Samstag, 31. Oktober 2015

Noch einmal meine Mutter - Das Flüchtlingsproblem

Ich weiß leider nicht mehr genau wann, aber irgendwann in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, wurde meine Mutter von der UNO eingeladen, über Ihre Zeit als Flüchtende vor dem Hass des faschistischen Deutschlands zu sprechen. Sie wurde im zarten Alter von drei Jahren wegen Hochverrats gesucht und mußte unter abenteuerlichen Umständen ihre Heimat verlassen, als Kind einer mutigen Retterin und Junge verkleidet, weil sie zur Zeit der Flucht ihrer Eltern aus Berlin, der Hauptstadt der Bewegung (Reichstagsbrand!) gerade beim Großvater in Augsburg zu Besuch weilte.
Vor ihrem so öffentlichen Auftritt war sie entsetzlich aufgeregt und fürchtete nicht zu genügen, da sie ja nur "über sich" sprechen könne. Ich denke, es war genügend.
Lange, deutsche Sätze in Englisch und alle Frauen haben einen Beruf!

My name is Barbara Brecht. I am here because my parents Bertolt Brecht, an author, and Helene Weigel, an actress, were immigrants (or as preferred, exiles) and we two children with them.
Starting for me with Irene Grant, a quaker, who brought me out of Germany, where my parents had had to leave me, to rejoin them, on to Karin Michaelis, a writer in Denmark, who gave us our first refuge, than to Nina Santesen in Sweden, a sculptur, to Hella Wuolijoki, a writer in Finland - to Dorothy Thompson, an American journalist, who helped us to get visas, we were helped from step to step, from country to country by a strong network of helping hands.
If we had not been helped, my father would be remembered solely for the 3 Penny Opera, and I would not be standing here, and we were but one small family, one lucky family, helped in that fearful time and the time now is fearful, the helping hands are still there, like Vanessa (Redgrave), who does so much. But more, much more is needed. Please, all of you, make laws, enforce them, give time and organize money to help. From my time of flght I see, that all that helped us, were women - perhaps now the men could join in?

Mein Name ist Barbara Brecht. Ich bin hier, weil meine Eltern Bertolt Brecht, ein Autor, und Helene Weigel, ein Schauspielerin, Migranten waren (oder wie bevorzugt, Vertriebene) und wir zwei Kinder mit ihnen.
Es begann für mich mit Irene Grant, eine Quäkerin, die mich aus Deutschland herausbrachte, wo meine Eltern mich lassen hatten müssen, um wieder zu ihnen zu kommen, weiter zu Karin Michaelis, eine Schriftstellerin in Dänemark, die uns unsere erste Zuflucht gab, dann zu Nina Santesen in Schweden, eine Bildhauerin, zu Hella Wuolijoki, eine Schriftstellerin in Finnland - zu Dorothy Thompson, einer amerikanischen Journalistin, die uns half Visa zu bekommen. Uns wurde geholfen, Schritt für Schritt, von Land zu Land durch ein starkes Netzwerk von helfenden Händen.
Wenn uns nicht geholfen worden wäre, würde man sich an meinen Vater nur wegen der 3 Groschenoper erinnern, und ich würde nicht hier stehen. Und wir waren nur eine kleine Familie, eine glückliche Familie, der geholfen wurde in jener furchtbaren Zeit. Und die Zeit jetzt ist furchtbar, die helfenden Hände sind noch da, wie Vanessa (Redgrave), die so viel tut. Aber mehr, viel mehr ist nötig. Bitte, ihr alle, macht Gesetze, setzt sie durch, gebt eure Zeit und organisiert Geld, um zu helfen. Aus meiner Zeit der Flucht sehe ich, dass alle, die uns halfen, Frauen waren - vielleicht könnten die Männer jetzt mithelfen?

Das Soforthilfeprogramm des Bundes
Nach Angaben von UNICEF sind 5,5 Millionen syrische Kinder akut hilfsbedürftig. Im Rahmen des Bundeshilfsprogramms können vorübergehend 55.000 Kinder im Alter von bis zu 17 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, sofern ein finanzieller Förderer oder eine Pflegefamilie für sie gefunden wurde.

http://www.1aus100.de/


Die sechsjährige Leloz, eines der Flüchtlingskinder im Domiz-Flüchtlingscamp im Irak.

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Der 85. Geburtstag

Heute wäre meine Mutter 85 Jahre alt geworden. 
Das entscheidende, alles verändernde Wort ist "wäre".
Ich hatte eine Brosche für sie, sie liebte Broschen, diese war Bakelit und buchstabierte "Granny". Großmutter. Nellys Großmutter, Jennys und meine Mutter.

Ich bin 57.
Ich war 56.
Ich werde 58 sein.
Ich wäre 57, wenn ich nicht... gestorben wäre.
Und wenn ich nicht gestorben bin, dann...
Aber wenn ich gestorben bin, dann...
Unfassbarer Gedanke. Eine Welt ohne mich. 
Nun eine Welt ohne sie.

Sie war jung.

Plötzlich, durch den Tod eines geliebten Menschen, bin ich eine der Alten, ältestes weibliches Mitglied meiner Familie. Eine Matriarchin ohne Amt.

Sie fehlt mir. 
Nicht nur, wie erwartet, für die großen tiefen Dinge, sondern weil es Witze gibt, über die niemand sonst lachen wird, in jeder Inszenierung mindestens zwei. 
Weil ich niemanden kenne, den ich anrufen kann, wenn ich nicht weiß, wer in einem obskuren Hollywoodfilm der 30er Jahre eine noch obskurere Nebenrolle gespielt hat,
oder wen Elisabeth I. von England in einem bestimmten Regierungsjahr warum bevorzugt hat. 
Weil sie Nougat liebte, wie sonst keiner.
Weil ich jetzt niemanden kenne, der mit mir in all die großartigen, kulturlosen Blockbuster und Superhelden-Movies gehen wird, mit Popcorn und Cola und dem kindlichen Vergnügen von wahrhaften und unbelehrbaren Kinofreaks. 
Weil wir uns beim ersten 3-D Film gemeinsam die Werbung gänzlich unscharf mit diesen häßlichen Brillen angesehen haben. Sie hatte sie dann später immer in ihrer speziellen Kinohandtasche gebunkert. Einen Euro gespart pro 3-D Film.
Weil wir für coole Filme stundenlang in Kino ins Umland gefahren sind.
Weil sie mich in die "Rocky Horror Show" eingeführt hat. Und in Popmusik.
Weil ich das erste Mal in 57 Jahren keinen Adventskalender und keinen Weihnachtsstollen bekommen werde.
Weil sie einen Käfer Cabrio bei 120 Stundenkilometer fahren konnte, während sie sich ihren Pullover auszog, und dann theatralisch perfekte glaubhafte Weinkrämpfe produzierte, wenn ein humorloser dienstbeflissener DDR-VoPo sie wegen Geschwindigkeitsüberschreitung anhielt. 
Weil nur sie noch wußte, wie ich mit 6 Jahren ausgesehen habe und welche tollen, witzigen, klugen Dinge ich im jenem zarten Alter von mir gegeben habe. 
Weil ihre Füße nach Babypuder rochen.
Weil sie schön war und es nie geglaubt hat.
Weil sie so verquer und tief und widersprüchlich und anstrengend und wunderbar und mir so sehr bekannt war, wie es nur meine Mutter sein konnte.
Weil sie mich besser kannte als jeder andere. Und schlechter, weil sie mich so sehr liebte. Weil ich in ihren Augen kein Falsch tun konnte und kein wirklich Richtig. Aber wenn es eine Wahl gegeben hat, war ich immer beschützt, immer und unter allen Umständen, gänzlich, bedingungslos.


Sie war alt.

Alt. Ein Wort, das ich jetzt kosten werde, schmecken, ausspucken, wiederkäuen. Und das ich aushalten muß. Alt. Jetzt wo die Ältere gegangen ist.


Mittwoch, 21. Oktober 2015

"ANDERSON" ein Film von itworks

"Seine Geschichte ist unsere Geschichte."
Bernd Papenfuß

Lithographie, "Porträt Sascha Anderson", von A. R. Penck 1990

E VII
Wirst Du, Kartenhaus, mich mit dem dreiunddreißigsten 
             Deiner Bilder betrüben, oder ist es naiv 
Wenn die Grenze mir einstürzt, das Äußerste, zu wagen 
              das Medium, das Herz, für die noch schönere Münz
 
Vor dem Gartenhaus stehen drei Birken, die heißen 
              Schuld und Sühne, ich weiß, welche die Liebste mir ist
s.a.

1980 oder 81, genau weiß ich es nicht mehr, lag mir mein Familienname besonders quer im Magen. Ein kleines Land, ein Name, damals zu groß, schwer für mich. Durch einen fremdmachenden Künstlernamen wollte ich diesem Druck entkommen und wählte ihn sorgfältig aus - Anderson - ein Dichter, den ich bewunderte und ein Wortspiel, dass mir gefiel. Im Nachhinein Schwachsinn. Damals ein Schritt. Auf einem Plakat, dem zur Aufführung "Jutta oder die Kinder von Damutz" von Helmut Bez, ist dann diese unwirkliche Person notiert, Johanna Anderson. 
Es hat, natürlich, nichts genutzt, das Land war zu klein, jeder kannte jeden, mein Vater war tief gekränkt, sein guter Name abgewiesen, verworfen. 
Und als Anderson aufflog, endlich, schrecklich, explosiv, fühlte ich eine ganz persönliche Verletzung, obwohl ich den Mann, abgesehen von einem kurzen, mich beeindruckenden Treffen, persönlich überhaupt nicht gekannt hatte. Nichts Wichtiges im Vergleich zu dem, was er Vertrauten, Freunden angetan hat, nichts. In was für einem häßlichen Land bin ich aufgewachsen. Mir ist übel.
Ein armer, egomanischer, überfordeter, böser Kerl.



ANDERSON 
ein Film von Annekatrin Hendel

 
SYNOPSIS DES VERLEIHS
Der Schriftsteller Sascha Anderson, in den 1980ern Fixstern und Popstar des kreativen DDR-Undergrounds, wird 1991 als Stasizuträger ersten Ranges enttarnt. Ein Skandal. Vom Nachnamen blieb nur noch das "A", und nicht wenige ergänzten: "rschlosch".
Der Film erzählt vom wildbewegten Doppelleben des Sascha Anderson zwischen Dissidententum und Verrat – und was es bedeutet, mit Lüge, Vertrauensmissbrauch und dem nicht abwaschbaren Stempel des Verräters zu leben. Annekatrin Hendel hat die, die nicht mehr miteinander reden, zum Reden bewegt und sie virtuell wieder an den Tisch gesetzt, an den Anderson seit fast 25 Jahren nicht mehr eingeladen wird. Noch immer ist kein Gras über die Sache gewachsen.

DER FILM

http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Dokumentarfilm-im-Ersten-Anderson/Das-Erste/Video?documentId=31199352&bcastId=799280 

1

alle dinge liegen klar in meinem herzen       das modell
der schwarze vogel februar tanzt auf den wochen & ich
habe angst dass er eines tages im august alles zurück
dreht um es wieder september zu nennen


alle dinge liegen klar in meinem herzen       denn die
gelegenheitsstunde an der weissen parkuhr unschuld
hat zwei zeiger die jedes lied sechzig mal teilen & das
ist auch das alibi für das ende der zeit


alle dinge liegen klar in meinem herzen       nichts wird
vergessen werden denn der punkt am ende ist nach
zwei der menschlichen seiten offen & nur auf den
pfauenaugen taut der schnee zum mittag restlos


alle dinge liegen klar in meinem herzen       so dass mir
nichts bleibt als an den abenden wenn ich der graue
spiegel über dem wortefluss bin jenes schwarze recht
eck nacht auf die namen und reime zu legen


alle dinge liegen klar in meinem herzen       zeugen wird
es nicht geben mutter sag dass der krieg eine er
findung ist & alles wurde nur erfunden um in den spiel
höllen die väterlichen taschen zu wechseln


alle dinge liegen klar in meinem herzen       das modell
der weisse vogel november tanzt auf den wochen & ich
habe angst dass er eines tages im februar alles zurück
dreht um es wieder frühling zu nennen

2
 

So wurde von keiner Berührung gestörtes in zweierlei Hinsicht
Eins und das Selbe Betrachtend das Kind (die Ältern)
mit griechischem Auge Was bleibt ihm denn praktisch übrig
Das Haus ist zwar Turm und Echo kaum einer Hand voll Erde
"Deutschland aber wo liegt es" Dort auf dem Berg den sie gruben
In diese taubstumme Form des Himmels an Ilm oder Pegnitz

sascha anderson
 

Montag, 19. Oktober 2015

Theaterwohnung 9 - Senftenberg, Brandenburg

Sonntags um 20.00 Uhr in Senftenberg

Senftenberg, die Ursprünge des Namens sind unsicher, er könnte sich von "sanft am Berg", "Burg im Sumpf" oder, wenn man die sorbische Bezeichnung Zły Komorow nimmt, "schlimmer Mückenort" herleiten. Wer weiß, jedenfalls ist es hier am Sonntagabend still, sehr still, vielleicht sind alle gestorben? Ausgewandert? Niemand nirgendwo. Ich sehe hier und da erleuchtete Fenster in den Neubauten, viele parkende Autos, darunter immer mal wieder einer der Marke "Trabant", aber nahezu keine Menschen. Dann plötzlich eine Menschenansammlung, zwei Frauen und ein sehr betrunkener Mann. Die eine wartet mit dem Trunkenen auf die Polizei, die andere bietet mir an mich zu einem geöffneten Lokal zu geleiten. Sie macht höflichsten Smalltalk, aber der Laden hat Sonntags Ruhetag. Ich wandere weiter und nach einstündiger Suche finde ich eine Bar, die ist zwar auch geschlossen, aber der Wirt, der eine private Feier veranstaltet, läßt sich erweichen und gibt mir ein Glas, einen Aschenbecher und erlaubt zehn Minuten Aufenthalt. Und so bin ich früh zurück in der aktuellen Theaterwohnung. Die ist frisch renoviert & pieksauber & steril. Ich sitze und sinniere über die Ästhetik der Produkte des Möbelhauses "Dänisches Bettenlager". Haben sie eine? Welche? Eckige Kästen mit dicklichen runden Rändern, aus Holz, dass aber nicht wirklich wie Holz aussieht. In "2001" git es diesen schwarzen Kubus, daran erinnern mich diese Klötze, zwei Bettklötze, zwei Nachtischklötzchen und ein gigantischer Schrankklotz. Dänische Monolithen.


 
















Mittwoch, 7. Oktober 2015

Verunsichern, Isolieren, Vereinsamen

Ein guter Freund von mir wurde in der DDR verhaftet und eingesperrt wegen versuchter Republikflucht, er war ein anständiger Mensch, der erniedrigt und gequält wurde, weil er für sich ein anderes Leben wünschte, als für ihn von den staatstragenden, sich sozialistisch nennenden Kräften vorgesehen war. Er war Maler. Danach hat er jahrelang nicht mehr gemalt. Seinetwegen, aber auch wegen der unerzählten Anderen, mache ich hier Werbung für ein gerade erschienenes Buch.

Gesperrte Ablage: Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945-1989


Herausgegeben von Ines Geipel und Joachim Walther, die auch
"Die Verschwiegenen Bibliothek" gefunden, erforscht und herausgegeben haben.

Wer sich in der DDR dem gesteuerten Literaturbetrieb verweigerte, riskierte empfindliche Gefängnisstrafen. Seine Werke wurden in der Regel nicht publiziert. Das holt nun die "Verschwiegene Bibliothek" nach.
Godhard Weyerer

Die verschwiegene Bibliothek 

Der DDR-Diktatur ist es gelungen, auch nach ihrem Untergang das Gedächtnis der Öffentlichkeit im Hinblick auf die Geschichte des literarischen Schaffens zu beeinflussen. Das einfache Bild, das während ihrer Existenz vorherrschte, ist das von den „staatstragenden“ Künstlern und deren „Kontrapunkten“, den kritischen, aber trotzdem loyalen Autorinnen und Autoren, die oft auch im Westen zu Berühmtheit gelangen konnten. Ein sehr geschöntes Bild, denn in Wahrheit ist dies nur der zugelassene Teil der Literaturgeschichte – bestimmte Stoffe und Ästhetiken, ja, alles wirklich Nonkonforme, Experimentelle, Widerständige wurde konsequent behindert, unterdrückt, verfolgt, verschwiegen, abgelegt und weggesperrt. Wenn Kunst etwas mit Freiheit zu tun hat, dann ist dies die wahre Literaturgeschichte Ostdeutschlands, und sie muss gegen die nach wie vor zähe Propaganda eines Systems erzählt werden. Ines Geipel und Joachim Walther tun dies detail- und kenntnisreich und eröffnen den Blick auf ein literarisches Leben, das trotz lebensgefährlicher Konsequenzen für die Freiheit des Wortes einstand.
Buchtext des Lilienfeld Verlages


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Wenn eine schwierige Wahrheit nicht besprochen wird, sucht sie sich andere Wege und verschlimmert sich.

Gabriele Stötzer - geboren 1953 in der DDR

Als ich geboren wurde, war alles aufgebaut, war alles fertig, perfekt, ein schillerndes Förderband mit Richtung nach oben. Die Ideologie war sicher, der Weg war sicher, die Häuser, die Wohnungen, die Rente waren sicher. Ihr hattet die Welt gewandelt, ihr hattet euch gewandelt, die Natur aber nicht. Die Natur gab mir Augen, Ohren, Hände, Füße, Haut, doch ihr habt es nicht bemerkt. Ihr habt euren Anspruch in die Welt gestellt, eure Vernunft, eure Moral, eure Erkenntnisse. Ihr habt uns nichts übrig gelassen. So sind wir aufgewachsen im Nichts. Wir haben nichts, wir können nichts, wir wollen nichts, wir brauchen nichts. Wir halten uns nicht an eure Abmachungen, eure Gesetze besitzt ihr ohne uns, ihr habt uns nicht gefragt, ihr habt immer für uns mitgeredet. Wenn ihr über uns redet, redet ihr über uns hinweg. Wir horden uns in Gruppen und stehen an den Rändern eurer Welt. Aber übersehen könnt ihr uns nicht, überleben könnt ihr uns nicht, vergessen könnt ihr uns nicht.

Gabriele Stötzer wurde 1977 zu einem Jahr Zuchthaus im Zuchthaus Hoheneck ohne Bewährung verurteilt.

Das Frauengefängnis Hoheneck bzw. Frauenzuchthaus Hoheneck, zu DDR-Zeiten: Strafvollzugseinrichtung (StVE) Stollberg (Hoheneck) genannt, war ein Gefängnis in Stollberg/Erzgebirge in Sachsen, sagt Wiki.

Ein Zuchthaus war ein Gefängnis mit strafverschärfenden Haftbedingungen für Häftlinge, die wegen nicht mit der Todesstrafe bedrohter Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt waren. Wesentlicher Bestandteil der Zuchthausstrafe war der Zwang zu harter körperlicher Arbeit, oft bis zur Erschöpfung, zum Beispiel in Steinbrüchen oder beim Torfstechen, sagt Wiki auch.

Gabriele Stötzer auf Wikipedia

Gabriele Stötzer über ihre Zeit im DDR Frauengefängnis Hoheneck

Eingeschränkte Freiheit - Der Fall Gabriele Stötzer

Verunsichern, Isolieren, Vereinsamen

Gabriele Stötzer
 

Mittwoch, 30. September 2015

Frauenstreik in Island

Ich hatte eine fast surreale Konfrontation mit einer Feministin und Gender-Forscherin auf Facebook und habe danach über die Unterschiedlichkeit unserer weiblichen Positionen ein wenig nachgedacht:
Ich bin in der DDR aufgewachsen, wo es aus gänzlich unfeministischen, ökonomischen Gründen Usus war, dass nahezu alle Frauen arbeiteten. Nahezu ALLE. Meine erste echte Hausfrau habe ich im Westen kennengelernt. Das ist kein Werturteil, nur eine Beobachtung. Die Pille war in der DDR kostenlos, Abtreibung seit 1972 legal und ohne vorherige Gewissensprüfung, Kindergartenplätze standen allen zur Verfügung, auch wenn man über die Qualität der Kinderbehandlung, weiß Gott, streiten könnte. Doch Lohngleichheit gab es nicht. Und auch keine Chancengleichheit. Aber auf eine mir nicht wirklich erklärbare Art war ich nie im Zweifel darüber, dass ich Männern gleichwertig bin. Nicht gleichberechtigt, das halte ich für ein Ding der Unmöglichkeit, denn wir sind biologisch verschieden, und das ist "gut so". Aber Unterschiedlichkeit war mir auch nie ein Gradmesser von Qualität. 

Du bist anders als ich, ich kann dies besser, du jenes. 

Erst nach 1989 wurde ich mit fundamental anderen Ansichten zum Geschlechterverhältnis konfrontiert. Einiges schien mir esoterisch, einiges verkrampft, einiges spannend. Aber, was mich auch bei den interessanten Positionen irritierte war der Mangel an ökonomischem Denken. Wenn ich genauso viel verdiene, wie ein Mann, der eine der meinen gleichwertige Arbeit leistet, wenn ich meine Kinder für wenig Geld sicher und gut versorgt unterbringen kann, während ich arbeiten gehe, dann sind meine Möglichkeiten gleichgestellt zu leben, unendlich höher. Sicher vernachlässige ich hier viele andere geschlechtsspezifische Probleme, aber als Grundlage einer produktiven Auseinandersetzung scheint mir, dass ökonomische Gerechtigkeit die wichtigste zu erkämpfende Vorraussetzung wäre.

Am 24 Oktober 1975 streikten etwa 90% der isländischen Frauen für das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit. Und sie gingen noch weiter und verweigerten an diesem Tag jede Art von Arbeit, Küchenarbeit, Hausarbeit, Versorgungsarbeit. Sie überließen auch die Versorgung ihrer Kinder den nichtstreikenden Männern und gingen - aus. Das Wort Streik wurde nicht verwendet, sondern sie nannten es einen "freien Tag".
Eine eher rechts einzuordnende Stadträtin schrieb um 3 Uhr eine Nachricht an ein weibliches Mitglied der Links-Grünen, nachdem sie dafür kritisiert worden war, eine Versammlung für 3.00 Uhr einberufen zu haben: Um 2.25 Uhr haben wir "schon unsere Gehäter erarbeitet", nach 65, 65% eines gewöhnlichen Arbeitstages.

In Reykjavik trafen sich 25 000 Frauen, bei einer damaligen Einwohnerzahl von 220 000 waren das wirklich viele, tranken Kaffee, rauchten (1975!) und redeten miteinander.


25 000 Frauen auf einem riesigen Haufen, man stelle sich das akustisch vor.

Vigdís Finnbogadóttir wurde 1980 als erste europäische Frau zur Präsidentin ihres Landes gewählt. Sie blieb bis 1996 im Amt.

Trotzdem verdiente 2005 eine Isländerin 64.15% des entsprechenden Lohnes ihres männlichen Kollegen. 2013 lag der Verdienst einer isländischen Frau immer noch 19.9% unter dem eines männlichen Isländers. Aber sie arbeiten weiter dran.

"In the past year 20 major companies in Iceland have been awarded certificates showing they giver their male and female employees equal pay for equal work, and many more companies will follow." 
2014  
http://www.nordiclabourjournal.org/i-fokus/iceland-back-on-its-feet/article.2014-06-12.6461720786


Samstag, 26. September 2015

Flüchtlinge - Walter Benjamin starb heute vor 75 Jahren



Ein Flüchtling, ein verfolgter Mann, dem die nationalsozialistische Regierung Deutschlands jede Möglichkeit genommen hatte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, allein in einem spanischen Dorf, er hat die Pyrenäen von Frankreich aus in einem ihn überfordernden Fußmarsch überwunden, nun will Spanien ihn nicht nach Amerika gehen lassen, in das ferne rettende Land. Freunde haben ihm ein Visum erkämpft, doch er wird Amerika nie erreichen. Eine Überdosis Morphium beendet sein Leben. Erst im Massengrab verbuddelt, dann umgebettet, niemand weiß wohin.
Wir alle würden versuchen, der Vernichtung zu entfliehen, ob aus Hunger, in Hoffnung auf ein besseres Leben oder aus Angst vor Verfolgung - jeder von uns.


In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden. Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt. ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freund Adorno zu übermitteln und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich gesehen habe. Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich gerne geschrieben hätte.

Abschiedsbrief W.B. von Henny Gurland aus dem Gedächtnis rekonstruiert 

Zum Freitod des Flüchtlings W. B.

Ich höre, daß du die Hand gegen dich erhoben hast
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.

Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.

So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest.


Bertolt Brecht

Benjamins Weg in die Freiheit, sein Weg in den Tod. http://www.zeit.de/2010/37/Walter-Benjamin-Weg

W. B.

Einmal dämmert Abend wieder,
Nacht fällt nieder von den Sternen,
Liegen wir gestreckte Glieder
In den Nähen, in den Fernen.

Aus den Dunkelheiten tönen
Sanfte kleine Melodien.
Lauschen wir uns zu entwöhnen,
Lockern endlich wir die Reihen.

Ferne Stimmen, naher Kummer -:
Jene Stimmen jener Toten,
Die wir vorgeschickt als Boten
Uns zu leiten in den Schlummer.


Hannah Arendt

Montag, 14. September 2015

Ziegen auf Bäumen


ZIEGEN AUF BÄUMEN

Surreales Bild eines realen Geschehens



Der Arganbaum oder Eisenholzbaum 
kommt als Endemit (in einem Gebiet endemisch) 
im südwestlichen Marokko und südöstlichen Algerien vor; 
er kann in Höhenlagen von bis zu 1.300 Metern gedeihen. 
Auch wenn die Arganwälder wild und buschartig aussehen, 
so hat bis auf den heutigen Tag doch jeder Baum seinen Eigentümer, 
der strikt darauf achtet, dass kein Fremder die erntereifen Früchte aufsammelt. 
Der Arganbaum wird auch als Tertiärrelikt angesehen. 
Schon seit 80 Millionen Jahren soll er in Marokko wachsen... 
Wiki  


Der Baum dient vielen Zwecken:
sein Öl als Medizin, Kosmetik- und Speiseöl
sein Fallholz als Brennholz
seine Früchte als Nahrungsmittel
seine Blätter als Tierfutter.



Er versucht sich der durch harte, scharfe Dornen vor Tierfraß zu schützen, 
Dromedare allerdings könnten Glas fressen, ohne sich zu verletzen 
und Ziegen haben ihrerseits gelernt bis in die Baumkronen zu klettern 
und zwischen den Dornen Blätter und Früchte abzurupfen.

Sonntag, 13. September 2015

Ein Brief über den Tod - Rilke



Ach, wenn man's annehmen könnte, grad so wie's geschrieben ist.


Rainer Maria Rilke an Gräfin Margot Sizzo-Noris-Crouy

Château de Muzot sur Sierre, am Dreikönigstag 1923

 

...

Ich werf es allen modernen Religionen vor, dass sie ihren Gläubigen Tröstungen und Beschönigungen des Todes geliefert haben, satt ihnen Mittel ins Gemüt zu geben, sie mit ihm zu vertragen und zu verständigen. Mit ihm, mit seiner völligen, unmaskierten Grausamkeit: Diese Grausamkeit ist so ungeheuer, dass sich gerade bei ihr der Kreis schließt: Sie führt schon wieder an das Extrem einer Milde, die so groß, so rein und so vollkommen klar ist [aller Trost ist trübe!], wie wir nie, auch nicht im süßesten Frühlingstag, Mildigkeit geahnt haben. Aber zur Erfahrung dieser tiefsten Milde, die, empfänden sie nur einige von uns mit Überzeugung, vielleicht alle Verhältnisse des Lebens nach und nach durchdringen und transparent machen könnte: zur Erfahrung dieser reichsten und heilsten Milde hat die Menschheit niemals auch nur die ersten Schritte getan, – es sei denn in ihren ältesten, arglosesten Zeiten, deren Geheimnis uns fast verloren gegangen ist. Nichts, ich bin sicher, war je der Inhalt der „Einweihungen“, als eben die Mitteilung eines „Schlüssels“, der erlaubte, das Wort „Tod“ ohne Negation zu lesen; wie der Mond, so hat gewiss das Leben eine uns dauernd abgewendete Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit, zu der wirklichen heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins.

Man sollte nicht fürchten, dass unsere Kraft nicht hinreichte, irgendeine, und sei es die nächste und sei es die schrecklichste Todeserfahrung zu ertragen; der Tod ist nicht über unsere Kraft, er ist der Maßstrich am Rand des Gefäßes: Wir sind voll, sooft wir ihn erreichen – und das Voll-sein heißt [für uns] Schwer-sein … das ist alles – Ich will nicht sagen, dass man den Tod lieben soll; aber man soll das Leben so großmütig, so ohne Rechnen und Auswählen lieben, dass man unwillkürlich ihn [des Lebens abgekehrte Hälfte]} immerfort mit einbezieht, ihn mitliebt – was ja auch tatsächlich in den großen Bewegungen der Liebe, die unaufhaltsam sind und unabgrenzbar, jedesmal geschieht! Nur weil wir den Tod ausschließen in einer plötzlichen Besinnung, ist er mehr und mehr zum Fremden geworden, und da wir ihn im Fremden hielten, ein Feindliches.

Es wäre denkbar, dass er uns unendlich viel näher steht, als das Leben selbst … Was wissen wir davon?! Unser effort [dies ist mir immer deutlicher geworden mit den Jahren, und meine Arbeit hat vielleicht nur noch den einen Sinn und Auftrag, von dieser Einsicht, die mich so oft unerwartet überwältigt, immer unparteiischer und unabhängiger … seherischer vielleicht, wenn das nicht zu stolz klingt … Zeugnis abzulegen], … unser effort, mein ich kann nur dahin gehen, die Einheit von Leben und Tod vorauszusetzen, damit sie sich uns nach und nach erweise. Voreingenommen, wie wir es gegen den Tod sind, kommen wir nicht dazu, ihn aus seinen Entstellungen zu lösen … glauben Sie nur, liebe gnädigste Gräfin, dass er ein Freund ist, unser tiefster, vielleicht der einzige durch unser Verhalten und Schwanken niemals, niemals beirrbare Freund … und das, versteht sich, nicht in jenem senitmentalisch-romantischen Sinn der Lebensabsage, des Lebens-Gegenteils, sondern unser Freund, gerade dann, wenn wir dem Hier-Sein, dem Wirken, der Natur, der Liebe … am leidenschaftlichsten, am erschüttertsten zustimmen. 


Das Leben sagt immer zugleich: Ja und Nein. Er, der Tod [ich beschwöre Sie, es zu glauben!] ist der eigentliche Ja-Sager: Er sagt nur: Ja. Vor der Ewigkeit.
 

Sonntag, 6. September 2015

Ein halber Mantel könnte vielleicht auch genug sein.


Was immer ihr einem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.

Zwei Flüchtlingsfamilien dürfen in den Vatikan. Zwei. Weil der Vatikan so klein ist. Zwei Pfarrgemeinden, eine Familie pro Gemeinde. Danke.

Papst Franziskus hat Gläubige in ganz Europa aufgerufen, Flüchtlingen Schutz vor Krieg und Hunger zu gewähren. Jede katholische Gemeinde, jede geistliche Gemeinschaft, jedes Kloster und jeder Zufluchtsort solle eine Familie aufnehmen, sagte Franziskus vor Zehntausenden Gläubigen auf dem Petersplatz. Die Bischöfe sollten ihre Diözesen dazu drängen. Nach seinen Angaben werden die beiden Pfarrgemeinden des Vatikan "in den nächsten Tagen" mit gutem Beispiel vorangehen und zwei Flüchtlingsfamilien unterbringen. Der Vatikan hat nur ein winziges Staatsgebiet innerhalb Roms. Hinter seinen Mauern leben auch einige Familien mit Kindern. Zwei Gemeinden finden in dem Kirchenstaat Platz, darunter die des Petersdoms. Jede soll nun eine Familie aufnehmen. 
Wie die Unterbringung der Flüchtlinge genau vonstatten gehen soll, blieb aber zunächst offen.
tagesschau.de

Der Gesamtbesitz an Aktien und anderen Kapitalbeteiligungen des Vatikans wurde 1958 auf etwa 50 Milliarden DM geschätzt. Nach der Recherche des Journalisten Paolo Ojetti im Jahre 1977 gehörte etwa ein Viertel der Grundstücke und Häuser Roms der Kirche bzw. ihren Gemeinschaften.

2007 sprach man von einem Vermögen zwischen 1,2 und zwölf Milliarden Euro, zu dem Goldreserven in der Schweiz und in den USA, Immobilien, Schatzbriefe, Aktien und festverzinsliche Wertpapiere gehören. Das Vermögen der Vatikanbank IOR liegt Schätzungen des Nachrichtenmagazins L’Espresso zufolge bei rund sechs Milliarden Euro.
Wiki


DAS VERMÖGEN DES VATIKAN

Gesamtwert: Mindestens 1,2 Milliarden, höchstens jedoch geschätzte zwölf Milliarden Euro
Barkapital/Schatzbriefe: 750 Milliarden Lire in bar und 1000 Milliarden Lire in Schatzbriefen als Entschädigung für den Verlust des Kirchenstaats durch die Lateranverträge von 1929 (Wert in Dollar damals rund 80 bis 90 Millionen)
Edelmetall: Goldreserven in der Schweiz
Wertpapiere: Aktien (Anteil 25 bis 30 Prozent) und festverzinsliche Wertpapiere (70 bis 75 Prozent)
Anlageregionen: 55 Prozent in Europa (vor allem in Italien, der Schweiz, Großbritannien und Deutschland), 40 Prozent in den USA und Kanada, der Rest in Mexiko, Japan und Südamerika
Branchen: Politisch und moralisch saubere Aktien klassischer Marktführer wie General Motors, IBM, Disney, zudem Investments in Nahrungsmittelfirmen (darunter auch Pleitefirmen wie Parmalat und Cirio). Dazu kommen Dienstleistungs- und Telekommunikationsunternehmen sowie Banken und Versicherungen. Ethisch nicht vertretbare Investments etwa in Rüstungsfirmen oder Pharma-Unternehmen, die Verhütungsmittel produzieren, sind tabu.Hintergrund: Ausgerechnet nach der „Pillen-Enzyklika“ mit dem Verbot künstlicher Empfängnisverhütung durch Papst Paul VI. 1968 musste die Kurie zur Kenntnis nehmen, dass dem Vatikan Teile einer italienischen Pharmafirma gehörten, die die Pille herstellte. Paul VI. ordnete daraufhin eine Bereinigung des Aktienbesitzes an.
Beteiligungen: Mindestens 0,9 Prozent, maximal fünf Prozent des Aktienkapitals der Großbank Intesa, zu der Banca Commerciale, Banco Ambrosiano und Cariplo gehören. Gleicher Anteil an Capitalia, die nach der Fusion von Banco di Roma, Cassa di Risparmio di Roma und Banco Santo Spirito entstand.
Immobilien: So genau wissen das vermutlich nicht mal die Bankiers Gottes. Nur soviel geht aus den vatikanischen Unterlagen hervor, dass der Heilige Stuhl 2003 aus der Vermietung seiner Häuser über 22 Millionen Euro eingenommen hat. 


El Greco St. Martin und der Bettler
1597-99

St. Martin war ein guter Mann
Und ritt auf seinem Pferd heran.
Da stand er nun am großen Tor
Und sah den Bettler, der so fror.

Mit dem Schwert teilte er seinen Mantel entzwei
Und gab dem Bellter einen Teil.
Ihm zu Ehren tragen wir das Laternenlicht,
So vergessen wir den heiligen Martin nicht!

DER GETEILTE MANTEL

Zur Zeit des heiligen Martin galt ein kaiserliches Edikt, wonach die Söhne von Berufssoldaten zum Kriegsdienst gezogen wurden. Dadurch wurde auch Martin, gegen seinen Willen, mit 15 Jahren zum Militärdienst eingezogen. Noch war Martin nicht getauft; aber in allem verhielt er sich nicht, wie sich sonst Soldaten verhielten: Er war gütig zu seinen Kameraden, wunderbar war seine Nächstenliebe. Seine Geduld und Bescheidenheit überstiegen die der anderen bei weitem. Seine Kameraden verehrten ihn und hielten ihn schon damals mehr für einen Mönch als einen Soldaten. Denn, obwohl noch nicht getauft, zeigte er ein Verhalten wie ein Christ: Er stand den Kranken bei, unterstützte die Armen, nährte Hungernde, kleidete Nackte. Von seinem Sold behielt er nur das für sich, was er für das tägliche Leben benötigte.
Eines Tages, als Martin nichts außer Waffen und dem einfachen Soldatenmantel bei sich trug, begegnete er mitten im Winter, der von so außergewöhnlicher Härte war, dass viele erfroren, am Stadttor von Amiens einem nackten Armen. Dieser flehte die Vorbeigehenden um Erbarmen an. Doch alle liefen an dem Elenden vorüber. Da erkannte Martin, von Gott erfüllt, dass der Arme, dem die anderen keine Barmherzigkeit schenkten, für ihn da sei.
Aber was sollte er tun? Außer seinem Soldatenmantel hatte er ja nichts. Also nahm er sein Schwert und teilte den Mantel mitten entzwei. Den einen Teil gab er dem Armen, in den anderen Teil hüllte er sich wieder selbst. Etliche der Umstehenden begannen zu lachen, denn Martin sah mit dem halben Mantel kümmerlich aus. Viele jedoch, die mehr Einsicht hatten, bedauerten sehr, dass sie nicht selbst geholfen hatten, zumal sie viel wohlhabender als Martin waren und den Armen hätten bekleiden können, ohne sich selbst eine Blöße zu geben.
© Prof. Dr.theol. Manfred Becker-Huberti, Köln