Freitag, 8. August 2014

Lissabon 1 - Hieronymus Bosch


Es ist schön hier. Nicht so schwer, grandios und geschichtsstolz wie Madrid, nicht so übervoll, sinnüberflutend und selbstbewusst wie Rom, auch voll von Geschichte, aber hauptsächlich eine Stadt in der gelebt wird. 
Es ist laut. Es ist voll. Es riecht oft nach Pisse. Es ist grün. Nicht in meinen Bildern, aber überall sonst sind Parks und baumbestandene Alleen. Der Verkehr staut mehr als er fährt. Der Kaffee ist hervorragend, außer im Hotel, das ein Nichtraucherhotel ist, aber in dem der Concierge, auf meine Frage nach dem Rauchen, nur leise antwortete: "Wissen sie, manche Gäste rauchen auf dem Zimmer, dann weinen wir, aber...", es folgte das zarteste vorstellbare Schulterzucken.


Der Platz - Plaza - Plaqua - Praca - des Handels
an der Mündung des Tejo in den Atlantischen Ozean


 Dito


 Ein Friseur nur für Männer und Hunde


 Dito

 Die Strassen sind so,


 und deshalb sehen die Strassenbahnen, zumindest die alten, so aus.
Hab schon lang nicht mehr soooo viele Grafitti gesehen!

 Lissabon im sogenannten atlantischen Licht.

 Varietetheater der altmodischen Art gibt es hier viele. Die Photos der Darsteller auf den Plakaten erinnern an Schlagerplattencover aus den frühen Fünfzigern.

Stripclubs haben ebenfalls ein leicht altertümliches Ambiente, zumindestens von außen.

 Kaffeewerbung der ungewöhnlichen Art. Ist Kaffee schlecht für die Zähne?



UND! 
Und im Museu Arte Antigua hing zwischen einer großen Anzahl mittelmäßiger Bilder,
dieses Triptychon: Die Versuchung des Heiligen Antonius von Hieronymus Bosch!

Oh. Oh. Schön! Verstörend! Witzig! Erschreckend! Unergründbar.

Tafel 1:

 Antonius in der Luft von Dämonen geplagt


 
 Antonius kniend an der Treppe auf den Erlöser und sein Abbild in der Kapelle zeigend


Antonius lesend



Des Antonius von Padua Fischpredigt



Antonius zur Predig
Die Kirche findt ledig,
Er geht zu den Flüssen,
Und predigt den Fischen;
Sie schlagn mit den Schwänzen,
Im Sonnenschein glänzen.

Die Karpfen mit Rogen
Sind all hieher zogen,
Haben d' Mäuler aufrissen,
Sich Zuhörens beflissen:
Kein Predig niemalen
Den Karpfen so gfallen.

Spitzgoschete Hechte,
Die immerzu fechten,
Sind eilend herschwommen
Zu hören den Frommen:
Kein Predig niemalen
Den Hechten so gfallen.

Auch jene Phantasten
So immer beym Fasten,
Die Stockfisch ich meine
Zur Predig erscheinen.
Kein Predig niemalen
Den Stockfisch so gfallen.

Gut Aalen und Hausen
Die Vornehme schmausen,
Die selber sich bequemen,
Die Predig vernehmen:
Kein Predig niemalen
Den Aalen so gfallen.

Auch Krebsen, Schildkroten,
Sonst langsame Boten,
Steigen eilend vom Grund,
Zu hören diesen Mund:
Kein Predig niemalen
Den Krebsen so gfallen.

Fisch große, Fisch kleine,
Vornehm' und gemeine
Erheben die Köpfe
Wie verständige Geschöpfe:
Auf Gottes Begehren
Antonium anhören.

Die Predigt geendet,
Ein jedes sich wendet,
Die Hechte bleiben Diebe,
Die Aale viel lieben.
Die Predig hat gfallen,
Sie bleiben wie alle.

Die Krebs gehn zurücke,
Die Stockfisch bleiben dicke,
Die Karpfen viel fressen,
Die Predig vergessen.
Die Predig hat gfallen,
Sie bleiben wie alle.



Abraham a Santa Clara

Dienstag, 5. August 2014

"Napalm Girl" - ein Bild - Kinder im Krieg


Wahrscheinlich das erste Zeitungsphoto an das ich mich bewusst erinnere. 

1972, der Vietnamkrieg, in direktem Anschluß an den Indochinakrieg 1946–54, geht in sein achtzehntes Jahr. 
Ein Dorf, das von der nordvietnamesischen Armee okkupiert worden war, wird von südvietnamesischen Fliegern mit Napalm bombardiert. Kim Phuc, neun Jahre alt, ist mit ihrer Familie auf der Flucht. Es wird behauptet, ein Flieger hätte die Gruppe für Soldaten gehalten und sie deshalb beschossen. Zwei ihrer Cousins sterben bei diesem Angriff.
Kim Phuc ist nackt, weil ihre Kleidung brannte, sie hat sie sich vom Körper gerissen. Sie sagt später, sie hätte immer wieder nóng quá, nóng quá - zu heiß, zu heiß, geschrien. 

Der Photograph Nick Ut schaffte sie und ihre Verwandten ins nächste Krankenhaus, dreissig Prozent von Kim Phucs Haut waren verbrannt, ihre Behandlung dort dauerte über zwei Jahre und erst 1982, nach einer erneuten Operation in Deutschland, konnte sie sich wieder wirklich bewegen.


8. Juni 1972 außerhalb des Dorfes Trang Bang
von links nach rechts: die Brüder Phan Thanh Tam, Phan Thanh Phouc, Kim Phuc und ihr Cousin Ho Van Bon and Ho Thi Ting
© Nick Ut
Ut bekam 1973 den Pulitzerpreis für dieses Photo.

Napalm ist das Kurzwort für Naphthensäuren und Palmitinsäure, es
ist eine Brandwaffe mit dem Hauptbestandteil Benzin, das mit Hilfe von Zusatzstoffen geliert wird. So wird erreicht, dass Napalm als zähflüssige, klebrige Masse am Ziel haftet und eine starke Brandwirkung entwickelt.

Bereits kleine Spritzer brennenden Napalms verursachen schwere und schlecht heilende Verbrennungen auf der Haut. Wegen seiner hydrophoben Eigenschaften kann Napalm zudem nur schlecht mit Wasser gelöscht oder von der Haut abgewaschen werden. Auch bei einem nicht direkten Treffer wirkt Napalm äußerst zerstörerisch gegen Lebewesen und hitzeempfindliches Material. Je nach Zusammensetzung erreicht es eine Verbrennungstemperatur von 800 bis 1200 °C. (Wiki)


Unbeschnittene Variante des Photos

Zwölf Reporter, die den Luftangriff auf Trang Bang am 8. Juni 1972 fotografieren.
In den nächsten Sekunden gerät ihnen die Gruppe um Kim Phúc in den Blick.
© Bettmann/CORBIS, Photograph unbekannt

 Etwas später
 
Viel später

Heute lebt Kim Phuc als Ärztin und Mutter zweier Kinder in Kanada.

Quelle:


Gerhard Paul
Die Geschichte hinter dem Foto
Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung
eines Bildes aus dem Vietnamkrieg

http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208413/default.aspx

Das Mädchen und das Photo 
Regie Marc Wiese, WDR/ARTE, Deutschland 2009, 53 Min.


Kinderkreuzzug 1939



In Polen, im Jahr Neununddreißig

War eine blutige Schlacht

Die hat viele Städte und Dörfer

Zu einer Wildnis gemacht.



Die Schwester verlor den Bruder

Die Frau den Mann im Heer

Zwischen Feuer und Trümmerstätte

Fand das Kind die Eltern nicht mehr.

 

Aus Polen ist nichts mehr gekommen

Nicht Brief noch Zeitungsbericht

Doch in den östlichen Ländern

Läuft eine seltsame Geschicht.



Schnee fiel, als man sich’s erzählte

In einer östlichen Stadt

Von einem Kinderkreuzzug

Der in Polen begonnen hat.



Da trippelten Kinder hungernd

In Trüpplein hinab die Chausseen

Und nahmen mit sich andere, die

In zerschossenen Dörfern stehn.



Sie wollten entrinnen den Schlachten

Dem ganzen Nachtmahr

Und eines Tages kommen

In ein Land, wo Frieden war.



Da war ein kleiner Führer

Der hat sie aufgericht’.

Er hatte eine große Sorge:

Den Weg, den wusste er nicht.



Eine Elfjährige schleppte

Einen Jungen von vier Jahr

Hatte alles für eine Mutter

Nur nicht ein Land, wo Frieden war.



Ein kleiner Jude marschierte im Trupp

Mit einem samtenen Kragen

Der war das weißeste Brot gewohnt

Und hat sich gut geschlagen.



Und zwei Brüder kamen mit

Die waren große Strategen

Stürmten eine leere Bauernhütt

Und räumten sie nur vor dem Regen.



Es ging ein dünner Grauer mit

Hielt sich abseits in der Landschaft

Und trug an einer schrecklichen Schuld:

Er kam aus einer Nazigesandtschaft.



Da war unter ihnen ein Musiker

Der fand eine Trommel in einem zerschossenen Dorfladen

Und durfte sie nicht schlagen

Das hätt sie verraten.



Und da war ein Hund

Gefangen zum Schlachten

mitgenommen als Esser

Weil sie’s nicht übers Herz brachten.



Da war auch eine Schule

Und ein kleiner Lehrer für Kalligraphie

Und ein Schüler an einer zerschossenen Tankwand

Lernte schreiben bis zu FRIE…



Da war auch ein Konzert:

An einem lauten Winterbach

Durfte einer die Trommel schlagen

Da wurd er nicht vernommen, ach.
 
Da war auch eine Liebe.

Sie war zwölf, er war fünfzehn Jahr.

In einem zerschossenen Hofe

Kämmte sie ihm sein Haar.



Die Liebe konnt nicht bestehen

Es kam zu große Kält:

Wie sollen die Bäumchen blühen

Wenn so viel Schnee drauf fällt?



Da war auch ein Krieg

Denn es gab noch eine andre Kinderschar

Und der Krieg ging nur zu Ende

Weil es sinnlos war.



Doch als der Krieg noch raste

Um ein zerschossenes Bahnwärterhaus

Da ging, wie es heißt, der einen Partei

Plötzlich das Essen aus.



Und als die andere Partei das erfuhr

Da schickte sie aus einen Mann

Mit einem Sack Kartoffeln, weil

Man ohne Essen nicht kämpfen kann.



Da war auch ein Gericht

Und brannten zwei Kerzenlichter

Und war ein peinliches Verhör.

Verurteilt wurde der Richter.



Da war auch eine Hilfe

(Hilfe hat nie geschadet)

Eine Dienstmagd hat ihnen gezeigt

Wie man ein Kleines badet



Sie hatte leider nur zwei Stunden

Ihnen beizubringen

Mußte  ihrer Herrschaft

Die Betten nachbringen.



Da war auch ein Begräbnis

Eines Jungen mit samtenem Kragen

Der wurde von zwei Deutschen

Und zwei Polen zu Grabe getragen.
 
Protestant, Katholik und Nazi war da

Ihn der Erde einzuhändigen

Und zum Schluß sprach ein kleiner Sozialist

Von der Zukunft der Lebendigen



So gab es Glaube und Hoffnung

Nur nicht Fleisch und Brot

Und keiner schelt sie mir, wenn sie was stahln

Der ihnen nicht Essen bot.



Und keiner schelt mir den armen Mann

Der sie nicht zu Tische lud:

Gleich ein halbes Hundert, da handelt es sich

Um Mehl, nicht um Opfermut.



Findet man zwei oder sogar drei

Tut man gern was dafür

Aber wenn es so viele sind

Schließt man seine Tür.



In einem zerschossenen Bauernhof

Haben sie Mehl gefunden.

Eine Elfjährige band sich die Schürze um

Und backte sieben Stunden.



Der Teig war gut gerühret

Das Feuerholz gut gehackt

Das Brot ist nicht aufgegangen

Sie wussten nicht, wie man Brot backt.



Sie zogen vornehmlich nach Süden.

Süden ist, wo die Sonn

Mittags um zwölf Uhr steht

Gradaus davon.



Sie fanden zwar einen Soldaten

Verwundet im Tannengries.

Sie pflegten ihn sieben Tage

Damit er den Weg ihnen wies.



Er sagte ihnen: Nach Bilgoray!

Muß stark gefiebert haben

Und starb ihnen weg am achten Tag.

Sie haben ihn auch begraben.



Und da gab es ja Wegweiser

Wenn auch vom Schnee verweht

Nur zeigten sie nicht mehr die Richtung an

Sondern waren umgedreht.



Das war nicht etwa ein grausamer Spaß

Sondern aus militärischen Gründen

Und als sie suchten Bilgoray

Konnten sie es nicht finden.



Sie standen um ihren Führer

Der sah in die Schneeluft hinein

Und deutete mit der kleinen Hand

Und sagte: es muß dort sein.



Einmal, nachts. sahen sie ein Feuer

Da gingen sie nicht hin.

Einmal rollten drei Tanks vorbei

Da waren Menschen drin.



Einmal kamen sie an eine Stadt

Da machten sie einen Bogen

Bis sie daran vorüber waren

Sind sie nur nachts weitergezogen.



Wo einst das südöstliche Polen war

Bei starkem Schneewehn

Hat man die fünfundfünfzig

Zuletzt gesehn.



Wenn ich die Augen schließe

Seh ich sie wandern

Von einem zerschossenen Bauerngehöft

Zu einem zerschossenen andern.



Über ihnen, in den Wolken oben

Seh ich andre Züge, neue, große!

Mühsam wandernd gegen kalte Winde

Heimatlose, Richtunglose.



Suchend nach dem Land mit Frieden

Ohne Donner, ohne Feuer

Nicht wie das, aus dem sie kommen

Und der Zug wird ungeheuer.

  
Und er scheint mir durch den Dämmer

Bald schon gar nicht mehr derselbe:

Andere Gesichtlein seh ich

Spanische, französische, gelbe!

  
In Polen, in jenem Januar

Wurde ein Hund gefangen

Der hatte um seinen mageren Hals

Eine Tafel aus Pappe hangen.



Darauf stand: BITTE  UM HILFE!

WIR WISSEN DEN WEG NICHT MEHR.

WIR SIND FÜNFUNDFÜNFZIG

DER HUND FÜHRT EUCH HER.

 
WENN IHR NICHT KOMMEN KÖNNT

JAGT IHN WEG!

SCHIESST NICHT AUF IHN

NUR ER WEISS DEN FLECK.



Die Schrift war eine Kinderhand.

Bauern haben sie gelesen.

Seitdem sind eineinhalb Jahre um.

Der Hund ist verhungert gewesen.


https://www.youtube.com/watch?v=R88KlC26Bo4&sns=em

Ich bin jünger als ihr denkt.


Ganz manchmal, bei der Verrichtung gewöhnlicher "erwachsener" Tätigkeiten, überfällt mich plötzlich das Gefühl, ich sei eine Hochstaplerin.
Ich bezahle meine Miete, verhandele Verträge, inszeniere Theaterstücke, gebe kluge Ratschläge und keiner merkt, dass ich in Wahrheit gar keine Ahnung habe. Ich mag wie eine erwartungsgemäße Überfünfzigjährige aussehen, aber das ist nur Fassade. Ich trickse mich sozusagen durch das Erwachsenenleben, hoffend, das keiner merkt, dass ich nur so tue als ob ich alt und wissend wäre.

Eine Freundin hat mir heute Abend einige ihrer alten Photoalben mit ganz wunderbaren Kinderphotos gezeigt. 

Photoalben? Verzierte Lederbände, in die einstmals analoge Photographien eingeklebt wurden, meist ordentlich datiert und mit handschriftlicher Benennung der abgebildeten Menschen. Die Bilder sind gelegentlich unscharf und für DDR-Bürger bis in die späten 60er meist schwarz-weiß. 

Ich kenne meine Freundin schon lang, aber heute habe ich eine Andere gesehen, die tief innen in dieser Frau steckt, ganz und gar unabhängig von ihrem realen biologischen Alter. Natürlich hat sie inzwischen viel erlebt, gelebt, sich verändert, verwandelt und doch, da bin ich mir sicher, irgendwo ganz tief drinnen sitzt ein  Mädchen, unsicher, neugierig, verquer, siegesgewiss und mit riesigen Erwartungen an das Leben.

Da all meine Kinderbilder seit sieben Jahren, gemeinsam mit meinen Möbeln, Büchern und anderem weltlichen Tand in einem Container in Rostock liegen, kann ich nur dieses Photo zur persönlichen Illustrierung meiner Behauptung anbieten.

Sollte ich in einer künftigen Diskussion auf diesen Beitrag angesprochen werden, werde ich dies alles ableugnen!
Meine Oma, meine Schwester und ich, vermutlich acht Jahre alt.


Montag, 4. August 2014

Herta Müller - Ganz kurze Autobiographie

 

Debatte um Ehrenbürgerwürde für Herta Müller entbrannt

Der CDU-Politiker Michael Braun setzt sich dafür ein, dass die Nobelpreisträgerin Herta Müller die Ehrenbürgerwürde Berlins verliehen bekommt – doch der Senat hat sich offenbar dagegen entschieden.

Berliner Morgenpost vom 4.8.2014
© Berliner Morgenpost 2014 - Alle Rechte vorbehalten


Herta Müller
1953 bin ich in Nitzkydorf geboren, das Jahr, in dem Stalin körperlich starb – geistig lebte er noch viele Jahre. Das Dorf liegt im rumänischen Banat, zwei Autostunden zu Belgrad oder Budapest. Eine Bauernbevölkerung, weiße, rosa, hellblaue Giebel – oder Triangelhäuser in symmetrisch laufenden Straßen. Mein Vater haßte Feldarbeit und wurde, als er 1945 aus der SS nach Hause kam, LKW-Fahrer und Alkoholiker. Auf Feldwegen geht das zusammen. Meine Mutter war und blieb Bäuerin auf den Mais- und Sonnenblumenfeldern. Mais ist für mich die sozialistische Pflanze schlechthin: er hat Fahnen, wächst in Kolonnen, raubt den Blick, und seine Blätter schneiden bei der Arbeit in die Hände. Im Maisfeld wird man an einem einzigen Tag vom Kind zum Greis. So erkläre ich mir, daß meine Mutter schon mit Ende zwanzig für mich eine alte Frau war.
Sturheit in der Schufterei, Ethnozentrismus und keinerlei Reue für die Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus – es sind die drei Grundeigenschaften dieser deutschen Minderheit, aus der ich komme. Ich wurde fürs Weiterführen dieses Lebensmusters erzogen: Waschen, Putzen, Kühemelken, Strümpfe stopfen. Nebenbei fiel der Satz: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, wäre hier Deutschland.“ Aber um welchen Preis?
Bücher gab es keine im Haus, nur Gebetbücher und von meinem im Krieg gefallenen Nazionkel Die deutsche Lebensschule.
Von Frühjahr bis Spätherbst mußte ich Kühe hüten im Flußtal. Das Tal war zu groß. Das Wort „Einsamkeit“ gibt es im banater Dialekt nicht, also war ich das Adjektiv „allein“, und das spricht sich im Dialekt „alleenig“ aus – das klingt wie „wenig“. Aus diesem Tal weiß ich, daß Pflanzen die Einsamkeit verkleinern, weil sie stehen. Und daß Tiere sie vergrößern, weil sie gehen. Und daß Wolken am Himmel das Gespür zu groß machen und den Verstand zu klein.




Herta Müller 1972 Abiturphoto
Mit 15 ging ich aufs Gymnasium nach Temeswar und mußte einsehen, daß diese deutsch-dörfliche Erziehung 30 km weiter, in der Stadt, nichts taugte. Daß ich dies Dorf nie mochte, wurde mir klar, dennoch hatte ich zwei Jahre großes Heimweh – das ist kein Widerspruch. Ich lernte schnell Rumänisch, wollte ein Stadtmensch sein. Ich begann Bücher zu lesen. Das wichtigste: Eugen Kogons Der SS-Staat. Ich las das Buch mit Angst, daß der Name meines Vaters in der nächsten Zeile steht, weil er mir nichts vom Krieg erzählte, die Rumäniendeutschen aber als KZ-Wächter in dem Buch vorkamen. Durch das Buch begriff ich aber auch, daß ich jetzt so alt bin wie mein Vater als SS-Soldat und das Land um mich herum eine andere Art Diktatur ist.
Nach dem Gymnasium studierte ich Germanistik und Rumänistik. Ich stieß auf Gleichaltrige, die viel lasen und selber schrieben. Sie wurden meine engsten Freunde und waren bereits in den Fängen des Geheimdienstes. Denn sie hatten die „Aktionsgruppe Banat“ gegründet und ein Programm formuliert, das die dienende Literatur jeder Couleur ablehnte: die Heimatliteratur, die Nazi- und Stalindienerei, den sozialistischen Realismus. Statt dessen verlangten sie den kritischen Blick und individuelle, moralische Verantwortung als Voraussetzungen fürs Schreiben. Das war ein Affront gegen die meisten Schriftsteller im Land und gegen das Regime. Es folgten Verhöre, Haussuchungen, Exmatrikulation von der Uni und Verhaftungen. Die Gruppe wurde zerschlagen. Da ich selber nicht schrieb, beäugte man mich schief, man tat mir noch nichts.
Nach dem Studium wurde ich Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik. Mein Vater starb, meine erste Ehe war dahin, ich begann, um zu begreifen, wer ich bin, die Niederungen zu schreiben. Und der Geheimdienst begann seine Besuche in der Fabrik: Drohungen, auch mit dem Tod. Nach einer Woche zeigte sich, man wollte mich weich machen, ich sollte eine IM-Erklärung schreiben, der Geheimdienstler diktierte. Ich weigerte mich und wurde entlassen und hatte ab dem Tag nur wenige Tage ohne Schikanen. Ohne Arbeit gehörte ich zu den „parasitären Elementen“ und dafür gab’s Zwangsarbeit oder Gefängnis. Man drohte mit beidem, ließ mich aber frei herumlaufen.
Vier Jahre lag Niederungen bei einem Bukarester Verlag, 1982 erschien das Buch von der Zensur verstümmelt. Zwei Jahre später erschien es im West-Berliner Rotbuch Verlag, es war mir gelungen, das Manuskript in den Westen schmuggeln zu lassen. Die Literaturpreise in Deutschland veränderten mein Leben. Ich durfte vier Mal zu Preisverleihungen in den Westen. Um nicht Aushängeschild zu sein, konnte ich die Reisen nur annehmen, wenn ich im Ausland sagte, was zu Hause passiert. Daran hielt ich mich. Ich kehrte vier Mal nach Rumänien zurück, für meine Freunde war das wichtig. Mein Wegbleiben hätte man gegen sie verwenden können.
1985 war an ein Leben in Rumänien nicht mehr zu denken, das Regime schien ewig zu halten, ich aber war mit den Nerven am Ende. Ich verwechselte das Lachen mit dem Weinen, das Schweigen mit dem Reden. Ich schrie laut in den Straßen herum, galt als verrückt, war aber noch haarbreit normal. Ich beantragte die Ausreise, die man mir bei Verhören öfter angeboten hatte, um mich los zu werden. Ich hatte jedesmal abgelehnt, meinend: „Es müßte nur Ceauçescu gehen, dann könnten alle anderen bleiben.“ Jetzt wollte ich. Ich verweigerte die für Rumäniendeutsche übliche „Familienzusammenführung“ und bestand auf der Ausreise aus politischen Gründen. Nach anderthalb Jahren ließ man mich gehen, meine Mutter wurde mitgepackt.
1987 kam ich in Nürnberg an, 29. Februar hatten mir die Rumänen in die Papiere geschrieben. In dem Jahr hatte der Februar aber nur 28 Tage. Die Rechnung des rumänischen Geheimdienstes ging auf, die Deutschen machten mir deswegen Schwierigkeiten. Aber auch, weil ich auf politische Verfolgung bestand und keine Aussiedlerin sein wollte.



© REUTERS 

Der erste Blick aus dem Fenster im Nürnberger Übergangsheim fiel auf Hitlers Parteitagsgelände. Ich dachte: aus der Familie der Täter ins Land der Befehlsgeber. Mit dem Bundesnachrichtendienst mußte ich drei Tage über mein Leben reden, meine Mutter und die anderen angekommenen „gewöhnlichen“ Deutschen zwei Minuten. Ich sollte mich entscheiden, ob ich eine Deutsche bin oder politisch verfolgt. Nach dem Übergangsheim zog ich nach Berlin, wo ich heute lebe. Meine Mutter bekam den deutschen Paß nach drei Monaten, ich nach anderthalb Jahren, es seien „eindringliche Recherchen“ nötig, sagte man mir.
Es ist, als ob man sich als Uhr mitbringen würde aus einem anderen Land. Ihre Zeiger habe ich schnell auf hiesige Zeit gestellt, mich im Alltag schnell angepaßt. In der U-Bahn, im Supermarkt will ich eine hiesige Deutsche sein, habe ich doch den deutschen Paß. Aber wenn ich schreibe, dann pfeife ich darauf, dann zählen nicht die Zeiger – es tickt die Unruh aus der Uhr.
Ich hab gesehen, wie Menschen zerbrechen in so vielen Arten von Unglück. Zwei meiner liebsten Freunde hat der Geheimdienst umgebracht. Ihr Verbrechen: Sie haben Gedichte geschrieben, sehr schöne sogar. Ich hab viel Glück gehabt, sonst wäre ich heute nicht hier. Daß ich hier aufgenommen wurde, bedeutet mir viel, darum muß ich diese Freunde gerade jetzt erwähnen. Vielleicht hat das Glück mich verwechselt, weil ich ja selber meist nur wußte, was ich nicht sein will und fast nie wußte, was aus mit werden könnte. Schneiderin oder Friseuse, das wünschte ich mir sehr. Geklappt hat es damals nicht und ist heute wohl zu spät.

Erschienen im Jahrbuch 1997 herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung