Freitag, 30. Dezember 2016

Neil Young in Konschtanz

Dieses Theater hier hat ungewöhnlich viele Spieler, die verblüffend gut singen können, und hat eine coole Band, deren Bandleader ein gitarrespielender & singender Schauspieler ist. Letztens in einem Johnny Cash-Abend und heute in einem über Neil Young. So weit, so sehr gut.

The Needle and the Damage Done Neil Young

Johnny Cash habe ich spät für mich entdeckt, eigentlich erst mit den "American" Alben, genauer mit "Hurt", einem Nine Inch Nails Cover der herzzerbrechenden Art, ein alter Mann, dessen überaus geliebte Frau gestorben ist, wünscht sich die Fähigkeit zurück, Schmerz zu empfinden.

I hurt myself today
To see if I still feel
I focus on the pain
The only thing that's real
The needle tears a hole
The old familiar sting
Try to kill it all away
But I remember everything

What have I become
My sweetest friend
Everyone I know goes away
In the end
And you could have it all
My empire of dirt
I will let you down
I will make you hurt


HURT Johnny Cash

Erst danach habe ich mich rückwärts vorgearbeitet zum "Folsom Prison Blues" und "Jackson" etc. und viel Spaß dabei gehabt. ("Walk The Line", die verfilmte Liebesgeschichte von John und June Carter ist schon wegen Joaquin Phoenix ansehenswert - ich sage nur, Kindermörderaugen.)

Neil Young ist eine ganz andere Angelegenheit, Neil Young ist meine ganz persönliche musikalische Jugend. Die Texte der Lieder, die ich in diesem Lebensabschnitt (Was für ein fürchterliches Wort.) gehört und geliebt habe, kann ich bis zum heutigen Tag auswendig, die Melodien sind Teil meines Körpergedächtnisses. 
"Abbey Road", ein gutes Geschenk meines blöden amerikanischen Onkels, Jethro Tulls "Thick as a Brick" auf dem transportablen Jugendweihe-Kassettenrekorder, nachts in einem Ruderboot auf dem Scharmützelsee sitzend, überspielt von meiner Jugedliebe, und dann ein Film, ein Hollywoodfilm, der 1970 den Jurypreis in Cannes gewann und den in den USA keiner kennt und auch sonst nirgendwo niemand, nur unter den versprengten Resten der Bürger eines kleinen, fiesen Staates, der DDR hieß, hat er einen zärtlichen Erinnerungsplatz. "Blutige Erdbeeren" war der eingedeutschte Titel, "Strawberry Statement" der originale. Das deutsche Klugscheißerproblem bei der Übersetzung von Filmtiteln gab es also schon in der DDR.

Eine Universität ist definitiv keine demokratische Einrichtung. Wenn hier angefangen wird, Entscheidungen demokratisch zu fällen, werde ich nicht länger bleiben. [...] ob Studenten für oder gegen einen Erlass stimmen, das ist, als würden sie mir erzählen, sie mögen Erdbeeren.
1968 Prof. Herbert Deane stellvertretender Dekan an der Columbia University

In einer Arbeit von Jörg Schweinitz für die Universität von Zürich finde ich folgende Fakten, nur Amazon.de führt diesen Film und wenn man dann unter:

Kunden, die Blutige Erdbeeren gekauft haben, bestellten auch sucht, erhält man folgende Angaben: 
- zwei Musik-DVDs – zum einen "Stern-Combo Meissen, Electra, Lift: Sachsendreier Live" und zum anderen "Folk Blues Best von Stefan Diestelmann";
- das Buch "Bye Bye Lübben City" Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR;
- den Spielfilm "Die Legende von Paul und Paula" (Heiner Carow, DDR 1973)
..... Diese Produktreihe hat eine fur den ‹westlichen Blick› verborgene, aber dennoch eindeutige Logik. Die gesamte Sortierung, die – glaubt man Amazon – durch die spontane Kombinatorik des Kaufverhaltens entstanden ist, gehort zur Erinnerungswelt jener Deutschen, die in den fruhen 1970er Jahren ihre Jugend in der DDR erlebt haben. ..... Fragt man Ostdeutsche, die zu jener Zeit zwischen 15 und 25 Jahre alt waren, so wird man kaum Eine oder Einen ohne Erinnerung an ihn treffen.  


Kein Mensch kennt den Film außer ein paar Ossis, und da auch nur die, die  zwischen 1950 und 1960 geboren wurden. Das ist doch mal ein Alleinstellungsmerkmal! Und genau davon bin ich einer und weiß noch, wie ich beim ersten Ansehen atemlos im Kino saß, beim zweiten Mal versucht habe, den Soundtrack mit meinem Kassettenrekorder mitzuschneiden.
Pst! And turn round and round Pst! Helpless Pst! Give Peace a Chance Pst! 

Und beim dritten Mal war es ein Uhr dreissig nachts während der Weltfestspiele in Berlin und unsere Regierung hatte eine Sondervorstellung im Kino "International" bewilligt, wegen zu großen Andrangs. Unfassbar!
 
Ein sentimentaler Film über revoltierende Studenten in Amerika mit einer hinreißenden Zweier-Fahrradfahrt (Nur die in "Butch Cassidy and the Sundance Kid ist schöner.) und dem wunderbarsten, stimmigsten und uns, diese DDR-Kinder, überwältigendem Soundtrack, den ich bis dahin gehört hatte. Buffy Saint Marie und CSN (Crosba, Stills &Nash) und Jefferson Airplane und John Lennon.
Die Platte habe ich 1991 gekauft. 
Was sind wir doch für Konglomerate von Zufällen und Zeitgeist und Musik!  

Wie ein anderer DDR-Bürger "Blutige Erdbeeren" erlebte 

Montag, 26. Dezember 2016

Marketa Lazarova

Was wußte ich bevor ich den Film sah? Der Regisseur heißt František Vláčil, ein Name, der mir, ich gebe es zu, nichts sagte. Der Film gilt nach einer bedeutenden nationalen Umfrage als bester tschechischer Film aller Zeiten und hat auf Rotten Tomatoes eine 100% Wertung, was heißt, 9 Kritiker von neun fanden ihn gut, bei der Publikumsumfrage kam er immerhin auf 90%. Gedreht wurde er 1965 in, man merke, 548 Tagen, und also drei Jahre bevor russische Panzer die Prager Revolte niederrollten.
Der Film ist drei Stunden lang, die erste halbe Stunde war ich bockig und dann habe ich einfach nur noch geguckt.
Was habe ich gesehen? 
Zuerst die schlechte Nachricht: eine Urform von Game of Thrones mit stark katholischer Färbung, der Mensch ist schlecht oder er wird zum Märtyrer, Frauen retten Männer durch selbstlose Hingabe, Dreck & Blut, Pfeile treffen Augäpfel und böse alte Männer treiben ihre Kinder in den Untergang. Gewalt oder Unterwerfung, und rein gar nix dazwischen.



Aber, und welch ein Aber, Beda Batka (Bedrich Batka) photographierte diesen schwarz-weißen Film, als gäbe es keine Regeln, als wäre sein Auge frei. 
Menschen drücken sich in den Bildrand, verlassen das Licht und suchen im Schatten schamvoll Unterkunft. Landschaften leben, Tiere greifen in Dialoge ein, komplizierte lange Kameraschwenks wandern von Gesichtern in die Weite und ganz nah in weitaufgerissene Augen. Wir haben das Jahr 1967, jeder Kameramann, meist unter dicken Decken schwitzend, um das Geräusch der riesigen, surrenden Kameras abzuschwächen, hatte einen Schärfezieher - und dieser hier war ein großer Künstler, der Mann unter der Decke allerdings auch. Er hat nicht viele Filme gedreht und lehrt heute an der Tisch School in New York Studenten sein Handwerk.
Einige großartige Schauspieler spielen mit, und mein Hirn suchte fieberhaft nach den Filmen, in denen ich sie gesehen hatte. Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, Werner Holt, Salto Mortale habe ich dann gegoogelt.
Keine abgefilmte Diskussion wichtiger Themen, keine Bebilderung dramatischen Geschehens, keine Illustration tiefer Gefühle, all dies nicht, ein Filmfilm, Jede Einstellung ein Bild des Ganzen, jeder Schnitt ein Teil des notwendigen Rhythmus.



Mittwoch, 21. Dezember 2016

Wirklicher Albtraum

Zwei wahre Begebenheiten. 

Gestern Abend war ich in der Kantstrasse beim Chinesen. Während ich vor der Tür eine Zigarette rauche, fahren drei Krankenwagen mit Blaulicht in Richtung Gedächtniskirche vorbei. Wird wohl ein Unfall gewesen sein. Fünf Minuten später hat ein mitessender Freund eine SMS von einer Freundin aus Beirut auf dem Telefon: "Ein LKW ist am Breitscheidplatz in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt gerast." Eine andere Freundin aus Australien erkundigt sich via Facebook, ob es mir gut gehe. Wir sind erschrocken, essen weiter und hoffen, irrwitzigerweise, dass ein besoffener LKW-Fahrer auf dem Bremspedal ausgerutscht ist.
Später in der Nacht lausche ich gelähmt Reportern, die versuchen ihre Fragen so zu stellen, dass die erwünschten Antworten gegeben werden. Noch haben sie kein Glück.
Der falsche Pakistaner wird von einem aufmerksamen Augenzeugen verfolgt und verhaftet, ein unbescholtener polnischer Fernfahrer wurde getötet, 12 Menschen sind tot, viele mehr verletzt, noch mehr in Trauer. Seehofer dreht durch.

Nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin erhöht die CSU in der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik den Druck auf die CDU und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Das CSU-Präsidium unter Parteichef Horst Seehofer stellte das für Anfang Februar geplante Spitzentreffen mit der CDU in München unter Vorbehalt. Es müssten vorher entscheidende Fragen in der Zuwanderungs- und in der Sicherheitspolitik geklärt werden, sonst mache das Treffen keinen Sinn, hieß es in einer Telefonschalte des CSU-Präsidiums. 


Heute um 6 klingelt der Wecker, es geht nach Konstanz. Beim Rauchen auf dem Umsteigebahnhof in Offenburg beginnt ein erschöpfter und betrunkener dünner Mann ein Gespräch. Er ist Berliner, der seit 10 Jahren in Sankt Georgen wohnt und in dieser letzten Woche seinen Vater in Berlin zu Grabe getragen hat. Gestern war er auf dem Weihnachtsmarkt, seine Cousine hatte an einem Stand ewig gebraucht, die Krümel kandierter Nüsse aus ihren Zähnen zu pieksen. Er wurde ungeduldig. Sie gingen weiter, 30 Meter, sein Cousin drehte sich um und sagte: " Mensch, der kann ja gar nicht Auto fahr...." Originaltext des Mannes: "Der Stand war hin. Das hat geklatscht. Geklatscht. Die Körper sind durch die Luft geflogen. Heftig. Es hat geklatscht."
Mir wurde schlecht.

In der Regionalbahn nach Konstanz stieg dann in einem Kaff mitten im Schwarzwald ein Mann ein, dunkelhaarig und braunhäutig und er trug eine dicke Wattejacke. Und ich? Ich denke an umgeschnalltes Dynamit. 
Mir wurde wieder schlecht. 

Ich will so nicht denken, fühlen. Sonst gewinnen ja die Irren.

Sonntag, 18. Dezember 2016

"Affe" in der Neuköllner Oper

Heute abend in der Neuköllner Oper habe ich, wieder einmal, eine für mich exotische Welt erlebt. Parties, Hip-Hop, Sex, Drogen & Alk, verlorene Nächte und verlorene Freunde. Gut, bis auf die Drogen kenne ich diese Dinge schon, aber "*das war in einem anderen Land" und ist also schlecht zu vergleichen.
 

John von Düffel und Fabian Gerhardt haben das Buch geschrieben, Fabian Gerhardt auch die Regie geführt, Peter Fox "Stadtaffe" lieferte die Lieder, umarrangiert, einstudiert und gespielt wurden sie von Fred Sauer (beim Spielen hat er Beistand von fünf anderen Musikern) und Stella Caric choreographierte.

6 Spieler und 6 Musiker schmeißen sich in die Geschichte wie Schweine in den Mist, und ich möchte das als hohes Kompliment verstanden wissen. 

Wie verliert sich ein Mensch im schwarzen Loch des immer gerade nicht greifbaren ultimaten Vergnügens, verzweifelt auf der Suche nach der letzten Ekstase, darüber die Mühen von Freundschaft und Mitgefühl vergessend?
Toll gespielt, toll getanzt und gesungen (auch wenn ich einiges akustisch verpaßt habe) und immer, bei aller extremen emotionalen Intensität doch intelligent und verspielt. 
Und ein verflixt gut nutzbares Bühnenbild hatten sie (Michael Graessner), bei dem technisch sichere, aber optisch gefährliche zweigleisige Balancierseile, eine zweite Etage boten. Das, Gott sei Dank, unaufdringliche Dauerbegleitvideo hätte ich nicht gebraucht, aber das mag wohl meinem Alter geschuldet sein. 

 
Die Spieler in meiner subjektiven Beliebtheits-Reihenfolge:
Anton Weil
Sergeij Lubic
Sohel Altan Gol
Rubini Zöllner
Achan Molanda
Amy Benkenstein

Der Abend ist sehr sehr ausverkauft. Traurige Menschen, die sogar von der Warteliste ausgeschlossen waren, wanderten vor dem Eingang hin und her. Am 5. Januar soll die Derniere sein, aber wenn es noch eine Restintelligenz in der Berliner Theaterszene gibt, ist das eine dumme Ente. In London würde der Abend ins West End wechseln, in New York an den Broadway Aber wir sind hier in Deutschland, und Musicals gelten als Mängelware. Entertainment wurzelt eben im Wort enter = eintreten, Unterhaltung halt nur in unter, drunter, eben weniger wertvoll. 

Wie sähe unsere heutige Kunstszene aus, wären unsere hochbegabten Entertainment-Produzenten 1933 nicht nahezu vollständig aus dem Land gejagt oder gar vergast worden?
 
* "But that was in another country, and besides, the wench is dead." 
"Aber das war in einem anderen Land und außerdem ist das Mädchen tot."
Marlow Der Jude von Malta

Freitag, 16. Dezember 2016

"Arrival" im Kino Central

Das Central sieht von außen wie eine völlig versiffte, ziemlich heruntergekommene Kneipe aus und ist innen eines der angenehmsten Kinos Berlins. Es hat zwei kleine Säle für 96 bzw. 65 Zuschauer, sehr nettes Personal an der Kasse, es gibt ein gutes Kinderprogramm und überhaupt ist die Filmauswahl toll. Nimmt man noch das 50 Meter entfernte Kino in den Hackeschen Höfen dazu, ist man filmwunschtechnisch glücklichst abgedeckt.
Heute also "Arrival".


Dieser Film ist in etwa so sehr ein Science-Fiction, wie es  Kubricks "2001" ist. Er basiert auf einer Kurzgeschichte von Ted Chiang, "Die Geschichte Deines Lebens".  
Die gerade in der richtigen Geschwindigkeit ablaufende, recht komplizierte Geschichte wird zu großen Teilen über das Gesicht von Amy Adams erzählt. Ein fast ungeschminktes, wunderschönes, erwachsenes Gesicht, das lebt und denkt und leuchtet. Der Soundtrack und überhaupt der Einsatz von Geräuschen ist sehr intelligent und darum spannend. Tolle Bilder, ungewöhnlich und filmisch. Und es wird nicht unnötig gequatscht. Forest Whitaker und Jeremy Renner sind hervorragend als zweite Reihe.
Wenn wir wüßten was mit und um uns geschehen wird, würde uns dann die Kraft zuwachsen, unseren Instinkten zu vertrauen? Oder würden wir in vorraussehender Panik erstarren? Würden wir lieben, wenn wir sicher wüßten, dass und wann die Liebe endet? Unser sicherer Tod hindert uns nicht am Leben, aber er verführt uns zur Absicherung. Denn lohnt sich Risiko überhaupt, wenn so wenig Zeit ist? Oder müssen wir alle mögliche Traurigkeit in Kauf nehmen, um nicht unser Leben zu verpassen?

Und dann war da noch die bisher schönste Darstellung von Schwerelosigkeit, die ich gesehen habe: wenn Amy Adams Haare über ihrem Kopf schweben aus einem Gemälde von Max Ernst zitiert.

 Max Ernst 1940 Die Einkleidung der Braut

Ich bin sehr froh aus dem Film gegangen.

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Keiner findet sich schön - Ich mich auch nicht

Ihr bemerkt vielleicht, ich gebe mir gerade die volle Dosis Kultur. War schon lang nicht mehr so lang hintereinander in Berlin und bin ein bisschen wie auf Großstadtdroge.
Heute Pollesch, morgen Kino, übermorgen Musical in Neu-Koelln. Hui!

heute back ich morgen brau ich übermorgen hol ich der königin ihr kind


Fabian Hinrichs wandert & palavert. Tut er das? 

Eine "Rest-Zeit-Story" über die Unwägbarkeiten jeder getroffenen und vermiedenen Entscheidung, über das Altwerden, die Liebessehnsucht und den Liebesschmerz, die banalster Kitsch wäre, wenn der Text nicht so präzise mäandern würde, Hinrichs nicht so schön sprechsänge. Er erinnert mich ein wenig an Eberhard Esche, wenn den noch jemand erinnert. Und das tut er scheinbar unterspannt und privat, aber trotzdem ist in dem Riesenkasten Volksbühne jedes Wort zu hören. Und weil die Jüngeren im Saal kichern, als wären sie erwischt worden.

 
So weit so gut. Es wäre ein toller 45 Minuten Abend geworden auf Bert Neumanns amerikanischer Zirkusbühne, und dann haben sie ihn auf die üblichen, höflichen 75 Minuten gestreckt. Zu den Stripes auf dem Bühnenboden treten die Stars in Form einer sportlichen Tanzgruppe auf und tanzen Bob Fosse, was sie nicht gut können, aber auch nicht schlecht genug, um komisch zu sein. Ich hätte auch den Angst-Teddybären nicht gebraucht.

Eberhard Esche "Der Hase im Rausch" 
https://www.youtube.com/watch?v=ZG8DlGEnjoE  

Gutes Zitat aus der Nachtkritik von Wolfgang Behrens: Wo nur Zufälle sind, klagt hier einer ein Schicksal ein. Das Leben fächere sich auf, so heißt es einmal, "in zwei bis hin zu 120.000 Stränge, mit insgesamt 80.000 (unterschiedlichen) Enden." Und später, kurz vor Schluss, erfolgt die Antwort auf diese Zumutung: "Weißt Du, ich brauche diese ganzen Stränge nicht. Ich brauche eigentlich nur einen Strang! Ich will Dich! Ich will nicht meinen Weg, ich will auch nicht unseren Weg, ich will Deinen Weg."

Montag, 12. Dezember 2016

Ein Mann in Berlin stößt eine ihm unbekannte Frau die Treppe runter


 Eine U-Bahnstation in Berlin in diesem Dezember. Das Jahr ist 2016. Eine Frau im schwarzen Kapuzenmantel zögert einen Augenblick, geht dann eine U-Bahntreppe hinunter, ein rauchender Mann mit einer Bierflasche in der Hand, der kurz hinter ihr im Bild auftaucht, guckt kurz auf sie, folgt ihr und tritt ihr mit seinem Fuß hart in den Rücken, sie stürzt die Treppe herunter, der Mann geht weg, immer noch mit der Zigarette im Mund, dem Bier in der Hand, einer seiner Begleiter folgt ihm ungerührt, ein anderer stockt und starrt, aber dann doch nur auf eine Bierflasche, die scheinbar auf die Stufen gefallen ist. Er hebt diese auf und geht den anderen Männern nach. 
Die Frau hat sich glücklicherweise nur den Arm gebrochen, welche psychischen Folgen sie zu ertragen haben wird, kann ich nicht einmal erahnen
Was war das? Was ist das? Was?
Ich bin Nachts auf den Strassen verschiedener Städte ein recht furchtfreier Mensch - durch Glück - denn mir ist bisher nie körperliche Gewalt angetan worden. Andere Frauen beschreiben ihre ständige Wachsamkeit, ihre Sofortreaktion, wenn sie nächtens auf betrunkene oder einfach nur in Gruppen herumstehende Männer treffen. Sie haben eben andere Erfahrungen als ich gemacht. 
Aber -
Was war das? Was ist das? Was?
Das sind, für mich, Fragen jenseits einfacher populistischer "früher war alles besser" Binsenwahrheiten. Warum hat jemand den Wunsch einem ihm unbekannten Menschen Schmerzen zuzufügen, ihn vielleicht sogar zu töten? Wie kommt es zu dieser völligen Abwesenheit von Empathie? Ganz als würde keinerlei Zusammenhang zwischen Tun und Folgen des Tuns hergestellt. "Mir ist gerade so." Ich will Sex, also zwinge ich jemand anderen dazu, um zu bekommen, was ich will. Ich bin wütend, also muß irgendjemand meinem Zorn zum Opfer fallen, egal wer. Ich langweile mich und fülle meine Ödnis mit den Schmerzen eines anderen Menschen.
Sicher habe ich schon einen keineswegs Beteiligte angemotzt, weil ich schlechte Laune hatte. Sicher habe ich schon verbal meine Wut über etwas momentan Nichtänderbares an einem Unschuldigen abgelassen. Sicher bin ich nicht immer fair oder sensibel.
Aber - 
Was war das? Was ist das? Was?
Einen anderen Menschen schlagen, treten, mit einer Waffe verletzen, ihm Gewalt antun. Warum tue ich das nicht? Und andere tun es? Bin ich ein Glückskind? Geschützt durch glückliche Umstände und genetische Zufälle? Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? - fragte Georg Büchner im Woyzeck. Die sind schlecht und ich bin es nicht, scheint mir keine ausreichende, hilfreiche Erklärung zu bieten. Gibt es keine bessere? Ich verabscheue vereinfachende Erklärungen und doch hätte ich gern irgendeine.

 
 Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? 

Ein Berliner Flohmarkt - Mode als Abgrenzung und Freude

Berlin ist eine komische Stadt. Weltoffen, schmutzig, schön, durcheinander, laut, kulturüberfüttert und vollends unschick. 
Italienische Frauen sind unangestrengt elegant, Pariserinnen schick (wenn auch nicht mehr ganz so schick wie früher), Amsterdamer Frauen denken praktisch, Amerikanerinnen sind ein Mode-Graus. 
Aber Berlinerinnen, zumindestens die meisten, ziehen sich einfach furchtbar schlecht an. 
Ich bin selbst Berlinerin und muß auch in mir gegen die Faulheit & Bequemlichkeit allschwarzer oder -grauer Zeltbekleidung kämpfen. 
Heute war ich mit meiner mir verbliebenen Familie, der Schwester und der Nichte, Herr über einen Flohmarktstand im Berliner Ballhaus, das ist das mit den Tischtelephonen. 

http://www.ballhaus-berlin.de/portfolio-item/vintage-berlin-old-flea-market/ 

Flohmarkthändler haben sicherlich kein leichtes Leben. Sie müssen die Dinge, die sie verkaufen erst einmal finden und dann aufkaufen, ihre Gewinnspanne ist klein, und die meisten üben ihren Beruf trotzdem mit erstaunlicher Würde aus. (Den 17. Juni lassen wir hier mal aus.) Sie sind Liebhaber, die an andere Liebhaber verkaufen. 
Wir hinwiederum haben unsere Ware nur geerbt, unsere tolle, verrückte Mutter hat über 60 Jahre ihres Lebens auf unterschiedlichsten weltweiten Flohmärkten, oft mit Taschenlampenbeleuchtung um 6 Uhr früh, eine tolle Sammlung zusammengetragen. Knöpfe, Broschen, Lorgngons und allerlei Schnickschnack.
Unser Verkaufstag lief dementsprechend gut. 
Die Organisation heute war perfekt, Tisch, Stühle, Beleuchtung, Werbung und all das für 30 Euro.
Aber was mich heute besonders erfreut hat, waren Frauen und Männer die in überraschenden und kleidsamen Kostümierungen an unserem Stand vorbeischauten. Sie haben viel Zeit damit verbracht, genau zu gucken und das wirklich Gewünschte auszuwählen. 
Dicke und dünne Frauen/Männer, die sich frisiert, geschminkt & angezogen haben, um ihre spezielle empfundene Individualität zu präsentieren. Keine skinny Jeans, keine hinternverscheußlichenden Hängehosen, keine formlosen T-Shirts mit dubiosen Aufdrucken, wenig sackähnliche Kutten gegen die Kälte. Anstattdessen erfreuliche Anbicke. Schöne körperbetonte Kostüme & die Körper waren wirklich sehr unterschiedlich, und sie hatten nichts gmeinsam als  Lust am eigenen Körper. Verkleidung im besten Sinn.

Samstag, 10. Dezember 2016

Ich wurde ausgetrickst

Erzählt wurde mir die Geschichte so: das Baby weigerte sich beharrlich, laufen zu lernen. Es war fett, freundlich, nicht sonderlich laut und auch ansonsten auf dem erwartbaren Entwicklungsstand, aber trotzdem es nun schon zwei Lebensjahre hinter sich hatte, saß oder lag es lieber herum, als zu Fuß die Welt um sich herum zu erforschen. 
Aber es liebte, liebte, liebte Schokolade, leidenschaftlich. Und als die Mutter hintertückischerweise ein Stück davon in etwa zwei Metern Entfernung vom Baby ablegte, stand es auf, lief zum Schatz, nahm ihn, aß ihn und setzte sich. 
Erwischt. Seit diesem Tag hat das mit dem Laufen nicht mehr aufgehört. 
Da ist eine Moral in der Geschichte, weiß nur nicht welche.


Absurder Gedanke, seit dem Tod meiner Mutter gibt es niemanden mehr, der weiß, wie ich war, als ich Kind war, denn ich weiß es nicht.

Pfusch in der Volksbühne

SPOILERALARM - nicht weiterlesen, wenn sie vorhaben , den Abend naiv und fröhlich nichtsahnend zu genießen!

Wenn es einen Gott gibt, läßt er sich ohnehin nicht ins Handwerk pfuschen.

pfuschen Vb. ‘unfachmännisch, unordentlich, flüchtig arbeiten’, zuvor ‘unberechtigt eine nicht zunftgemäß gelernte Arbeit verrichten’ (16. Jh.), landschaftlich (bes. omd. westd.) auch fuschen. Wahrscheinlich eine Bildung zu futsch (s. d.), landschaftlich auch pfu(t)sch, das lautmalend zur Charakterisierung einer schnellen, hastigen, schwirrenden oder zischenden Bewegung dient. verpfuschen Vb. ‘(durch fehlerhafte Arbeit) verderben’ (18. Jh.). Pfuscher m. ‘wer ein Handwerk unberechtigt betreibt, wer oberflächlich, schlecht arbeitet, Stümper’, bereits gegen Ende des 14. Jhs., also früher als das Verb bezeugt, daher wohl unmittelbar zu pfu(t)sch gebildet. Pfuscherei f. ‘oberflächliche Tätigkeit, schlechte, liederliche Arbeit’ (17. Jh.). DWDS

Und was machen sie so beruflich? Ich gehe abends auf eine (meist) leicht erhöhte Fläche und tue so, als wäre ich jemand anderes, der ein Problem hat, und dies mit Anderen, die auch so tun, als wären sie Andere, bis ins Extrem durchspielt, dabei schauen mir wiederum andere Leute zu, die vorher Geld fürs Zusehen bezahlt haben.
Eintrittskarten für die Aufführungen der Volksbühne sind momentan Mangelware. Ich habe mich bei der letzten Vorstellung, ausverkauft, auf die Warteliste der heutigen setzen lassen. Keine Steuerkarte, nein, eine richtige. Jeder Abend dieser wichtigen Spielzeit scheint ausverkauft zu sein. Nur aus Trotz? 
Heute, an diesem Abend endet die Vorstellung ganz ohne Verbeugungsordnung, der Eiserne Vorhang senkt sich geräuschvoll (Habe ich da Pupsen gehört?), die lächelnden Spieler, die vorher einzeln und individuell "Tschüss" gesagt haben, verschwinden, (Sie stehen sicher aber am Inspizientenpult und schauen sich den wilden Applaus auf dem Monitor an.) der Eiserne setzt auf, ein Dröhnen ertönt, das in das Geräusch eines davonfliegenden Jets übergeht, dann Stille trotz andauernden Klatschens. Volksbühne zu Ende - aus - kaputt.
13 Schauspieler - ein Omen? - spielen. Ein Abend über das Mißlingen, trotz größten Bemühens. Ein hochorganisierter Abend in dem doch jeder einzelne Darstelller ganz frei scheint. Das ist wahrhaft ein seltenes Glück. Einer ist cool, ein anderer überangestrengt, eine verliert nie den Spaß, einer anderen gelingt dies nicht. Sie sind sehr verschieden, aber gemeinsam an einer Sache interessiert: es so großartig wie möglich zu machen und daran zu scheitern, wenn nötig. 
In Verkürzung ist das die Geschichte dieses Theaters, es wurde oft viel gewagt, mit phantastischem, herzerschütterndem Ergebnis und eben auch mit dem erlebten Eintreten des grandiosen Mißerfolgs. Ich nenne es Risiko. Eine Vision haben und möglicherweise haarscharf oder meilenweit danebenzuhauen, das war hier bisher möglich.
Rückblende:
Mit 14 sind wir bei den berühmt-berüchtigten VB-Spektakeln durchs Klofenster gestiegen, meine Freundin hat ihr Deutsch-Abitur über den Volksbühnen "Hamlet" mit Manfred Karge geschrieben, meine frühen Lieben waren allesamt Schauspieler der Volksbühne, bei den "Räubern" von Karge/Langhoff habe ich das erste Mal geahnt, wie nah mir alte Texte kommen können. Dem jetzigen Intendanten Frank Castorf bin ich, als theaterverliebte Jugendliche durch die tiefste Provinz unseres so sehr provinziellen Staates nachgereist.
Hier arbeiteten: Max Reinhardt, Erwin Piscator, Benno Besson, Manfred Karge & Matthias Langhoff, Johann Kresnik, Fritz Marquardt, Edzard Hausmann, Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief, Dimiter Gottscheff, Renee Pollesch und unzählige andere Regisseure mit tollen Schauspielern, zum Beispiel: Paul Wegener, Emil Jannings, Ernst Lubitsch, Eduard von Winterstein, Werner Krauss, Henry Hübchen, Ruth Glöss, Dieter Montag, Hans Teuscher, Ralf Dittrich, Sophie Rois, Corinna Harfouch, Birgit Minichmayr, Kathrin Angerer, Bernhard Schütz, Herbert Fritsch, Martin Wuttke, Alexander Scheer, Ursula Karusseit und und und.
Und demnächst? 

http://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/intendantenwechsel-volksbuehne--wieso-wurde-die-reissleine-gezogen--mitten-im-flug----24819528