein’ entwickelt sich im Mhd. weiter zu ‘lieben’, die in Prosatexten bis ins 17. Jh., in der gereimten Dichtung bis ins 19. Jh. (Freiheit, die ich meine, Schenkendorf) bewahrt wird. Meinung f. ‘Ansicht, Gesinnung’, ahd. meinunga (um 1000), mhd. meinunge ‘Sinn, Bedeutung, Gedanke, Gesinnung, Absicht, freundliche Gesinnung, Liebe’. vermeinen Vb. ‘(fälschlich) annehmen’, ahd. firmeinen ‘darlegen, beweisen’ (9. Jh.), mhd. vermeinen ‘denken, wollen, hoffen, zudenken, zurückweisen’. vermeintlich Adj. ‘(irrtümlich) angenommen, angeblich’ (16. Jh.)
DWDS

Dienstag, 23. Januar 2018

Ein poetischer Vorgang? - Ein Beitrag in wilkürlichen Zitaten.

"Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind."

Offener Brief: Stellungnahme zum Gedicht Eugen Gomringers 

*Das Gender-Sternchen kann gebraucht werden wie das Gender Gap. Das Sternchen wird im Computer­bereich schon lange als Platzhalter genutzt und zeigt also an, dass dort noch andere Zeichen hinkönnen. Wenn wir es hinter die Worte "Frau", "Mann", usw. schreiben, soll es vor allem anzeigen, dass es sich um soziale Konstruktionen handelt (nicht um unveränderliche "biologische" Wahrheiten). 
 

Im heftigen Streit um das Gedicht von Eugen Gomringer an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin-Hellersdorf ist eine Entscheidung gefallen. Der Akademische Senat der Hochschule beschloss auf seiner Sitzung am Dienstag, dass auf der Fassade im Zuge der sowieso anstehenden Sanierung im Herbst 2018 ein Gedicht der Lyrikerin Barbara Köhler angebracht wird. Köhler wurde im vergangenen Jahr mit dem Alice Salomon Poetikpreis ausgezeichnet. Alle fünf Jahre soll auf der Fassade dann ein Werk eines anderen Salomon-Preisträgers gezeigt werden.

Tagesspiegel 23.1.2018


Alleen
Alleen und Blumen

Blumen
Blumen und Frauen

Alleen
Alleen und Frauen


Alleen und Blumen und Frauen und
ein Bewunderer.


Eugen Gomringer 

Der Akademische Senat der Alice-Salomon-Hochschule hatte sich im Sommer 2016 für eine Neugestaltung der Fassade ausgesprochen, nachdem der Asta das Gedicht an diesem Platz in Frage gestellt hatte. Es reproduziere "nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind"

Tagesspiegel 23.1.2018

http://www.tlz.de/web/zgt/kultur/detail/-/specific/Vom-Vers-zur-Konstellation-und-zurueck-1376958631

https://www.berliner-zeitung.de/berlin/gromringer-gedicht--die-alice-salomon-hochschule-entscheidet-gegen-die-kunst-29546600

"Die U-Bahn-Station Hellersdorf und der Alice-Salomon-Platz sind vor allem zu späterer Stunde sehr männlich dominierte Orte, an denen Frauen* sich nicht immer wohl fühlen können. Dieses Gedicht dabei anzuschauen wirkt wie eine Farce und eine Erinnerung daran, dass objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können."
...
"Unsere Forderungen stellen wir nicht nur als Frauen*, sondern vor allem auch als Studierende einer „Hochschule mit emanzipatorischem Anspruch[, die] dem gesellschaftlichen Auftrag Sozialer Gerechtigkeit und kritischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen verpflichtet" (zit. nach: http://www.ash-berlin.eu/profil/leitbild/) ist."
  
Offener Brief: Stellungnahme zum Gedicht Eugen Gomringers 


Alice Salomon bei der Eröffnungsfeier im Pestalozzi-Fröbelhaus am 15. Oktober 1908

"In unsichtbaren Lettern steht für mich über der Tür unserer Schule, die sich heut zum ersten Mal so vielen geöffnet hat, denen sie fortan Mittelpunkt des Lebens werden soll, das Wort Carlyles: „Gesegnet, wer seine Arbeit gefunden hat!“ Das Wort enthält im Grunde alles, was ich in dieser feierlichen Stunde unseren Schülerinnen sagen kann: Zweck und Ziel unserer Schule, und all die guten Wünsche, die wir für ihre Entwicklung hegen. Zweck und Ziel der Schule. Denn diese ist entstanden und soll der Aufgabe dienen, den Mädchen und Frauen unserer Stadt, unseres Volkes Arbeit zu geben. Arbeit, das heißt nicht Beschäftigung, nicht Zeitvertreib, sondern eine Tätigkeit, die nicht nur ihre Zeit – sondern auch ihre Gedanken, ihr Interesse in Anspruch nimmt; die zunächst für einige Jahre den Inhalt ihres Lebens ausmachen soll, um den herum alles andere, was das Leben ihnen an Freuden, Genüssen, Anregungen bietet, sich nur – gleichsam wie eine schmückende Arabeske – als Beiwerk gruppiert. Arbeit, die sie nicht nur erfüllt, solange sie als Schülerinnen in diesem Hause ein- und ausgehen; sondern Arbeit, die sie mit hinausnehmen, wenn sie die Schule verlassen, als einen Teil ihres Lebens, der nicht zugrunde gehen kann, der zu ihnen gehört, der ihre Lebensauffassung und ihr

Montag, 22. Januar 2018

"Dickicht" nach Brecht am Maxim-Gorki-Theater

Ich habe die Tiere beobachtet. Die Liebe, Wärme aus Körpernähe, ist unsere einzige Gnade in der Finsternis! Aber die Vereinigung der Organe ist die einzige, sie überbrückt nicht die Entzweiung der Sprache. Dennoch vereinigen sie sich, Wesen zu erzeugen, die ihnen in ihrer trostlosen Vereinzelung beistehen möchten. Und die Generationen blicken sich kalt in die Augen.
...
Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.

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Heute abend Sebastian Baumgartens "Dickicht" nach Brecht im Maxim-Gorki-Theater: in den ersten dreissig Minuten war ich beglückt und hellwach, über die folgenden anderthalb Stunden verging das. Die Grundkonstellation von stummfilmartigen Filmszenen, die live von sitzenden Spielern gesprochen werden und expressionistisch zitierten Spielszenen von den einheitlich in Schwarz gekleideten Spielern ist toll, macht den Kopf aufmerksam und erfreut die Augen, aber das Halbdunkel ermüdet über die Zeit. Das tückische an großen Einfällen ist oft, dass sie zum Zwangskorsett werden. Sie erzwingen Wiederholungen, können das Beabsichtigte, das was erzählt werden soll, unter ihrer Ästhetik-Walze erdrücken. Und dann ist da noch ein Phänomen, dem ich schon des öfteren, auch in eigenen Arbeiten begegnet bin, der Sprechton der Spieler gleicht sich an, ich nenne es den monotonen Heiner-Müller-Rufgestus, der sich gerade bei gut gearbeiteten Ensemble Stücken wie eine Infektion einschleichen kann. Jeder nimmt von jedem ab und dann klingen alle irgendwie gleich.
Manno sind die Spieler von unterschiedlicher Qualität! Ein S-Fehler hier, Krampfhände da, ein bisschen Genuschel, eine Kinski-Doublette und einiges, das großartig war.

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Es gibt Stücke, die erwischen einen wie Liebe, oft plötzlich, manchmal dauerhaft. Diese Verliebtheit sieht das wahre Stück, nicht das mit Fehlern, Längen, dramaturgischen Schwächen behaftete, das andere sehen mögen.
"Im Dickicht" ist einer meiner älteren Liebhaber. 1971 hat Ruth Berghaus die zweite, geordnete, gekürzte Fassung von 1927 "Im Dickicht der Städte" am BE inszeniert. Karg, genau, sezierend. Ich war gebannt. Las viele Jahre später die Urfassung, verstand nix und verfiel ihr doch. Ein Wust. Eine Wucht. Ein gigantomanischer Zwergriese. Zwischen 1920 und 24 geschrieben, was heißt der Dichter war jung. Ein Augsburger Bürgersohn liest Upton Sinclairs "Dschungel", der Roman wird auch die "Johanna der Schlachthöfe" füttern, er sieht die Welt um sich herum und sie gefällt ihm nicht, er kotzt Sprache. Manche Sätze sind wunderbar und machen keinen Sinn, es gibt sie, weil sie schön sind. Brecht ist hier noch nicht der Hegel/Marx geschulte Epiker späterer Jahre, Expressionismus und Boxkampf, Amerikasehnsüchte und Männerliebe dampfen aus ihm und natürlich großes Talent. 
Es ist eine Liebesgeschichte. Eine verzweifelte, eine tiefe.

Eine meiner geliebtesten Arbeiten und gleichzeitig größten Mißerfolge war eben dieses "Dickicht" in einem magischen Bühnenbild von Philip Stoelzl.

"In diesem Stück wird um bürgerliches Erbe mit teilweise unbürgerlichen Mitteln ein äußerster, wildester, zerreißender Kampf geführt. Es war die Wildheit, die mich an diesem Kampf interessierte, und da in diesen Jahren (nach 1920) der Sport, besonders der Boxsport mir Spaß bereitete, als eine der ›großen mythischen Vergnügungen der Riesenstädte von jenseits des großen Teiches‹, sollte in meinem neuen Stück ein ›Kampf an sich‹, ein Kampf ohne andere Ursache als den Spaß am Kampf, mit keinem anderen Ziel als der Festlegung des ›besseren Mannes‹ ausgefochten werden." b.b.
bb

Donnerstag, 18. Januar 2018

Max Beckmann findet Unterschlupf in Amsterdam

MAX BECKMANN. WELTTHEATER

Eine Ausstellung der Kunsthalle Bremen und des Museums Barberini, Potsdam. In Potsdam ist die Ausstellung vom 24. Februar bis 10. Juni 2018 zu sehen.


1884 -1950

Er war 30, als der Erste und 49, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. "Meine Kunst kriegt hier zu fressen", sagte er 1919. Er erlebte das Grauen als Ambulanzfahrer und feuerte nie einen Schuß ab. 1937 nach der Rundfunkübertragung von Hitlers Rede zur Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellung in München, die auch seine Arbeiten zu entarteter Kunst erklärte, verließ er Deutschland für immer und "unterschlüpfte" in Amsterdam. Nach New York ließ man ihn erst 1947 reisen. 
Meine Familie fuhr zurück, er fuhr westwärts. 
Diese Kriege haben ihn Kraft gekostet, er starb an einem Herzinfarkt auf der Straße, genauer Central Park West, 61st Street. Gemalt, gezeichnet, geschaffen hat er immer, auch wenn er rein gar nichts verkaufen durfte und konnte. 

DWDS: schlüpfen = 'sich gleitend (durch enge Öffnungen) fortbewegen, sich schnell und geschmeidig bewegen', ahd. intsluphen 'entkommen, entschwinden'.

 Les Artistes mit Gemüse 
1943

Da sitzen sie, schauen ernst und frieren, als Gastgeschenk Lebensmittel in den Händen, nur Beckmann selbst hält einen Spiegel, der aber spiegelt nicht ihn, sondern etwas Fremdes, Bedrohliches. Ihre Kleider sind einmal elegant gewesen, bis auf die rote Wollmütze des Mannes mit dem Fisch. Im Bild hinten an der Wand brennt es. 
Wie unvorstellbar. Dein Land schließt dich aus, verneint dich, macht dich verächtlich. Du, ein Deutscher, bist nun ein Ungewollter, ein Fremder. Du gehst, rennst, fliehst. Und schaust aus der Fremde zu, wie dein Land die Welt mit Krieg überzieht. Und du malst, zeichnest, holzschneidest. Keiner kauft deine Bilder. Keiner wagt es.

Totentanz

Ich frag mich oft, bin das denn ich,
Dem dieses alles widerfährt.
Nur Schatten sind wir unser selbst,
[...] Schatten gehen viel,
Ganz langsam, schlürfend Schritt für Schritt,
Gesenkten Kopfes schleichen wir.
Doch viele liegen stumpf im Bett,
Zum Lesen fehlt uns das Buch,
Zum Denken fehlt uns die Kraft.
Die trüben Augen sehen nicht,
Die Ohren hören nur ein Wort.
Gamellen kommen, Essenszeit:
Dann kommt Bewegung in den Leib,
Die keiner Kapo Schlag erzwingt.
Doch vielen fehlt auch jetzt die Kraft,
Die meisten holt Durchfall und Laus,
Und täglich schafft man sieben weg
Mit Karre und Wagen im offnen Sarg.
Ein Trüppchen Frauen hinterdrein,
Ein kurz Gebet, das ist der Schluß.

Felix Oestreicher
Naderhand - Nachher - Afterward
 

  
Im Jahr 1937 beginnt Felix Östreicher mit dem Schreiben seiner „Drillingsberichte“; Briefe, die seine Familie über die Entwicklung seiner Töchter auf dem Laufenden halten. In diesen unsicheren Zeiten zieht die Familie von Karlsbad in die Niederlande. Der Versuch, eine Auswanderung über die Grenzen Europas hinweg zu regeln, scheitert. Im November 1943 wird die Familie verhaftet und gemeinsam mit Felix´ Mutter, jedoch ohne seine Tochter Helli, nach Westerbork und später nach Bergen-Belsen deportiert. Felix beginnt in Westerbork mit einem Tagebuch, das auch selbstverfasste Gedichte enthält. Später wurden das Tagebuch und die Gedichte in Buchform veröffentlicht. Kurz vor der Befreiung aus Bergen-Belsen wird die Familie zusammen mit vielen anderen Juden aus Bergen-Belsen in einen Transport Richtung Osten gesetzt. Der Zug strandet in Tröbitz und wird Ende April 1945 von den Russen befreit. Felix, Gerda, Maria und Beate leben dort für einige Zeit in Freiheit. Geschwächt durch das Konzentrationslager stirbt Gerda jedoch am 31. Mai an Fleckfieber. Ihr Mann Felix folgt ihr einige Tage später, am 9. Juni 1945 und stirbt ebenfalls an Fleckfieber.


WIKI sagt: Als der Verlorene Zug wird der letzte von drei Zügen bezeichnet, mit denen während der Zeit des Nationalsozialismus in der Endphase des Zweiten Weltkrieges Häftlinge vom Konzentrationslager Bergen-Belsen abtransportiert wurden, als sich die britischen Truppen dem Lager näherten...

Der letzte dieser drei Züge fuhr am 13. April 1945 ab und hielt schließlich nach einer Irrfahrt durch noch unbesetzte Teile Deutschlands in der Nähe der brandenburgischen Gemeinde Tröbitz auf offener Strecke an. Am 23. April 1945 fanden vorrückende Truppen der Roten Armee den Zug und befreiten die Häftlinge aus den Waggons. Etwa 200 von ihnen hatten die Fahrt nicht überlebt. In den nachfolgenden Wochen starben weitere 320 Menschen an den Nachwirkungen des Todestransports durch eine Epidemie.

Max Beckmann findet Unterschlupf in Amsterdam

MAX BECKMANN. WELTTHEATER

Eine Ausstellung der Kunsthalle Bremen und des Museums Barberini, Potsdam. In Potsdam ist die Ausstellung vom 24. Februar bis 10. Juni 2018 zu sehen.


1884 -1950

Er war 30, als der Erste und 49, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. "Meine Kunst kriegt hier zu fressen", sagte er 1919. Er erlebte das Grauen als Ambulanzfahrer und feuerte nie einen Schuß ab. 1937 nach der Rundfunkübertragung von Hitlers Rede zur Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellung in München, die auch seine Arbeiten zu entarteter Kunst erklärte, verließ er Deutschland für immer und "unterschlüpfte" in Amsterdam. Nach New York ließ man ihn erst 1947 reisen. 
Meine Familie fuhr zurück, er fuhr westwärts. 
Diese Kriege haben ihn Kraft gekostet, er starb an einem Herzinfarkt auf der Straße, genauer Central Park West, 61st Street. Gemalt, gezeichnet, geschaffen hat er immer, auch wenn er rein gar nichts verkaufen durfte und konnte. 

DWDS: schlüpfen = 'sich gleitend (durch enge Öffnungen) fortbewegen, sich schnell und geschmeidig bewegen', ahd. intsluphen 'entkommen, entschwinden'.

 Les Artistes mit Gemüse 
1943

Da sitzen sie, schauen ernst und frieren, als Gastgeschenk Lebensmittel in den Händen, nur Beckmann selbst hält einen Spiegel, der aber spiegelt nicht ihn, sondern etwas Fremdes, Bedrohliches. Ihre Kleider sind einmal elegant gewesen, bis auf die rote Wollmütze des Mannes mit dem Fisch. Im Bild hinten an der Wand brennt es. 
Wie unvorstellbar. Dein Land schließt dich aus, verneint dich, macht dich verächtlich. Du, ein Deutscher, bist nun ein Ungewollter, ein Fremder. Du gehst, rennst, fliehst. Und schaust aus der Fremde zu, wie dein Land die Welt mit Krieg überzieht. Und du malst, zeichnest, holzschneidest. Keiner kauft deine Bilder. Keiner wagt es.

Totentanz

Ich frag mich oft, bin das denn ich,
Dem dieses alles widerfährt.
Nur Schatten sind wir unser selbst,
[...] Schatten gehen viel,
Ganz langsam, schlürfend Schritt für Schritt,
Gesenkten Kopfes schleichen wir.
Doch viele liegen stumpf im Bett,
Zum Lesen fehlt uns das Buch,
Zum Denken fehlt uns die Kraft.
Die trüben Augen sehen nicht,
Die Ohren hören nur ein Wort.
Gamellen kommen, Essenszeit:
Dann kommt Bewegung in den Leib,
Die keiner Kapo Schlag erzwingt.
Doch vielen fehlt auch jetzt die Kraft,
Die meisten holt Durchfall und Laus,
Und täglich schafft man sieben weg
Mit Karre und Wagen im offnen Sarg.
Ein Trüppchen Frauen hinterdrein,
Ein kurz Gebet, das ist der Schluß.

Felix Oestreicher
Naderhand - Nachher - Afterward
 

  
Im Jahr 1937 beginnt Felix Östreicher mit dem Schreiben seiner „Drillingsberichte“; Briefe, die seine Familie über die Entwicklung seiner Töchter auf dem Laufenden halten. In diesen unsicheren Zeiten zieht die Familie von Karlsbad in die Niederlande. Der Versuch, eine Auswanderung über die Grenzen Europas hinweg zu regeln, scheitert. Im November 1943 wird die Familie verhaftet und gemeinsam mit Felix´ Mutter, jedoch ohne seine Tochter Helli, nach Westerbork und später nach Bergen-Belsen deportiert. Felix beginnt in Westerbork mit einem Tagebuch, das auch selbstverfasste Gedichte enthält. Später wurden das Tagebuch und die Gedichte in Buchform veröffentlicht. Kurz vor der Befreiung aus Bergen-Belsen wird die Familie zusammen mit vielen anderen Juden aus Bergen-Belsen in einen Transport Richtung Osten gesetzt. Der Zug strandet in Tröbitz und wird Ende April 1945 von den Russen befreit. Felix, Gerda, Maria und Beate leben dort für einige Zeit in Freiheit. Geschwächt durch das Konzentrationslager stirbt Gerda jedoch am 31. Mai an Fleckfieber. Ihr Mann Felix folgt ihr einige Tage später, am 9. Juni 1945 und stirbt ebenfalls an Fleckfieber.


WIKI sagt: Als der Verlorene Zug wird der letzte von drei Zügen bezeichnet, mit denen während der Zeit des Nationalsozialismus in der Endphase des Zweiten Weltkrieges Häftlinge vom Konzentrationslager Bergen-Belsen abtransportiert wurden, als sich die britischen Truppen dem Lager näherten...

Der letzte dieser drei Züge fuhr am 13. April 1945 ab und hielt schließlich nach einer Irrfahrt durch noch unbesetzte Teile Deutschlands in der Nähe der brandenburgischen Gemeinde Tröbitz auf offener Strecke an. Am 23. April 1945 fanden vorrückende Truppen der Roten Armee den Zug und befreiten die Häftlinge aus den Waggons. Etwa 200 von ihnen hatten die Fahrt nicht überlebt. In den nachfolgenden Wochen starben weitere 320 Menschen an den Nachwirkungen des Todestransports durch eine Epidemie. 






















Sonntag, 14. Januar 2018

Tut mir nicht weh oder ich schlag dich!

1 + 1 = 2

scheint von verführerischer Gewißheit.
Daran ist doch wirklich nicht zu rütteln, oder?

 
Irgendwo zwischen dem martialischem "Was dich nicht umbringt, macht dich stark" und dem defensiv-aggressivem "Rühr mich nicht an", liegt das weite Niemandsland von gefährlichen Mißverständnissen und selbstgerechten Ungenauigkeiten.

Wenn ich zum Fasching als flotte mexikanische Braut mit Sombrero erscheinen würde, Gott schütze mich, ich hasse Fasching, aber wenn ich es täte, würde ich mich der kulturellen Aneignung (cultural appropiation) schuldig machen. Wobei Aneignung in diesem Zusammenhang eine übergriffige Handlung impliziert. Das gilt auch für Kostümierungen als Indianer (je nach Zeitpunkt: First Nation= Erste Nation, Natives - Eingeborene, Indigenous-Einheimische). Piraten und Hexen haben sich noch nicht zu Wort gemeldet. Es gilt: keine Rastalocken, wenn du nicht auf Jamaica geboren wurdest, kein Blues, wenn deine Hautfärbung eher ins blasse Spektrum neigt. Jedem nur seines. Strenge Abgrenzung, wenn alles in mir auf bereichernde Vermischung hofft.

Wenn ich Studenten auffordere, "Antigone", "Medea" oder "Hamlet" zu lesen, sollte ich sie genauestens vorwarnen, dass sie mit spezifischen für sie unangenehmen Vorgängen konfrontiert werden könnten. Damit gebe ich ihnen die Möglichkeit, der Konfrontation mit für sie traumatischen Ereignissen auszuweichen. Literatur, Poesie soll ein sicherer (safe) Raum sein, kein Ort der Auseinandersetzung, der überraschten, schockierten Erkenntnis. Der dadurch möglichen Befreiung.

ME TOO.

Eine wichtige, politisch relevante Bewegung, die Vergewaltiger bloß und gesellschaftlich mißachteten Machtmißbrauch offen legt, verschlammt, weil einige Frauen sich auf die wehrlose Opferrolle zurückziehen und ihre Möglichkeiten zur Gegenwehr und ihre Selbstinteressen ausradieren.

Ich bin nicht traumatisiert worden. Mein unverdientes Glück.

Aber eine dumme Bemerkung ist einer Vergewaltigung nicht gleichzusetzen.
Aber Machtmißbrauch ist schlimmer, als ungeschickte, hoffnungsvolle Anmache auf Augenhöhe. Wir, wir Frauen sind nicht a priori wehrlos. Die Bezeichnung Opfer ist nicht in unsere DNA eingeschrieben.

Weinstein, Wedel, Testino. Vergewaltiger? Wahrscheinlich.

Aber, nicht DER MANN ist unser Feind, sondern eine soziale Konstruktion, die es manchen, zu vielen Männern, ermöglicht ihren, ihren sadistischen, miserablen, übergriffigen Neigungen zu folgen.

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„Unsere Verpflichtung zur akademischen Freiheit bedeutet, dass wir sogenannte trigger warnings nicht unterstützen".

Universität von Chicago 2016


Trigger Warnings, Aulöse-Warnungen - sind vorausgeschickte Warnhinweise zu Lehrinhalten, die für manche Studenten problematisch sein könnten.


Mikroaggression ist ein sozialpsychologischer Begriff, der 1970 von Chester Pierce geprägt wurde, um winzige, als übergriffig wahrgenommene Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation zu beschreiben. Darunter werden kurze, alltägliche Äußerungen verstanden, die an die andere Person abwertende Botschaften senden, welche sich auf deren Gruppenzugehörigkeit beziehen.

Intersektionalität beschreibt die Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person. Intersektionelle Diskriminierung liegt vor, „wenn eine Person aufgrund verschiedener zusammenwirkender Persönlichkeitsmerkmale Opfer von Diskriminierung wird."


Dazu auch:
"Triple Oppression oder auch Dreifachunterdrückung ist ein Begriff für mehrfache und gleichzeitige Unterdrückung aufgrund der geschlechtlichen, ethnischen und klassenspezifischen Zugehörigkeit. Eine weitere Bezeichnung ist Race-Class-Gender-Unterdrückung."

http://www.sueddeutsche.de/kultur/risiken-der-redefreiheit-man-wird-ja-wohl-noch-sagen-duerfen-1.2634767

http://www.deutschlandfunkkultur.de/der-triggerknueppel-literatur-gefaehrdet-eventuell-ihre.1005.de.html?dram:article_id=373087

Mittwoch, 10. Januar 2018

Marillenknödel

Zutaten: Kartoffelteig und 500 Gramm Marillen, zu deutsch Aprikosen und Würfelzucker und 80 Gramm Butter und 100 Gramm Brösel.


Zubereitung: Pellkartoffeln aufsetzen und, wenn weich, durchdrücken. Ein Gelbei in die heißen Kartoffeln rühren und kalt werden lassen. Nochmals ein Gelbei hineingeben und eine Prise Salz und 250 Gramm Mehl zu einem Teig verrühren.

Eine Aprikose mit gefüllt einem Stück Würfelzucker in die Mitte des Klosses tun. in kochendes Wasser geben. Wenn der Kloss oben schwimmt, ist er fertig.

Butter und Semmelbrösel braun werden lassen und mit Zimt und Zucker über die Klösse gießen.


Kochen und Essen

Wiki nennt ESSEN, die Tätigkeit der Nahrungsaufnahme. 

Da wandele ich nun auf die sechzig hin und habe erst jetzt die Freuden des Kochens entdeckt. Besser spät, als nie, oder?
Gegessen habe ich immer schon gerne. Ja, meine Familie nannte mich, in für uns typischer rauer Zärtlichkeit, "den Mülleimer", weil auch ihre übrigbleibenden Reste in mir immer einen freundlichen Aufenthalt fanden. 
Ich, der Gewinner des Ferienlagertomatenstullenfressens, der Vertilger von 12, in Worten zwölf, Marillenknödeln und frühkindlicher Liebhaber von warmem Bäckerbrot. Denn kein frischgekauftes Brot erreichte die heimatliche Küche ohne beträchtliche Nage-Verluste. Meine schlesische Nennfamilie hätte mich am liebsten adoptiert, weil ich mit sieben Jahren und geringem Körpervolumen mehr Schweinebraten und Klöße mit Sahnesauce verschlingen konnte, als ihnen menschlich möglich schien. 
Meine kurze, intensive und sehr schreckliche Bekanntschaft mit mit Anorexia nervosa unterbrach meine Liebschaft, aber beendete sie, Gott sei Dank, nicht.
Die Oma aus Wien, die Tanten aus Schlesien und Sachsen-Anhalt, alle drei leidenschaftliche Köchinnen und prägende Einflüsse auf meine kindliche Gier. 
Wie wunderbar wurde ich umsorgt. 

Marillenknödel

Mit österreichischen Mehlspeisen und Suppen aus selbstgesammelten Pilzen, mit Sahnesaucen und Buttercremetorten, mit Zwiebelstippe und deftigen Kohlrouladen. 
Meine Tante Gerda, die nie das östliche Deutschland verlassen durfte, und starb, bevor sie ihre sehnsüchtig erträumte Rheinreise antreten konnte, erfand ihr serbisches Reisfleisch, ohne Serbien je betreten zu haben. Wenn sie Pflaumenmus einkochte roch die ganze Wohnung tagelang wie ein warmer Herbsttraumtag. Ihr sonntägliches Bratbrot mit eben diesem Mus ist einer Eloge würdig, das West-Nesquick war nur wohlgelittene Zugabe. 
Meine Tante Schusti, gelernte Konditorin, zauberte aus allem, was heute mißtrauisch beäugt wird, aus Butter, Sahne und Schmalz, Köstlichkeiten von Weltklasse. 
Und meine Oma überredete mich alles und jedes zumindest zu probieren und erst, wenn ich den Geschmack wirklich nicht mochte, durfte ich ablehnen. 
Eine verfressene Kindheit voll von kochender und backender Zuneigung.
Heute bin ich nicht mehr dürr und klein, aber immer noch eßfreudig.
Und jetzt habe ich die Möglichkeit, ein wenig dieser Zuneigung zurückzugeben.