Sonntag, 1. Juni 2014

Sankt Sebastian - Pfeil und Keule



Eine herrliche Bereitschaft zum Tod


ANDREA MANTEGNA

DER HEILIGE SEBASTIAN
1480


 Der Heilige Sebastian: Schutzpatron der Soldaten, Kriegsinvaliden, Sterbenden, Eisenhändler (sic Castorf!), Töpfer, Gärtner, Bürstenbinder, Büchsenmacher, Homosexuellen und Schutzheiliger gegen Pest und Kirchenfeinde, wenn das keine bunte Mischung ist!
Offizier der Prätorianer Garde des römischen Kaisers Diokletian, wurde er von diesem auf Grund seiner christlichen Missions- und Hilfsarbeit zum Tode verurteilt, auf ein Feld geführt, an einen Baum gebunden und von numidischen Bogenschützen mit Pfeilen beschossen. "Und die Bogenschützen schoßen auf ihn, bis er so voll Pfeilen war wie ein Seeigel" sagt die Legenda aurea.
Eine mitfühlende Witwe namens Irene will den Armen begraben, bemerkt gerade noch rechtzeitig, dass er noch lebt und pflegt ihn zurück ins Leben. Er gesundet und tut was? Je nach Quellenlage, geht er schnurstracks zum Kaiser oder wartet auf einer Treppe bis dieser vorbeikommt, und bekennt sich erneut zum Christentum. Diokletian reagiert erwartungsgemäß, verurteilt ihn erneut zum Tode, nur soll er dieses Mal mit Knüppeln tot geprügelt und sein Leichnam dann in die städtische Kloake geschmissen werden. Von diesem zweiten Märtyrertod gibt es, verständlicherweise, nur sehr wenige Bilder.

Susan Sontag hat sehr schön beschrieben, wie in den Gemälden Sebastians Gesicht nie die Leiden seines Körpers registriert. Seine Schönheit und sein Schmerz sind in Ewigkeit voneinander geschieden.

Ein Mann mittleren Alters, untersetzt und mit der kräftigen Statur eines ausgebildeten Soldaten, hier an eine Säule gebunden an Stelle des vorgeschriebenen Baumes. Anstatt schmerzverzerrtem Leiden, sehen wir etwas wie irritierte strapazierte Geduld.
Kein schönes Bild, finde ich. Bis man auf die Details schaut.
(Das Bild ist heute im Louvre zu finden.)
 "Was habe ich gerade getan?" scheinen die Augen zu sagen, oder?
Sein Kollege hat da kein Problem.

SANKT SEBASTIAN

Wie ein Liegender so steht er; ganz
hingehalten von dem großen Willen.
Weitentrückt wie Mütter, wenn sie stillen,
und in sich gebunden wie ein Kranz.

Und die Pfeile kommen: jetzt und jetzt
und als sprängen sie aus seinen Lenden,
eisern bebend mit den freien Enden.
Doch er lächelt dunkel, unverletzt.

Einmal nur wird seine Trauer groß,
und die Augen liegen schmerzlich bloß,
bis sie etwas leugnen, wie Geringes,
und als ließen sie verächtlich los
die Vernichter eines schönen Dinges.

Rainer Maria Rilke 1907
Der Heilige Sebastian wird in Roms Cloaca Maxima geworfen
Lodovico Carracci 1612
heute im J. Paul Getty Museum


Für mich, der schönste der Sebastiane. Und er weiß es!
Sandro Botticelli
1447 

Rom, der Neujahrsabend im Jahre des Herrn 1499.
Auf einer der kleinen Piazzas überschattet von einer Kathedrale wird den Bewohnern der umliegenden Palazzos, noch halb im Schlaf, die Show ihres Lebens geboten, Michelangelo, Leonardo und Botticcelli prügeln sich. Faustschläge werden ausgeteilt und eingesteckt, Fußtritte verteilt und, natürlich, bedenkend, dass alle Beteiligten Italiener sind, wird viel geflucht und geschrien.
Leonardo mag zwar der Älteste sein, ist aber immer noch ein nicht zu unterschätzender Gegner, Michelangelo hat eine wirklich fiese Rechte, aber letzten Endes ist Botticelli der Kämpfer mit der größten Ausdauer. Verdreckt, angeschlagen und außer Atem anerkennen die anderen beiden seinen Sieg. Die schläfrigen Gaffer jubeln kurz und und gehen wieder zu Bett. Am Morgen werden sie eine tolle Geschichte erzählen können!
Der Stein des Anstoßes? Ein junger Mann, still, mit dunklen Augen, folgt dem Gewinner langsam in sein Atelier. Es ist ein Job wie jeder andere. Er muß essen. Botticelli bezahlt seine Modelle gut.
Der Siegerpreis, gefangen auf einer Leinwand, Sankt Sebastian, unwirklich schöner Märtyrer, blutend aus vielen Wunden, arrogant noch im Sterben und gänzlich einsam, wird Botticelli bis zum Tag seines Todes verfolgen. Er hat ihn gewonnen, er hat ihn gemalt, behalten konnte er ihn nicht.

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Der Titel ist zitiert nach:
Saint Sebastian: Or a Splendid Readiness for Death
Gerald Matt, Wolfgang Fetz, Kunsthalle Wien
Kerber, 2003 - 143 Seiten

Freitag, 30. Mai 2014

Robert Capa - Omaha Beach - Beinahe umsonst


   Wenn Deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug.
   If your pictures aren't good enough, you aren't close enough.
   Robert Capa

   Am 6.6.1944 nimmt Robert Capa im Gefolge des 16. Regiments der 1. 
   Infanterie Division, als Photograph für das renommierte LIFE- Magazin, an 
   der Invasion der Alliierten in der Normandie teil. Er photographiert die 
   Landung am Omaha Beach aus nächster Nähe, wird nicht getötet, drei 
   Filmrollen mit 106 Bildern erreichen das Londoner Büro von LIFE. Die unter 
   Zeit- und Erwartungsdruck stehende Photoassisstentin legt die Filme in der 
   Dunkelkammer in den Trockner und will den Prozess durch erhöhte 
   Temperatur beschleunigen - die Druckerpresse wartet - und 96 oder 97 der 
   Photographien verschmirgeln, nur 10 oder 11 Aufnahmen, je nach Quelle, 
   überleben den Hitzeschock.
   Büchners Verlobte hat sein letztes Stück verbrannt, es war ihr zu 
   unanständig. Mit der Bibliothek von Alexandria verbrannten unzählige 
   möglicherweise großartige Werke der Weltliteratur. Und hier hat eine eifrige 
   junge Frau fast einhundert unter Lebensgefahr geschossene (welch verbale 
   Ironie!) Zeitzeugnisse verkocht. Die Arme! Welch eine Blamage. Wir wissen 
   nicht einmal ihren Namen, gut so.
   Die Bilder sind unscharf, eilig, hastig.  
   Am Omaha Beach in der Normandie landeten um die 34 000 Soldaten, 2400 
   davon starben dort, weshalb der Strand den Namen "Blutiger Strand" bekam, 



Men of the 16th Infantry Regiment seek shelter from German machine-gun fire 
in shallow waterbehind "Czech hedgehog" beach obstacles, Easy Red sector, Omaha Beach.
© Robert Capa/Magnum Photos.

© Robert Capa/Magnum Photos.

© Robert Capa/Magnum Photos.

Donnerstag, 29. Mai 2014

Der Tag an dem mein Gehirn gelöscht wurde


Vor einer Woche begann mein Computer, ein launisches Eigenleben zu führen. Er wollte dies und das nicht tun oder wenigstens auf andere Art, als ich es erwartete. Schon eine ganze Weile hatte ich den Eindruck, dass er seine vielfältigen täglichen Aufgaben zunehmend widerwilliger und schleppender verrichtete. Aber nun ging er in den aktiven und passiven Widerstand. Meine internen und auch die lauten Gespräche mit ihm wurden zunehmend dringlicher und zugleich unterwürfiger. " Bitte, bitte, gehorche mir doch!" Unsere übliche klare Meister- Diener Beziehung bekam Risse und ein Abgrund, mein Abgrund voll Hilflosigkeit öffnete sich. APPLE, unser gemeinsamer Guru wurde angerufen. Von mir. Der Computer war wohl ganz zufrieden mit seiner neu gewonnen Freiheit. Verschiedene Berater auf steigenden Sprossen der Apple-Reparaturhierachie redeten mir und ihm gut zu, gaben Ratschläge, griffen, mit meiner Einwilligung, der Computer ließ es über sich ergehen, in das Innenleben der unwilligen Maschine ein. Ihre Anweisungen wurden zunehmend kryptischer, mein Schweißfaktor höher. Viele Stunden vergingen unter Aufsicht und mit Hilfe reizender Menschen aus dem geheimnisvollen Apple-Center am anderen Ende meiner Telephonleitung. Einer war aus Rumänien, wo ich auch Verwandte habe, einer hatte genauso viel oder wenig Ahnung wie ich. Von Anruf zu Anruf wiederholte ich die Litanei der Beschwerden meines Computers, schleppte den unbeteiligten Patienten von Arzt zu Arzt. Alle waren sich sicher, dass Hoffnung bestünde, deuteten Versäumnisse ihrer Vorgänger an und versicherten, dass ihre Behandlung sicher besser anschlagen würde, als die ihrer Kollegen. Nichtsdestotrotz verschlechterte sich der Zustand des Behandelten zusehends. Dann gestern Abend, ein ganz zauberhafter Mann, Ingeneur und Psychologe ging mit mir in den End-Überlebenskampf - Back-Up machen - ALLES löschen - neu laden - - - und nix ging mehr, gar nix. Mr. C., so werde ich ihn von jetzt an nennen, sagte ja, dann ok. in 7 Stunden, in 58 Stunden oder in einer Sekunde und verabschiedete sich schließlich ohne Abschiedsgruß aus meinen Diensten.  Der Herr aus dem Apple-Hilfe-Zentrum hatte Dienstschluß, versprach Hilfe am nächsten Mittag. Ich war allein mit meinem komatösen Silberkasten.
Meine Termine, meine Arbeitsunterlagen, meine Archive, meine Freizeitunterhaltungen, dieser Blog und und und - kurz der Großteil meines Gehirns waren in den Erinnerungen eines Nicht-Mehr-Ansprechbaren gefangen. Desolation! 



Heute morgen zu Gravis, jetzt läuft er wieder, allerdins ohne Trackpad (Maus), unter Verlust einiger wichtiger Fakten und nachdem ich und Helfer, denen ich gar nicht genug danken kann, etwa zwanzig Stunden auf Wiederbelebungsversuche verwendet haben. Ich bin erschöpft. Meine Helfer sind es auch. Wie sich Mr. C fühlt weiß ich nicht. 
Und erzählt mir jetzt bitte nichts über die Entfremdung des Menschen von der realen Welt durch wachsende Abhängigkeit von der digitalen. Ich liebe meine reale Welt und kann gut zwischen beiden unterscheiden. Aber Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, und ohne Mr. C. bin ich verflixt weniger effizient, Teile meiner realen Welt leben sehr weit weg und der Kontakt mit ihnen wird durch Mr. C. stark vereinfacht, facebook bedient meine Bedürfnisse nach realem Tratsch und Klatsch, und vor allem kann ich die Arbeit, die ich liebe digital schneller und leichter verrichten, damit ich mehr Zeit für den realen Teil meines Lebens habe.
Mr. C. ich brauche sie und hoffe auf ihre baldige völlige Gesundung!

Samstag, 24. Mai 2014

Verfluchter reaktionärer Dreck!


Bitte lesen! Das ist ein erschreckender, wütendmachender Artikel über Entwicklungen im ungarischen staatlichen Theaterbetrieb.


http://pusztaranger.wordpress.com/2014/05/23/sakrales-theater-gegen-die-internationale-schwulenlobby/

Müßiggang ist eine Kunst.


"Man schläft, man schläft, und hat nicht mal Zeit, sich zu erholen"
Oblomow

Dem Müßigggang zu frönen, ist eine Kunst.
Das Verb ist mit Fron verwandt und setzt althochdeutsch fronen, mittelhochdeutsch vronen „dienen“ fort. Wiki
Meine Großmutter, widerspenstige Witwe, Schauspielerin, Mutter, Oma und Intendantin hatte die Fähigkeit am Samstag Nachmittag die Probe verlassen, ihre Enkelin, also mich, einzusacken, nach Buckow in der Märkischen Schweiz zu fahren und sich während dieser etwa einstündigen Fahrt in einen gemähchlichen Hippie, der sich innigst fürs Pilzesammeln, Schwimmen und Mehlspeisen-Zubereiten interessierte zu verwandeln. Sie genoss, wenn wir geniessen als absichtsvolle, aber nicht angestrengte Tätigkeit definieren. Diese Fähigkeit hat sie mir vererbt und ich kann ihr gar nicht genug danken für dieses Erbe.
Ich liebe es müßig zu gehen. Im eineindeutigen Sinne des Wortes durch Städte zu wandern, ohne Plan und Bildungsbedürfnis. Und im eigentlichen Sinn, ohne Absicht und Erwartung von Nutzen, zu SEIN.
Man gebe mir zwei Tage ohne Pflicht und ich werde sie nutzlos, gänzlich unnütz nutzen, Himmel anstarren, Filme zum Vergnügen schauen, mit Kindern Faxen machen, Gedichte übersetzen, die fast niemand lesen wird, über den Sinn des Wortes Müßiggang kontemplieren, was übrigens ein veraltetes Wort für das gewöhnliche Nachdenken ist. Nachdenken, über etwas das vergangen ist nach - denken. Mein Luxus, unnütz, entspannend, manchmal sehr schön. 
Und vielleicht kann ich nur deshalb so viel arbeiten, weil ich so grundtief müßig gehen kann. Ich diene der Muße, um der Pflicht gerecht zu werden.
Oder ich tue gern NICHTS.

Ich werde immer einen faulen Menschen wählen, um eine schwierige
Aufgabe zu lösen, weil er eine unanstrengende Art finden wird, sie zu lösen.
Bill Gates


"Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: Der Hang zur Freude nennt sich bereits Bedürfniss der Erholung und fängt an, sich vor sich selber zu schämen. Man ist es seiner Gesundheit schuldig — so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heisst zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe." 
Friedrich Nietzsche

Müßiggang oder das aktive Nichtstun

von Siegfried Lenz
http://www.zeit.de/1962/13/muessiggang-oder-das-aktive-nichtstun 

Muße ist ursprünglich die Substantivierung des Verbs müssen, und zwar im Sinne von „sich etwas zugemessen haben, Zeit, Raum, Gelegenheit haben, um etwas tun zu können“. Muße bedeutet dementsprechend ursprünglich nichts anderes als „Gelegenheit oder Möglichkeit, etwas zu tun“. Beide Wörter stammen ab von althochdeutsch muozan → goh. Hiervon, über das Adjektiv müßig, abgeleitet bezeichnet Müßiggang eine dauerhafte Untätigkeit. 
Wiki  

 

Freitag, 23. Mai 2014

Zwischen zwei Produktionen - Eine kleine Luxus-Jammerei


   
   LOBET DAS FAULSEIN, DENN ES IST UNDEUTSCH UND RETTET
   DIE SEELE

   Premiere, Premierenfeier, Glück oder Unglück, je nachdem, Heimfahrt,
   manchmal sieben Stunden, manchmal drei, Ankommen, Auspacken, 
   Wäsche waschen, Postberge abtragen, privates Leben leben.

   Aber, wenn, wie dieses Mal, die nächste Arbeit so sehr bald beginnt,
   überlagern sich Entspannung und Neuanspannung, Privatestes und
   gewohnter Arbeitsstress zu einer Kakophonie von Eindrücken und Kon-
   trasten. Hui! Und wenn dann noch der Computer spinnt, wie jetzt gerade
   meiner, der sich weigert meine Kalender zu synchronisieren, bockig
   langsamer wird und in unverschämter Weise Geduld verlangt, dann ...

   Und natürlich kommen gerade jetzt die tollsten Leute zu Besuch von
   überall in der Welt, und die lang vermissten Freunde sind noch lieber als
   sie sowieso immer sind, und Überraschungen gibt es auch, und das Berliner 
   Wetter zeigt sich von seiner verführerischsten  Seite und Faulsein wäre 
   herrlich, ist aber verboten.
   
   Wisst ihr, was ich im August tun werde? Gar nichts. Verblöden. Ver-
   sumpfen. So faul sein, dass ich mich in ein dickes, langsames, träges,
   grunzendes Ding verwandelne, dass genüsslich in die Gegend starrt,
   alle Welt lieb hat und auch ganz  ohne Intelligenzquotienten auskommt. 
   Judith und Lissabon, macht euch auf Johanna das Erholungsmonster gefasst!

  

© Frederico Machuca

   Shakespeare, Julius Cäsar:  
   Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein, 
   mit glatten Köpfen, die nachts gut schlafen.

VORLESUNG

um ein gedicht zu machen
habe ich nichts
eine ganze sprache
ein ganzes leben
ein ganzes denken
ein ganzes erinnern
um ein gedicht zu machen
habe ich nichts
Und nun erst – eine Vorlesung! Nein – fünf!
Um eine Vorlesung zu halten
habe ich nichts
eine ganze Sprache – mir fehlen die Worte
ein ganzes Leben – zu viele Versäumnisse
ein ganzes Denken – nur noch Perseverationen
ein ganzes Erinnern – ausschließlich Lücken
um eine Vorlesung halten
habe ich alles
Vor allem ein Thema. Zu diesem kam es aus rein organisatorischen Gründen. 
 Es läßt sich indes aus sich selbst begründen. Vor allem als Zeichen des Fleißes, des Mangels an Faulsein. Ich rieche, rieche – Menschenfleiß!
ein falusein
ist nicht lesen kein buch
ist nicht lesen keine zeitung
ist überhaupt nicht kein lesen
ein faulsein
ist nicht lernen kein lesen und schreiben
ist nicht lernen kein rechnen
ist überhaupt nicht kein lernen
ein faulsein
ist nicht rühren keinen finger
ist nicht tun keinen handgriff
ist überhaupt nicht kein arbeiten
ein faulsein solang mund geht auf und zu
solang luft geht aus und ein
ist überhaupt nicht
Dies – unser Motto. Unser Thema: das Öffnen und Schließen des Mundes.

Ernst Jandl



Mittwoch, 21. Mai 2014

Schon wieder Shakespeare. Hamlet. Bin ich suchtgefährdet?


Ein Gewinner, der nicht kämpfen muß. Der absahnt. Im Lear gewinnt der zögerliche, feige, greinende Albany die Krone, im Hamlet kommt ein kriegslüsterner norwegischer Haudegen ins Land, genau in dem Moment, wo sich die gesamte dänische Herrschergruppe gerade selbst ausgelöscht hat.
Erster Satz: " Wo ist das Schauspiel?", letzter: "Geht, heißt die Soldaten schießen."
Irgendwo, ganz tief in unseren Mägen oder Seelen oder wo auch immer, das steckt, was wir Gewißheit nennen, haben wir alle diese durch nichts bewiesene Hoffnung auf den Sieg des Besseren über das Schlimme. Und  Shakespeare hatte sie sicher auch, aber die Realität kommt ihm dann dazwischen, und so gewinnt halt das Mittelmäßige oder gar das noch Schlimmere oder jemand, der bisher völlig nebensächlich schien. Es geht einfach weiter.


Zbigniew Herbert

Fortinbras' Klage


Für M.C. 

Allein geblieben prinz können wir jetzt von mann zu mann miteinander reden
wenn du auch auf der treppe liegst und soviel siehst wie die tote ameise
das heißt die schwarze sonne mit den gebrochenen strahlen
niemals konnt ich an deine hände denken ohne zu lächeln
und nun da sie auf dem stein wie abgeschüttelte nester liegen
sind sie genauso schutzlos wie vorher Das ist das Ende
Die hände liegen gesondert Der degen gesondert Gesondert
liegen kopf und beine des ritters in weichen pantoffeln
Du wirst ein soldatenbegräbnis haben wenn du auch kein soldat warst
das ist das einzige ritual auf das ich mich etwas verstehe
es wird keine kerzen geben und keinen gesang sondern lunten und donner
trauertuch über dem pflaster helme beschlagene stiefel
artilleriepferde trommelwirbel wirbel ich weiß schön ist das nicht
das wird mein manöver sein vor der machtübernahme
man muß diese stadt an der gurgel fassen und etwas schütteln
So oder so du mußtest fallen Hamlet du taugtest nicht für das leben
du glaubtest an die kristallbegriffe und nicht an den menschlichen lehm
du lebtest in ständigen krämpfen und jagtest träumend chimären
du schnapptest gierig nach luft und mußtest dich gleich erbrechen
kein menschliches ding gelang dir nicht einmal das atmen
Jetzt hast du ruhe Hamlet du tatest das deine
nun hast du ruhe der rest ist nicht schweigen doch mein
du wähltest den leichteren teil den effektvollen stich
was aber ist schon der heldentod gegen das ewige wachen
mit kaltem apfel im griff auf erhöhtem stuhl
mit blick auf den ameisenhaufen und auf die scheibe der uhr
Leb wohl mein prinz mich erwartet das kanalisationsprojekt
und der erlaß in sachen der dirnen und bettler
ich muß auch ein bessres gefängnissystem erfinden
denn wie du richtig meintest Dänemark ist ein gefängnis
Ich gehe zu meinen geschäften Heut nacht wird der stern
namens Hamlet geboren Wir kommen nie mehr zusammen
was von mir bleibt wird kein gegenstand einer tragödie
Wir sollten uns weder willkommen noch abschied sagen wir leben auf inselmeeren
und dieses wasser die worte was sollen was sollen sie prinz

Sonntag, 18. Mai 2014

Frauen lesen.


Ich lese, gern und viel und, wenn nicht berufsbedingt fokussiert, meist völlig ziellos. 
Wenn auf der Toilette nichts anderes zu finden ist, lese ich halt die Texte auf der Zahnpastatube. In der Bahn lese ich "Die Zeit", mindestens einmal pro Monat "Die Bildzeitung" von vorn bis hinten, Kriminalromane mit Serienmördern und ohne, Sachbücher aller Art, Theaterstücke, wenn ich muß, Gedichte immer, Fanartikel über meine jeweilige momentane Lieblingsserie, jetzt ist es gerade Game of Thrones, Romane in akuten Schüben, dann wochenlang überhaupt nicht, Science Fiction ohne Sternenkriege, die Vanity Fair US und alles, was mir in Arztpraxen, Hotelfoyers, Freundes-Regalen und zufällig ins Auge gefallenen Zeitungrezensionen unter die wirr wählenden Augen kommt. Große Teile der Weltliteratur fehlen völlig, aber dafür kenne ich nahezu alles von Dorothy Sayers, Shakespeare, Gott & seinen Co-Autoren und alle Bände Winnetou, Heidi, dem Herrn Der Ringe, der Foundation Trilogie, Grimms Märchen, Courts-Mahler (O Graus!), und unzählige Bücher, die kein Mensch braucht und die mir irgendwie passiert sind. Warum bin ich so unfähig, gezielt zu lesen? Es liest mit mir. Es hat auch nicht wirklich mit Bildungshunger zu tun. Wenn mich das Thema "Pest" packt, lese ich einfach alles, was mir dazu in die Hände fällt, von Camus & Defoe bis zu obskuren Internetartikeln über Ausgrabungen in Londoner Friedhöfen.
Binge Eating ist eine Essstörung, bei der es zu periodischen Fressanfällen mit Verlust der Kontrolle über das Essverhalten kommt. Könnte ich also an Binge Reading leiden? 
Es ist drei Uhr nachts, die Probe beginnt um Zehn, aber ohne ein paar Seiten Mord & Todschlag oder einem Gedicht oder was auch immer, kann ich nicht einschlafen, selbst wenn meine Augen sich schon kreuzen. 

"Lesesucht, die Sucht, d.h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen." Joachim Heinrich Campe

Lesen im engeren Sinn bedeutet, schriftlich niedergelegte, sprachlich formulierte Gedanken aufzunehmen und zu verstehen, schreibt Wiki. Und das lateinische legere = „sammeln“, „auswählen“, „lesen“ findet sich in den deutschen Fremd- und Lehnwörtern Lektüre, Lektor und Legende.

Hans-Werner Hunziker, (2006) Im Auge des Lesers: foveale und periphere Wahrnehmung - vom Buchstabieren zur Lesefreude, Transmedia, Stäubli Verlag Zürich 2006 ISBN 978-3-7266-0068-6 nach daten des Statistischen Bundesamtes, Zweigstelle Bonn, Zeitbudgeterhebung 2001/02.

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Lesendes Mädchen
Gustav Adolph Hennig 1828


Mädchen die "Post" lesend
Norman Rockwell 1941


Portrait Helen Gow
Alexander Mann 1853–1908


Frau in Grau 
Louis le Brocquy 1939

Samstag, 17. Mai 2014

Theater hat auch eine Premiere - König Lear


Könnt ihr euch noch erinnern, wie es war, als ihr euch in frühen oder späteren  Teenager-Jahren erträumt habt, wie es sein wird, das erste Mal Sex zu haben? 

Der erste Kuss. Zu feucht, zu trocken, zu kurz, zu fest, was macht der oder die denn um Gottes Willen mit seiner/ihrer Zunge, die Zähne fest zusammenbeissen oder nicht? Schmeckt fremde Spucke gut? Was mache ich falsch? Warum fühlt sich das so komisch an? Mein Gott ist das schön! Soll das alles gewesen sein?
Knutschen bis kurz davor oder weit darüber hinaus. Zeit gerinnt oder verflüssigt sich.
Die Panik, die Ungeduld, die Vorfreude, die Zweifel, die Unbedingtheit, die Lust.

So in etwa ist es mit Premieren. Wochenlanges Petting ohne zur letzten, ersehnten, gefürchteten, begehrten, alleinseligmachenden Vereinigung zu gelangen. 
Wiki nennt es: Petting, von englisch petting: to pet „zu liebkosen", bezeichnet sexuelle Handlungen zwischen Menschen, die jede Art von sexueller Stimulation ohne Vollzug des Geschlechtsverkehrs umfassen.
Wir tun es unter uns, ohne Kostüme, ohne Bühnenbild, ohne Licht, zu Beginn vielleicht auch ohne Text, nur uns selbst und unseren Unzulänglichkeiten ausgesetzt. Erste Intimität entsteht mit vorgestellten Partnern. Oder es ist der Regisseur, also ich, und die Assisstentin, die Souffleuse, die den künftigen Bettgenossen, das PUBLIKUM, ersetzen. Bin ich also so etwas wie eine Trainings-Sex-Puppe, nur mit echteren Reaktionen?

Vor vielen Jahren, beim Zwischenhalt in Frankfurt am Main, auf dem Weg zu meinem ersten West-Gastspiel mit dem Deutschen Theater, erschreckte mich der weitaufgerissene Mund einer Gummipuppe im Beate Uhse Shop in Bahnhofsnähe. War sie erschrocken? Erstaunt? Oder machte sie sich lustig?




"Inflate here", verdeutscht: "Hier aufblasen".

Was aufblasen ? Mein Ego? Bin ich Medium, Fluffer oder Spiegel?
Nur Schauspieler werden vier oder fünf Mal im Jahr entjungfert.
Morgen ist die Erste Nacht. Wird sie Lust auf mehr machen? Ernüchtern? Überwältigen? Beide beteiligte Seiten sind gefordert.  Seid zärtlich miteinander, geniesst es.


Willkommen und Abschied


Es schlug mein Herz, geschwind, zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah. 

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut! 

Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
 
Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück.

 Spätere Fassung, ~1785
Johann Wolfgang von Goethe