Älterer Mann mit entblößter Brust
Am liebsten beginnt Castorf seine Sätze mit dem Wort »Ich«. Und was hat er sich nicht alles schon genannt: Teutonischer Zuchtmeister! Postsozialistischer Beutelschneider! Oder einfach: Arschloch! Man weiß nie, was überwiegt bei diesen Selbstbezichtigungen: Narzissmus oder Selbstironie. Vielleicht sollte man sich Castorf tatsächlich als ein Arschloch vorstellen; allerdings als ein ziemlich liebenswürdiges.
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/43357/Sagen-Sie-jetzt-nichts-Frank-Castorf
Konzeptionsvortrag - Frank Castorf - Der Haarige Affe - Schauspielhaus Hamburg
Auf das obige Video bin ich zufällig durch Facebook gestoßen und habe es gänzlich fasziniert angesehen.
Der Mann weiß viel, kann es in klare Worte und logisch-nachvollziehbare Zusammenhänge fassen, seine eigenen Interessen formulieren und mir Denkansätze anbieten. Und danach ging es in die Proben. Er hat die Konstruktion des Stückes genau studiert und wird es nun sezieren, in Frage stellen, dekonstruieren. (Man bemerke die Schritte vor der Dekonstruktion!)
Er wird Spieler und Spielerinnen (Müßte hier, zu der und die, noch das Spieler zugefügt werden?) verführen, aufhetzen, in Schwierigkeiten bringen, über ihre Sicherheitsgrenzen willig oder widerspenstig stürmen lassen, sie ernst nehmen, sie ärgern, sie anschreien, sie anhimmeln, über sie lachen, mit ihnen lachen, an ihnen verzweifeln, sie an sich zweifeln machen. Die Spieler werden Angebote machen, sich verweigern, ausweichen, übers Ziel hinausschießen, tändeln, über sich hinauswachsen, schwitzen, weinen, flirten, ächzen.
Alle werden hart arbeiten.
Und wenn eine, der für das Theater zuständigen Musen es will, oder gar alle drei, Thalia und Melpomene und Terpsichore in seltener Einigkeit zustimmen, entsteht großartiges Theater.
Ich lese den Brief eines Teils der Mitarbeiter des Wiener Burgtheaters und den antwortenden Brief eines jungen Regisseurs und bin hin- und hergerissen. Ich mag Freundlichkeit auf Proben und werde selten laut. Aber was stört mich an diesen in ernsthafter Absicht geschriebenen Anklagen? Herrn Hartmann kenne ich nicht, Castorf schon, und er wird jetzt dauernd, auch noch mit Peymann in eine suppige Gruppe gepackt, die der alten, narzisstischen, größenwahnsinnigen Tyrannen. Und da haut was nicht hin, weder hinten noch vorn.
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14966:machtmissbrauch-am-theater-der-regisseur-tim-tonndorf-entgegnet-dem-kritiker-michael-laages&catid=101&Itemid=84
Ich habe nur einmal mit Frank gearbeitet, eine tolle Arbeit, aber wir waren nicht wirklich für einander geeignet.
Aber wir alle wollten bei ihm spielen, und nicht des möglichen Ruhmes wegen, sondern weil wir wußten, wir würden etwas Besonderes mit ihm erleben, etwas Beunruhigendes, Erhellendes, Neues.
Auch Alex Lang war kein "netter" Regisseur, aber ein verflucht guter. Einmal wollte ich vor einer unserer Premieren nach Polen fliehen. Ich habe es nicht getan. Gott sei Dank.
Ich hatte liebevolle Regisseure ohne Vision und Mistkerle, die auch keine hatten. Aber die, die die sich nicht mit dem Naheliegendsten zufrieden geben wollten, waren immer anstrengend.
Nett sein ist kein Kriterium, ein Arschloch sein ist es auch nicht. Aber intensive, kreative Arbeit geht meist höchst merkwürdige Wege.
Wann hören wir auf, diese seltsam protestantisch-deutsche Haltung von "Wer arbeitet, muss leiden!" zu reproduzieren? schreibt Herr Tonndorf, ja wann? Nie.
Den leichten, weichen, in friedvoller Übereinstimmung stattfindenden Weg zur Wahrheit oder wenigstens einem Teil von ihr, gibt es nicht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, und keine Kunst ohne Mühe und Schweiß und Tränen und erschöpftes Lachen.
Warum machen wir diesen ganzen Quatsch? Was wollen wir erzählen? Wie wollen wir es erzählen? Warum überhaupt diese Faxen machen? Was wir tun ist der absurde Versuch den Schrecklichkeiten der Welt mit verspielter Verzweiflung zu begegnen. Und das soll leicht gehen?
Die meisten von uns haben Glück, wir dürfen tun, was wir tun wollen, ohne in lebengefährliche Situationen zu geraten. Es bleibt ein Spiel. Und das soll dann auch noch ohne Einsatz gespielt werden?