DIE SEELE DES MENSCHEN IM SOZIALISMUS von OSCAR WILDE
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Die meisten Menschen vergeuden ihr Leben durch einen ungesunden und übertriebenen Altruismus, ja, sind sogar genötigt, es zu vergeuden. Sie finden sich umgeben von scheußlicher Armut, von scheußlicher Hässlichkeit, von scheußlichem Hunger. Es ist unvermeidlich, dass ihr Gefühlsleben davon erschüttert wird. Die Empfindungen des Menschen werden rascher erregt als sein Verstand; und es ist, ... sehr viel leichter, Mitgefühl für das Leiden zu hegen als Sympathie für das Denken. Daher tritt man mit bewundernswerten, jedoch irregeleiteten Absichten sehr ernsthaft und sehr sentimental an die Aufgabe heran, die sichtbaren Übel zu heilen. Aber diese Heilmittel heilen die Krankheit nicht: sie verlängern sie bloß. In der Tat sind sie ein Teil der Krankheit selbst.
Man versucht zum Beispiel
das Problem der Armut zu lösen, indem man die Armen am Leben erhält; oder, wie
es eine sehr fortgeschrittene Schule vorschlägt, indem man sie amüsiert.
Aber das ist keine Lösung;
es verschlimmert die Schwierigkeit. Das wahre Ziel heißt, die Gesellschaft auf
einer Grundlage neu zu errichten, die die Armut ausschließt. Und die
altruistischen Tugenden haben wirklich die Erreichung dieses Zieles verhindert.
Gerade wie die ärgsten Sklavenhalter diejenigen waren, die ihre Sklaven
wohlwollend behandelten und dadurch verhindert haben, dass die Greuel des
Systems von denen, die darunter litten, erkannt und von denen, die darüber
nachdachten, verstanden wurden, so richten beim gegenwärtigen Stand der Dinge
in England jene den größten Schaden an, die versuchen, Gutes zu tun; ... Aus der Barmherzigkeit entstehen
viele Sünden.
Es ist auch noch folgendes
zu sagen. Es ist amoralisch, Privateigentum zur Milderung der schrecklichen
Übelstände zu verwenden, die aus der Einrichtung des Privateigentums
entspringen. Es ist nicht nur amoralisch, sondern auch unehrlich.
Unter dem Sozialismus wird
sich das alles selbstverständlich ändern. Es wird keine Menschen mehr geben,
die in stinkenden Höhlen mit stinkenden Fetzen bekleidet wohnen und kränkliche,
durch den Hunger verkümmerte Kinder inmitten einer unmöglichen, widerwärtigen
Umgebung großziehn. Die Sicherheit der Gesellschaft wird nicht mehr, wie es
jetzt der Fall ist, vom Stande des Wetters abhängen. Wenn Frost kommt, werden
nicht mehr hunderttausend Männer ihre Arbeit verlieren und im Zustand
abscheulichen Elends durch die Straßen irren oder ihre Nachbarn um ein Almosen
anbetteln oder sich vor den Toren der ekelhaften Asyle drängen, um sich ein
Stück Brot oder ein verwahrlostes Obdach für die Nacht zu sichern. jedes
Mitglied der Gesellschaft wird an dem allgemeinen Wohlstand und Glück teilhaben,
und wenn Frost hereinbricht, so wird er niemandem Schaden zufügen.
Auf der anderen Seite wird
der Sozialismus einfach deshalb von Wert sein, weil er zum Individualismus
führt.
Der Sozialismus, Kommunismus
oder wie immer man ihn benennen will, wird durch die Umwandlung des
Privateigentums in allgemeinen Wohlstand und indem er anstelle des Wettbewerbs
die Kooperation setzt, der Gesellschaft den ihr angemessenen Zustand eines
gesunden Organismus wiedergeben und das materielle Wohl eines jeden Mitgliedes
der Gemeinschaft sichern. In der Tat wird er dem Leben seine richtige Grundlage
und seine richtige Umgebung verschaffen. Um aber das Leben zu seiner höchsten
Vollendung zu bringen, bedarf es noch eines anderen. Es bedarf des
Individualismus. Wenn der Sozialismus autoritär ist, wenn Regierungen mit
ökonomischer Macht ausgestattet werden, so wie sie jetzt mit politischer Macht
ausgestattet sind, wenn wir mit einem Wort eine Industrietyrannis bekommen
sollten, dann wäre der neue Status des Menschen schlimmer als der bisherige.
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Man mag die Tugenden der Armen
bereitwillig anerkennen, und doch muss man sie sehr bedauern. Wir bekommen oft
zu hören, die Armen seien für Wohltaten dankbar. Einige von ihnen sind es ohne
Zweifel, aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind
undankbar, unzufrieden, ungehorsam und rebellisch. Sie sind es mit vollem
Recht. Die Mildtätigkeit empfinden sie als lächerlich unzulängliches Mittel
einer Teilrückerstattung oder als sentimentale Almosen, gewöhnlich mit dem
unverschämten Versuch des sentimentalen Spenders verbunden, über ihr
Privatleben zu herrschen. Warum sollten sie dankbar sein für die Krumen, die
vom Tisch des Reichen fallen? Sie selbst sollten beim Mahle sitzen, das
beginnen sie jetzt zu begreifen. Was die Unzufriedenheit anbelangt, wer mit
einer solchen Umgebung und einer so dürftigen Lebensführung nicht unzufrieden
ist, müsste vollkommen abgestumpft sein. Wer die Geschichte gelesen hat, weiß,
dass Ungehorsam die ursprüngliche Tugend des Menschen ist. Durch Ungehorsam ist
der Fortschritt geweckt worden, durch Ungehorsam und durch Rebellion.
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Was die tugendsamen Armen betrifft,
so kann man sie natürlich bedauern, aber keinesfalls bewundern. Sie haben mit
dem Feinde gemeinsame Sache gemacht und haben ihr Erstgeburtsrecht für eine
sehr schlechte Suppe verkauft. Sie müssen außerdem äußerst dumm sein. Ich
begreife wohl, dass ein Mann Gesetze annimmt, die das Privateigentum schützen
und seine Anhäufung gestatten, solange er unter diesen Bedingungen seinem Leben
eine gewisse Schönheit und Geistigkeit zu geben vermag. Doch ist es mir beinahe
unverständlich, wie jemand, dessen Leben durch diese Gesetze zerstört und
verunstaltet wird, ihren Fortbestand ruhig mit ansehen kann.
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Es ist also klar, dass der
autoritäre Sozialismus zu nichts führt. Denn während unter dem gegenwärtigen
System eine sehr große Zahl von Menschen ihrem Leben eine gewisse Fülle von
Freiheit und Ausdruck und Glück zu verleihen vermag, würde unter einem
industriellen Kasernensystem oder einem System der ökonomischen Tyrannei
niemandem mehr eine solche Freiheit verbleiben. Es ist bedauerlich, dass ein
Teil unserer Gemeinschaft tatsächlich in einem Zustand der Sklaverei dahinlebt,
aber es wäre kindisch, das Problem dadurch lösen zu wollen, dass man die
gesamte Gemeinschaft versklavt.
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Doch ich
gestehe, dass viele sozialistische Anschauungen, denen ich begegnet bin, mir
mit Vorstellungen von Autorität oder gar unmittelbarem Zwang vergiftet
scheinen. Autorität und Zwang kommen selbstverständlich nicht in Betracht.
jeder Zusammenschluss muss völlig freiwillig vor sich gehen. Nur wenn er sich
freiwillig zusammenschließt, bewahrt der Mensch seine Würde.
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Die moderne Welt hat Pläne. Sie schlägt vor,
die Armut und das daraus erwachsende Leiden zu beseitigen. Sie will sich vom
Schmerz und den daraus fließenden Qualen befreien. Sie vertraut dem Sozialismus
und der Wissenschaft als ihren Methoden. Ihr Ziel ist ein Individualismus, der
sich durch Freude ausdrückt. Dieser Individualismus wird weiter, reicher,
herrlicher als jede bisherige Form des Individualismus sein. Der Schmerz ist
nicht die letzte Stufe der Vollendung. Er ist bloß ein vorläufiger Zustand und
ein Protest. Er steht im Zusammenhang mit falschen, ungesunden, ungerechten
Verhältnissen. Wenn die Schlechtigkeit, die Krankheit und die Ungerechtigkeit
aus der Welt verschwunden sind, dann wird er keinen Platz mehr haben. Er hat
ein großes Werk vollbracht, aber es ist fast beendet. Sein Wirkungskreis wird
von Tag zu Tag geringer.
Auch wird ihn niemand entbehren. Denn was der Mensch
erstrebt hat, das ist in der Tat weder Schmerz noch Vergnügen, sondern einfach
Leben. Der Mensch verlangt danach, intensiv, ganz und vollkommen zu leben. Wenn
er das vermag, ohne auf andere Zwang auszuüben oder selbst Zwang zu erleiden
und wenn ihn alle seine Arbeiten befriedigen, dann wird er geistig gesünder,
stärker, zivilisierter und mehr er selbst sein. In der Freude drückt sich die
Natur aus, ihr stimmt sie zu. Wenn der Mensch glücklich ist, lebt er im
Einklang mit sich und seiner Umgebung. Der neue Individualismus, in dessen
Diensten der Sozialismus wirkt, ob er es wahrhaben will oder nicht, wird
vollkommene Harmonie sein. Er wird die Erfüllung dessen sein, wonach sich die
Griechen sehnten und was sie nur in Gedanken vollkommen zu verwirklichen
vermochten, weil sie sich Sklaven hielten und sie ernährten; er wird die
Erfüllung dessen sein, wonach sich die Renaissance sehnte, aber nur in der
Kunst wahrhaft verwirklichen konnte, weil sie sich Sklaven hielt und sie
verhungern ließ. Er wird vollkommen sein, und durch ihn wird jeder Mensch zu
seiner Vollkommenheit gelangen. Der neue Individualismus ist der neue
Hellenismus.
The Soul of Man under Socialism, 1891 in The
Fortnightly Review erschienen.
Diese Übersetzung stammt wohl von Gustav
Landauer.
Mit Dank von "Besuche Oscar Wilde" kopiert.