Das entscheidende, alles verändernde Wort ist "wäre".
Ich hatte eine Brosche für sie, sie liebte Broschen, diese war Bakelit und buchstabierte "Granny". Großmutter. Nellys Großmutter, Jennys und meine Mutter.
Ich bin 57.
Ich war 56.
Ich werde 58 sein.
Ich wäre 57, wenn ich nicht... gestorben wäre.
Und wenn ich nicht gestorben bin, dann...
Aber wenn ich gestorben bin, dann...
Unfassbarer Gedanke. Eine Welt ohne mich.
Nun eine Welt ohne sie.
Sie war jung.
Plötzlich, durch den Tod eines geliebten Menschen, bin ich eine der Alten, ältestes weibliches Mitglied meiner Familie. Eine Matriarchin ohne Amt.
Sie fehlt mir.
Nicht nur, wie erwartet, für die großen tiefen Dinge, sondern weil es Witze gibt, über die niemand sonst lachen wird, in jeder Inszenierung mindestens zwei.
Weil ich niemanden kenne, den ich anrufen kann, wenn ich nicht weiß, wer in einem obskuren Hollywoodfilm der 30er Jahre eine noch obskurere Nebenrolle gespielt hat,
oder wen Elisabeth I. von England in einem bestimmten Regierungsjahr warum bevorzugt hat.
Weil sie Nougat liebte, wie sonst keiner.
Weil ich jetzt niemanden kenne, der mit mir in all die großartigen, kulturlosen Blockbuster und Superhelden-Movies gehen wird, mit Popcorn und Cola und dem kindlichen Vergnügen von wahrhaften und unbelehrbaren Kinofreaks.
Weil wir uns beim ersten 3-D Film gemeinsam die Werbung gänzlich unscharf mit diesen häßlichen Brillen angesehen haben. Sie hatte sie dann später immer in ihrer speziellen Kinohandtasche gebunkert. Einen Euro gespart pro 3-D Film.
Weil wir für coole Filme stundenlang in Kino ins Umland gefahren sind.
Weil sie mich in die "Rocky Horror Show" eingeführt hat. Und in Popmusik.
Weil ich das erste Mal in 57 Jahren keinen Adventskalender und keinen Weihnachtsstollen bekommen werde.
Weil sie einen Käfer Cabrio bei 120 Stundenkilometer fahren konnte, während sie sich ihren Pullover auszog, und dann theatralisch perfekte glaubhafte Weinkrämpfe produzierte, wenn ein humorloser dienstbeflissener DDR-VoPo sie wegen Geschwindigkeitsüberschreitung anhielt.
Weil nur sie noch wußte, wie ich mit 6 Jahren ausgesehen habe und welche tollen, witzigen, klugen Dinge ich im jenem zarten Alter von mir gegeben habe.
Weil ihre Füße nach Babypuder rochen.
Weil sie schön war und es nie geglaubt hat.
Weil sie so verquer und tief und widersprüchlich und anstrengend und wunderbar und mir so sehr bekannt war, wie es nur meine Mutter sein konnte.
Weil sie mich besser kannte als jeder andere. Und schlechter, weil sie mich so sehr liebte. Weil ich in ihren Augen kein Falsch tun konnte und kein wirklich Richtig. Aber wenn es eine Wahl gegeben hat, war ich immer beschützt, immer und unter allen Umständen, gänzlich, bedingungslos.
Sie war alt.
Alt. Ein Wort, das ich jetzt kosten werde, schmecken, ausspucken, wiederkäuen. Und das ich aushalten muß. Alt. Jetzt wo die Ältere gegangen ist.
Tja.
AntwortenLöschenMichaela Misha Nabjinsky schrieb:
AntwortenLöschenHeul. Lesen bitte. Alle. Heuln. Vor Freude über so viel zärtliche Liebe. Danke mitten in der Nacht, Johanna Schall
Anne Balla
Mit feuchten Augen, lese ich deinen Text. So eine schöne Liebeserklärung an eine Mama.
Ingvar Jensen
mein gott... „heart“-Emoticon
Hannes Fischer
„heart“-Emoticon „heart“-Emoticon „heart“-Emoticon „heart“-Emoticon „heart“-Emoticon
Kerry Kelly
Kerry Kelly Thank you for sharing your glorious feelings with us, Johanna...not everyone is that brave, or half as eloquent.
Jens Mittelstenscheid
So wird es sein. So ist es. Immer. Eine brutale Forderung des Lebens. Gänzlich ungerecht. Und das Gerechteste was man sich denken kann.
Ich denk an dich, Johanna.
Martin Waßmann
Sehr, sehr schön geschrieben. Vielen Dank!
Gabriele Bigott-Kleinert
Ja, erst dann fühlt man, wie bedingungslos man geliebt und beschützt wurde. Danke.
Ann Rosa Lux
Love mit Danke!!!!
Ulli Schröder
Das wird auch nicht besser - soll es auch nicht. Das ist der Preis für all die Liebe, die man bekommen hat. Bin in Gedanken bei Dir. Uli
Christina Graebel
...ich verneige mich !
Nadja Engelbrecht
wie eindringlich und dankbar.
sehr berührend.
das wünscht sich jedes kind und jede mutter.
Jacqueline Stickel
bin im gedanken bei dir
Anna Else Bärbel Goldbeck-Löwe
"Alt" - Nur Mut, Johanna Schall! Alter ist nix für Feiglinge. Und Du hast keinerlei Begabung für Feigheit.
Mathias Noack
Schöner Eintrag. Berührend.
Mirjam Temba
Sweetie .....so vom herzen geschrieben ....wie gluecklich kannst du dich aber auch schaetzen eine Mama gehabt zu haben, mit der du all diese dinge tun konntest......schoen ....aber dann fehlt sie eben so und das schmerzt......wir begraben grad den vater meines mannes und ich hab mir heute nacht ueberlegt, was ich in der rede auf der beerdigung ueber meine eigene mutter schreiben wuerde ...mir ist nix eingefallen .........so sad ....
umarme dich und send you big warm hugs from far away xxx
Ich habe eine Kollegin, deren Mutter vor einigen Jahren verstarb. Ich weiß nicht mehr, ob es der Geburtstag oder Todestag ihrer Mutter ist, aber wenn sie an diesem Tag Vorstellung hat, dann steht ein Bild ihrer Mutter auf ihrem Garderobenplatz. Es ist ein Ausdruck von Gefühlen, die schwer ausgedrückt werden können. Ich finde das liebevoll, ich finde das richtig. Auch wenn Menschen gehen, müssen wir uns nicht trennen. Wir tragen sie bei uns, sowieso. Manche sagen, man muss über Menschen hinwegkommen. Das finde ich falsch. Wir müssen über Menschen hinwegkommen, die wir nicht leiden können. Dringend und schnell. Aber Menschen, die man geliebt hat, die muss man behalten. Es macht sie unsterblich solange es uns gibt.
AntwortenLöschenDanke! So sehr berührend und persönlich be-/geschrieben.
AntwortenLöschenEltern sollten unsterblich sein!!!