Donnerstag, 5. Juni 2014

Anne Carson, ein Heiratsantrag



Aus red doc>

        ... Du könntest
die Gesamtheit des
gesunden Menschenverstandes
nehmen und sie in deine Hand-
fläche legen und noch genug
Platz haben für deinen Schwanz. 

From red doc>

            ...You could
take the entirety of the
common sense of humans
and put it in the palm of
your hand and still have
room for your dick.



Als ich drei Jahre war, haben meine Eltern geheiratet und ich mußte trotzdem in den Kindergarten. Aber mir wurde versprochen, dass ich beim nächsten Mal bestimmt mitkommen könnte.
Trotzdem, oder deswegen, habe ich, glücklicher Bastard, bis ins reife Alter von dreizehn Jahren bei jedem Mann den ich, aus welchen Gründen auch immer, toll fand, gesagt: "Den will ich mal heiraten!"
Gestern war ich bei der Verleihung des kanadischen Griffin Preises für Poesie, eine der weltweit anerkanntesten Dichterehrungen und nun habe ich entschieden, dass ich, sobald ich groß bin, Anne Carson heiraten werde. Sie selbst weiß allerdings noch nichts davon.

Jeder, der schon einmal an einer Veranstaltung teilgenommen hat, bei der Dichter eigene Werke lesen, kennt die Qual, die monotones Ablesen, unhörbares Gemurmel oder überemotionales Seufzhauchen dem Zuhörer bereiten können. Die wenigsten Dichter sind kongeniale Lautbarmacher ihrer Werke. Ist ja auch nicht ihr Beruf.
Eine Erinnerung: Heiner Müller & Volker Braun in den wilden Monaten des Herbstes 89, der eine trockener, präziser, scharfer Vorleser, der andere zunehmend in den Tücken seines Heimatdialekts versinkend bis zur völligen Unverständlichkeit.
Und gestern Abend sieben Dichter, sieben Varianten. 
Anne Carson, Professorin für Alt-Griechisch, Dichterin, Essayistin, Übersetzerin, Romanautorin etc., schmal, sehr gerade, fast brav aussehend tritt vor das Mikrophon, grinst, liest und ich bin ihr verfallen. Die ist schlau und traurig und kühl, und sie lädt mich ein mit ihr zu denken und zu fühlen. Sie singt in melodischer Strenge.

Die genauen Hochzeitspläne werden noch bekannt gegeben.



Die Versuche von Übertragung sind meine und typographisch, sprachlich und rythmisch nur mickrige Annäherungen.

Aus  
Kurze Vorträge 
1992

Einführung (Auszug):

Eines Tages bemerkte jemand, dass es Sterne gab aber keine Wörter, warum?
Ich habe viele Leute gefragt, Ich denke es ist eine gute Frage. Drei alte Frauen arbeiteten auf dem Feld. Was nützt es uns zu fragen? sagten sie. Tja es wurde schnell deutlich, dass sie alles wußten was es zu wissen gibt über die schneebedeckten Felder und die blaugrünen Sprößlinge und die Pflanze genannt "Verwegenheit", die Dichter mit Veilchen verwechseln. Ich begann alles mitzuschreiben was sie sagten.
...Du kannst nie genug wissen, nie genug arbeiten, nie die Infinitive und Partizipien merkwürdig genug verwenden, nie die Bewegung genug erschweren, nie den Geist schnell genug verlassen.

From  
Short Talks 
1992

Introduction (excerpt):

One day someone noticed there were stars but no words, why?
I’ve asked a lot of people, I think it is a good question. Three old women were bending in the fields. What use is it to question us? they said. Well it shortly became clear that they knew
everything there is to know about the snowy fields and the
bluegreen shoots and the plant called “audacity” that poets
mistake for violets. I began to copy out everything that was said.

...You can never know enough, never work enough, never use
the infinitives and participles oddly enough, never impede the
movement harshly enough, never leave the mind quickly enough.




Kurzer Vortrag über das Gefühl des Abfluges eines Flugzeugs

Tja, du weißt, ich frage mich, es könnte die Liebe sein die meinem Leben entgegenrennt mit hocherhobenen Armen schreiend Laß es uns kaufen Was für ein Schnäppchen!

Short Talk on the Sensation of Airplane Takeoff

Well you know I wonder, it could be love running toward my life with its arms up yelling let’s buy it what a bargain!



Kurzer Vortrag über das Rückwärts-Laufen

Meine Mutter verbot mir rückwärts zu laufen. So laufen die Toten, sagte sie. Woher hatte sie nur diese Idee? Die Toten, laufen doch nicht rückwärts aber sie laufen hinter uns. Sie haben keine Lungen und können nicht rufen wären aber glücklich wenn wir uns umdrehen würden. Sie sind die Opfer der Liebe, viele von ihnen.

Short Talk On Walking Backwards

My mother forbad us to walk backwards. That is how the dead walk, she would say. Where did she get this idea? Perhaps from a bad translation. The dead, after all, do not walk backwards but they do walk behind us. They have no lungs and cannot call out but would love for us to turn around. They are victims of love, many of them.


Short Talk on Walking Backwards
My mother  forbade us to walk backwards. That is how the dead walk, she would say. Where did she get this idea? Perhaps from a bad translation. The dead after all, do not walk backwards but they do walk behind us. They have no lungs and cannot call out but would love for us to turn around. They are victims of love, many of them.
Short Talk on the Sensation of Airplane Takeoff
Well you know I wonder, it could be love running toward my life with its arms up yelling let’s buy it what a bargain!
- See more at: http://www.soyoufound.me/?p=237#sthash.8Wagcla9.dpuf
Short Talk on Walking Backwards
My mother  forbade us to walk backwards. That is how the dead walk, she would say. Where did she get this idea? Perhaps from a bad translation. The dead after all, do not walk backwards but they do walk behind us. They have no lungs and cannot call out but would love for us to turn around. They are victims of love, many of them.
Short Talk on the Sensation of Airplane Takeoff
Well you know I wonder, it could be love running toward my life with its arms up yelling let’s buy it what a bargain!
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Mittwoch, 4. Juni 2014

Sprache kaputt machen


    RADEBRECHEN

      ich radebreche
      du radebrechst
      er, sie, es radebrecht
      wir radebrechen
      ihr radebrecht
      sie radebrechen
      Partizip 2: geradebrecht


      Der Begriff Radebrechen wird von der mittelalterlichen Folter- und Tötungsmethode 
      des Räderns hergeleitet. Im übertragenen Sinne steht radebrechen für quälen, 
      misshandeln. Seit dem 17. Jahrhundert steht radebrechen für das Quälen einer 
      Sprache.
        Wiki

      Obwohl mit dem unregelmäßig gebeugten Verb "brechen" verwandt, hat radebrechen 

      als feste Fügung einen anderen Konjugationsweg eingeschlagen. 
        Bastian Sick - Zwiebelfisch

        -----------------------------------------------------------------------

DER BÖSE REIM

Da sitzt er, der braune Dichterheld,
und tut sich den Kopf zerbrechen:
man hat ihm ein Gedicht bestellt,
er sucht nach Reimen auf „Tschechen“.
Doch wie er auch sucht und schiebt und zieht,
es bleibt beim Radebrechen.
Man will ein Sieges- und Friedenslied –
doch er findet nur immer „Verbrechen“!
Er findet „erfrechen“ und „sprechen“ dann,
doch wen kann er damit „bestechen“?
Was fängt er gar mit „Versprechen“ an,
wenn die Herren die Versprechen – brechen!
Das gibt keinen Sieges- und Friedenssang,
zu groß sind die eigenen Gebrechen!
Es langt nur zu einem Landsknechtssang,
mit „zechen“, „stechen“ und – „blechen“!
Mit „ä“ versucht ers – doch wieder umsonst,
Was macht er mit „Tränenbächen“?
Hier scheitert des Reimeschmieds ganze Konst,
Es klingt nach „Schwächen“ und „schwächen“.
Es hilft nichts! Die Reime verheißen den Tag,
an dem die Tschechen, die „frechen“,
zu Paaren treiben das braune Pack,
und seis auch mit Sensen und Rechen!
Die deutsche Sprache kündet es an:
Das tapfere Volk der Tschechen
wird die Schmach, die jetzt ihm angetan,
rächen, rächen, rächen!

      Alfred Kurella
      geboren 1895, Kommunist, Mitglied des ZK, Vizepräsident der Akademie der Künste 
      der DDR, veröffentlichte dieses Gedicht am 2. April 1939 in der „Deutschen 
      Volkszeitung Paris.
        Die Zeit
 

      http://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%A4dern
      
      Oder wie wäre es mit:

    KAUDERWELSCHEN

      ich kauderwelsche
      du kauderwelschst
      er, sie, es kauderwelscht
      wir kauderwelschen
      ihr kauderwelscht
      sie kauderwelschen
      Partizip 2: gekauderwelscht

      Seit dem 15. Jahrhundert ist das Wort bekannt, seine Etymologie ist allerdings 
      unklar.

      Welsch
      ist eine alte deutsche Bezeichnung für die romanischen Sprachen und ihre Sprecher, 
      die sich in geographischen Bezeichnungen wie Welschschweiz, Wallonien, Walachei
      oder Wales findet.
       Wiki

      Kauder
      stammt eventuell von kaudern „Zwischenhandel treiben, makeln“, so dass 
      ursprünglich das „Welsch“ italienischer Händler und Geldwechsler oder allgemeiner 
      die Geheimsprache (Rotwelsch) fahrender Händler und Hausierer gemeint wäre.
       Kluge

      Es könnte aber auch vom lautmalerischen kaudern (dazu: die Kodderschnauze) mit 
      den Bedeutungen „wie ein Truthahn kollern“ und „plappern, unverständlich 
      sprechen“ stammen.
       Grimms Wörterbuch

      Luther bezog das Wort auf die Rätoromanen (der Chauderwelschen oder Churwallen 

      kahle Glossen), so dass es ursprünglich die „welsche Sprache der Einwohner von Chur 
      in Graubünden, Churwelsch, Churer-Welsch“ bedeutet und dann die allgemeine 
      Bedeutung „unverständliche Sprache“ angenommen hätte. 

      Es besteht der Zusammenhang zu Chur darin, dass der Ortsname im Tirolerischem 
      Kauer heisst und demzufolge das Wort eigentlich Churromanisch bedeuten würde.
      Der erste Teil des Wortes gehe zurück auf Frühneuhochdeutsch kūder ‚Werg‘. 
      Zunächst soll der Kauderwelsch dann die abwertende Bezeichnung für den 
      italienischen Flachs- und Werghändler gewesen sein.
       Duden Herkunftswörterbuch

      Und dann wäre da noch:
 
    Verballhornen 

      ich verballhorne
      du verballhornst
      er, sie, es verballhornt
      wir verballhornen
      ihr verballhornt
      sie verballhornen
      Partizip 2: verballhornt

      Im Gegensatz zur üblichen Verwendung der beiden obigen Wörtern, muß derjenige
      der eine Sprache verballhornt,  ihrer außerordentlich gut mächtig sein. Aber in
      seinem Ursprung stammt es auch von fehlerhaftem Gebrauch, von hier allerdings
      gedruckter Sprache, her.

      Nach älteren Ausdrücken wie balhornisieren entstand im 19. Jh. verballhornen
      Die Wörter sind vom Namen des Lübecker Buchdruckers Johann Balhorn dem 
      Jüngeren (†1603) abgeleitet, bei dem eine hochdeutsche Übersetzung des Lübecker 
      Stadtrechts erschien, die sinnentstellende Fehler enthielt. 
       Wiktionary

      Siehe auch:

    Verhohnepiepeln

      Das Wort geht allem Anschein nach auf älteres hohlhippeln, hohnippeln zurück, das  
      ungefähr "lästern" bedeutet. Hohlhippen sind "Hohlwaffeln, zusammengerollte 
      Waffeln". Man vermutet, daß die Hohlhippler oder Hohlhipper Verkäufer von  
      Hohlhippen waren, zwischen denen und ihren Kunden ein Verhältnis des Schmähens 
      bestand. Das Wort bedeutet aber in den Belegen nur "Lästerer", so daß weitere 
      Aufklärung not täte.
        Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache 

 

Dienstag, 3. Juni 2014

Die große Schönheit - La Grande Bellezza


Für achteinhalb Stunden über dem Atlantik in einem dicht gefüllten, schlecht belüfteteten Großraumflugzeug der Lufthansa auf dem Weg von Frankfurt nach Toronto, regelmäßig mit nahezu uneßbaren Lebensmitteln bombardiert, an das geplante Lesen ist nicht zu denken, also werden Filme geguckt. 
12 Jahre als Sklave ein Film mit Oscars für den Besten Film, die Beste Nebendarstellerin & das Beste adaptierte Drehbuch ist erwartungsgemäß hochemotional, empört und rechtschaffen, aber nur in wenigen Momenten läßt er so etwas wie Schrecken zu, über große Strecken fühlen, leiden und weinen die Figuren schon so heftig und ungefiltert, dass für mich, als Zuschauer, wenig zu tun bleibt. Es gibt keine Entscheidungen zu treffen, ich werde geleitet mit strenger Hand. Allerdings ist Michael Fassbender schon ziemlich großartig.

Dann Her von Spike Jonze, ein Ein-Mann & eine-Frauenstimme-Film, eine Liebesgeschichte zwischen Joaquín Phoenix, einem einsamen Mann, der professionell Briefe für andere einsame Menschen schreibt, und der Stimme von Scarlett Johansson. Ja. ja, die digitale Welt und ihre Verführungen. Ja, ja Einsamkeit.

Aber dann: La Grande Bellezza von Paolo Sorrentino!!! Ein Augenschmauß, eine Herzensfreude und das Gehirn durfte sich auch vergnügen. Ein römischer Lebemann feiert seinen 65. Geburtstag und stellt fest, dass er altert. Bemerkt es, betrauert es und akzeptiert es. Das Tempo ist langsam, aber nicht gemächlich, die Dialoge mitfühlend erbarmungslos, immer wieder rutschen surreale Begleitbilder in die stringente Handlung und man hört geradezu, wie
Fellini leise im Hintergrund kichert. Der Rücken mag schon etwas steif sein, die Knie nicht mehr schmerzfrei, aber eine tiefe Verneigung vor 8 1/2, Marcello und der labilen, morbiden Schönheit der ewigen Stadt Rom ist immer noch drin!


Toni Sevillo in der Hauptrolle gestattet sich nur das Minimum an Selbstmitleid und erlaubt mir so, für ihn zu weinen und gleichzeitig über die Unabwendbarkeit des Zerfalls zu grinsen. "Man zerkrümelt", wie mein Onkel zu sagen pflegte. Oder, wie es Jep Gambardella, die Hauptfigur eleganter formuliert: "Das Wichtigste, was ich einige Tage nachdem ich 65 wurde, entdeckt habe, ist, dass ich keine Zeit mehr an Dinge verschwenden kann, dich ich nicht tun möchte."

Toni Sevillo hat in der Regie Matteo Garrone auch in der Romanverfilmung Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra mitgewirkt, ebenfalls sehr zu empfehlen.



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Sonntag, 1. Juni 2014

Ein bitteres Herz - Stephen Crane



In der Wüste

In der Wüste
Sah ich eine Kreatur, nackt, brutal,
Die, auf dem Boden hockend,
Ihr Herz in den Händen hielt,
Und davon aß.
Ich sagte: "Ist es gut, Freund?"
"Es ist bitter - bitter," antwortete sie;

"Aber ich mag es
"Weil es bitter ist
"Und, weil, es ist mein Herz."


In the Desert

In the desert
I saw a creature, naked, bestial,
Who, squatting upon the ground,
Held his heart in his hands,
And ate of it.
I said, “Is it good, friend?”
“It is bitter - bitter,” he answered;

“But I like it
"Because it is bitter,
"And because it is my heart.”

Stephen Crane
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Sankt Sebastian - Pfeil und Keule



Eine herrliche Bereitschaft zum Tod


ANDREA MANTEGNA

DER HEILIGE SEBASTIAN
1480


 Der Heilige Sebastian: Schutzpatron der Soldaten, Kriegsinvaliden, Sterbenden, Eisenhändler (sic Castorf!), Töpfer, Gärtner, Bürstenbinder, Büchsenmacher, Homosexuellen und Schutzheiliger gegen Pest und Kirchenfeinde, wenn das keine bunte Mischung ist!
Offizier der Prätorianer Garde des römischen Kaisers Diokletian, wurde er von diesem auf Grund seiner christlichen Missions- und Hilfsarbeit zum Tode verurteilt, auf ein Feld geführt, an einen Baum gebunden und von numidischen Bogenschützen mit Pfeilen beschossen. "Und die Bogenschützen schoßen auf ihn, bis er so voll Pfeilen war wie ein Seeigel" sagt die Legenda aurea.
Eine mitfühlende Witwe namens Irene will den Armen begraben, bemerkt gerade noch rechtzeitig, dass er noch lebt und pflegt ihn zurück ins Leben. Er gesundet und tut was? Je nach Quellenlage, geht er schnurstracks zum Kaiser oder wartet auf einer Treppe bis dieser vorbeikommt, und bekennt sich erneut zum Christentum. Diokletian reagiert erwartungsgemäß, verurteilt ihn erneut zum Tode, nur soll er dieses Mal mit Knüppeln tot geprügelt und sein Leichnam dann in die städtische Kloake geschmissen werden. Von diesem zweiten Märtyrertod gibt es, verständlicherweise, nur sehr wenige Bilder.

Susan Sontag hat sehr schön beschrieben, wie in den Gemälden Sebastians Gesicht nie die Leiden seines Körpers registriert. Seine Schönheit und sein Schmerz sind in Ewigkeit voneinander geschieden.

Ein Mann mittleren Alters, untersetzt und mit der kräftigen Statur eines ausgebildeten Soldaten, hier an eine Säule gebunden an Stelle des vorgeschriebenen Baumes. Anstatt schmerzverzerrtem Leiden, sehen wir etwas wie irritierte strapazierte Geduld.
Kein schönes Bild, finde ich. Bis man auf die Details schaut.
(Das Bild ist heute im Louvre zu finden.)
 "Was habe ich gerade getan?" scheinen die Augen zu sagen, oder?
Sein Kollege hat da kein Problem.

SANKT SEBASTIAN

Wie ein Liegender so steht er; ganz
hingehalten von dem großen Willen.
Weitentrückt wie Mütter, wenn sie stillen,
und in sich gebunden wie ein Kranz.

Und die Pfeile kommen: jetzt und jetzt
und als sprängen sie aus seinen Lenden,
eisern bebend mit den freien Enden.
Doch er lächelt dunkel, unverletzt.

Einmal nur wird seine Trauer groß,
und die Augen liegen schmerzlich bloß,
bis sie etwas leugnen, wie Geringes,
und als ließen sie verächtlich los
die Vernichter eines schönen Dinges.

Rainer Maria Rilke 1907
Der Heilige Sebastian wird in Roms Cloaca Maxima geworfen
Lodovico Carracci 1612
heute im J. Paul Getty Museum


Für mich, der schönste der Sebastiane. Und er weiß es!
Sandro Botticelli
1447 

Rom, der Neujahrsabend im Jahre des Herrn 1499.
Auf einer der kleinen Piazzas überschattet von einer Kathedrale wird den Bewohnern der umliegenden Palazzos, noch halb im Schlaf, die Show ihres Lebens geboten, Michelangelo, Leonardo und Botticcelli prügeln sich. Faustschläge werden ausgeteilt und eingesteckt, Fußtritte verteilt und, natürlich, bedenkend, dass alle Beteiligten Italiener sind, wird viel geflucht und geschrien.
Leonardo mag zwar der Älteste sein, ist aber immer noch ein nicht zu unterschätzender Gegner, Michelangelo hat eine wirklich fiese Rechte, aber letzten Endes ist Botticelli der Kämpfer mit der größten Ausdauer. Verdreckt, angeschlagen und außer Atem anerkennen die anderen beiden seinen Sieg. Die schläfrigen Gaffer jubeln kurz und und gehen wieder zu Bett. Am Morgen werden sie eine tolle Geschichte erzählen können!
Der Stein des Anstoßes? Ein junger Mann, still, mit dunklen Augen, folgt dem Gewinner langsam in sein Atelier. Es ist ein Job wie jeder andere. Er muß essen. Botticelli bezahlt seine Modelle gut.
Der Siegerpreis, gefangen auf einer Leinwand, Sankt Sebastian, unwirklich schöner Märtyrer, blutend aus vielen Wunden, arrogant noch im Sterben und gänzlich einsam, wird Botticelli bis zum Tag seines Todes verfolgen. Er hat ihn gewonnen, er hat ihn gemalt, behalten konnte er ihn nicht.

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Der Titel ist zitiert nach:
Saint Sebastian: Or a Splendid Readiness for Death
Gerald Matt, Wolfgang Fetz, Kunsthalle Wien
Kerber, 2003 - 143 Seiten

Freitag, 30. Mai 2014

Robert Capa - Omaha Beach - Beinahe umsonst


   Wenn Deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug.
   If your pictures aren't good enough, you aren't close enough.
   Robert Capa

   Am 6.6.1944 nimmt Robert Capa im Gefolge des 16. Regiments der 1. 
   Infanterie Division, als Photograph für das renommierte LIFE- Magazin, an 
   der Invasion der Alliierten in der Normandie teil. Er photographiert die 
   Landung am Omaha Beach aus nächster Nähe, wird nicht getötet, drei 
   Filmrollen mit 106 Bildern erreichen das Londoner Büro von LIFE. Die unter 
   Zeit- und Erwartungsdruck stehende Photoassisstentin legt die Filme in der 
   Dunkelkammer in den Trockner und will den Prozess durch erhöhte 
   Temperatur beschleunigen - die Druckerpresse wartet - und 96 oder 97 der 
   Photographien verschmirgeln, nur 10 oder 11 Aufnahmen, je nach Quelle, 
   überleben den Hitzeschock.
   Büchners Verlobte hat sein letztes Stück verbrannt, es war ihr zu 
   unanständig. Mit der Bibliothek von Alexandria verbrannten unzählige 
   möglicherweise großartige Werke der Weltliteratur. Und hier hat eine eifrige 
   junge Frau fast einhundert unter Lebensgefahr geschossene (welch verbale 
   Ironie!) Zeitzeugnisse verkocht. Die Arme! Welch eine Blamage. Wir wissen 
   nicht einmal ihren Namen, gut so.
   Die Bilder sind unscharf, eilig, hastig.  
   Am Omaha Beach in der Normandie landeten um die 34 000 Soldaten, 2400 
   davon starben dort, weshalb der Strand den Namen "Blutiger Strand" bekam, 



Men of the 16th Infantry Regiment seek shelter from German machine-gun fire 
in shallow waterbehind "Czech hedgehog" beach obstacles, Easy Red sector, Omaha Beach.
© Robert Capa/Magnum Photos.

© Robert Capa/Magnum Photos.

© Robert Capa/Magnum Photos.

Donnerstag, 29. Mai 2014

Der Tag an dem mein Gehirn gelöscht wurde


Vor einer Woche begann mein Computer, ein launisches Eigenleben zu führen. Er wollte dies und das nicht tun oder wenigstens auf andere Art, als ich es erwartete. Schon eine ganze Weile hatte ich den Eindruck, dass er seine vielfältigen täglichen Aufgaben zunehmend widerwilliger und schleppender verrichtete. Aber nun ging er in den aktiven und passiven Widerstand. Meine internen und auch die lauten Gespräche mit ihm wurden zunehmend dringlicher und zugleich unterwürfiger. " Bitte, bitte, gehorche mir doch!" Unsere übliche klare Meister- Diener Beziehung bekam Risse und ein Abgrund, mein Abgrund voll Hilflosigkeit öffnete sich. APPLE, unser gemeinsamer Guru wurde angerufen. Von mir. Der Computer war wohl ganz zufrieden mit seiner neu gewonnen Freiheit. Verschiedene Berater auf steigenden Sprossen der Apple-Reparaturhierachie redeten mir und ihm gut zu, gaben Ratschläge, griffen, mit meiner Einwilligung, der Computer ließ es über sich ergehen, in das Innenleben der unwilligen Maschine ein. Ihre Anweisungen wurden zunehmend kryptischer, mein Schweißfaktor höher. Viele Stunden vergingen unter Aufsicht und mit Hilfe reizender Menschen aus dem geheimnisvollen Apple-Center am anderen Ende meiner Telephonleitung. Einer war aus Rumänien, wo ich auch Verwandte habe, einer hatte genauso viel oder wenig Ahnung wie ich. Von Anruf zu Anruf wiederholte ich die Litanei der Beschwerden meines Computers, schleppte den unbeteiligten Patienten von Arzt zu Arzt. Alle waren sich sicher, dass Hoffnung bestünde, deuteten Versäumnisse ihrer Vorgänger an und versicherten, dass ihre Behandlung sicher besser anschlagen würde, als die ihrer Kollegen. Nichtsdestotrotz verschlechterte sich der Zustand des Behandelten zusehends. Dann gestern Abend, ein ganz zauberhafter Mann, Ingeneur und Psychologe ging mit mir in den End-Überlebenskampf - Back-Up machen - ALLES löschen - neu laden - - - und nix ging mehr, gar nix. Mr. C., so werde ich ihn von jetzt an nennen, sagte ja, dann ok. in 7 Stunden, in 58 Stunden oder in einer Sekunde und verabschiedete sich schließlich ohne Abschiedsgruß aus meinen Diensten.  Der Herr aus dem Apple-Hilfe-Zentrum hatte Dienstschluß, versprach Hilfe am nächsten Mittag. Ich war allein mit meinem komatösen Silberkasten.
Meine Termine, meine Arbeitsunterlagen, meine Archive, meine Freizeitunterhaltungen, dieser Blog und und und - kurz der Großteil meines Gehirns waren in den Erinnerungen eines Nicht-Mehr-Ansprechbaren gefangen. Desolation! 



Heute morgen zu Gravis, jetzt läuft er wieder, allerdins ohne Trackpad (Maus), unter Verlust einiger wichtiger Fakten und nachdem ich und Helfer, denen ich gar nicht genug danken kann, etwa zwanzig Stunden auf Wiederbelebungsversuche verwendet haben. Ich bin erschöpft. Meine Helfer sind es auch. Wie sich Mr. C fühlt weiß ich nicht. 
Und erzählt mir jetzt bitte nichts über die Entfremdung des Menschen von der realen Welt durch wachsende Abhängigkeit von der digitalen. Ich liebe meine reale Welt und kann gut zwischen beiden unterscheiden. Aber Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, und ohne Mr. C. bin ich verflixt weniger effizient, Teile meiner realen Welt leben sehr weit weg und der Kontakt mit ihnen wird durch Mr. C. stark vereinfacht, facebook bedient meine Bedürfnisse nach realem Tratsch und Klatsch, und vor allem kann ich die Arbeit, die ich liebe digital schneller und leichter verrichten, damit ich mehr Zeit für den realen Teil meines Lebens habe.
Mr. C. ich brauche sie und hoffe auf ihre baldige völlige Gesundung!