Dienstag, 25. Oktober 2011

Eve Merriam

 
Wie man ein Gedicht Isst

Sei nicht höflich.
Lang hin,
mit den Fingern. Beiß rein und lecke den Saft
wenn er dir runterläuft am Kinn.
Es ist jetzt bereit und reif, wenn du es bist.
Du brauchst kein Messer, keine Gabel, keinen Löffel
keinen Teller, keine Serviette, keine Tischdecke.
 
Denn da ist kein Kern
kein Stiel
kein Stein
kein Samen
keine Rinde
keine Haut
zum wegwerfen.


 
How to Eat a Poem

Don't be polite.
Bite in.
Pick it up with your fingers and lick the juice that
may run down your chin.
It is ready and ripe now, whenever you are.
You do not need a knife or fork or spoon
or plate or napkin or tablecloth.
For there is no core
or stem
or rind
or pit
or seed
or skin
to throw away.

Eve Merriam

Neulich deutschten auf Deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend


Das Wort

Lebendgem Worte bin ich gut:
Das springt heran so wohlgemut,
Das grüßt mit artigem Genick,
Ist lieblich selbst im Ungeschick,
Hat Blut in sich, kann herzhaft schnauben,
Kriecht dann zum Ohre selbst dem Tauben,
Und ringelt sich und flattert jetzt,
Und was es tut - das Wort ergetzt.

Doch bleibt das Wort ein zartes Wesen,
Bald krank und aber bald genesen.
Willst ihm sein kleines Leben lassen,
Mußt du es leicht und zierlich fassen,
Nicht plump betasten und bedrücken,
Es stirbt oft schon an bösen Blicken -
Und liegt dann da, so ungestalt,
So seelenlos, so arm und kalt,
Sein kleiner Leichnam arg verwandelt,
Von Tod und Sterben mißgehandelt.

Ein totes Wort - ein häßlich Ding,
Ein klapperdürres Kling-Kling-Kling.
Pfui allen häßlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!
 
Friedrich Nietzsche: Gedichte. Reclams UB 7117. S. 43

Peter Bruegel der Ältere Der Turm zu Babel
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
 
Rainer Maria Rilke Berlin-Wilmersdorf, 21. 11.1897
Turm zu Babel M. C. Escher Holzschnitt 1928

Grammatische Deutschheit

Neulich deutschten auf Deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der Deutscheste sey.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich;
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.
Jetzt wettdeuschten sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Comparativ, deutschesten Superlativ.
"Ich bin deutscher als deutsch«. "Ich deutscherer".
"Deutschester bin ich."
"Ich bin der Deutschereste, oder der Deutschestere."
Drauf durch Comparativ und Superlativ fortdeutschend,
Deutschten sie auf bis zum - Deutschesteresteresten;
Bis sie vor comparativisch- und superlativischer Deutschung
Den Positiv von Deutsch hatten vergessen zuletzt.
 
Friedrich Rückert (1788 - 1866): Poetische Werke. 1882


Linguistik

Du mußt mit dem Obstbaum reden.

Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütenworte,
rosa und weiße Worte,
die der Wind
lautlos
davonträgt.

Vertraue dich dem Obstbaum an
wenn dir ein Unrecht geschieht.

Lerne zu schweigen
in der rosa
und weißen Sprache.

Hilde Domin

Der Werwolf

Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: "Bitte, beuge mich!"

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

"Der Werwolf", sprach der gute Mann,
"des Weswolfs, Genitiv sodann,
dem Wemwolf, Dativ, wie mans nennt,
den Wenwolf, - damit hats ein End."

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
"Indessen", bat er, "füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!"

Der Dortschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäbs in großer Schar,
doch *Wer* gäbs nur im Singular.

Der Wolf erhob sich tränenblind -
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.

Christian Morgenstern

bibliothek

die vielen buchstaben
die nicht aus ihren wörtern können

die vielen wörter
die nicht aus ihren sätzen können

die vielen sätze
die nicht aus ihren texten können

die vielen texte
die nicht aus ihren büchern können

die vielen bücher
mit dem vielen staub darauf

die gute putzfrau
mit dem staubwedel

Ernst Jandl

Paul Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen
 
Denken und Danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs. Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von: „gedenken", „eingedenk sein", „Andenken", „Andacht". Erlauben Sie mir, Ihnen von hier aus zu danken.
Die Landschaft, aus der ich - auf welchen Umwegen! aber gibt es das denn: Umwege? -, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. [...] es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten. [...]
Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.
Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah, aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.
In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.
Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war der Versuch, Richtung zu gewinnen. Und wenn ich es nach seinem Sinn befrage, so glaube ich, mir sagen zu müssen, daß in dieser Frage auch die Frage nach dem Uhrzeigersinn mitspricht.
Denn das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen - durch sie hindurch, nicht über sie hinweg.
Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiß nicht immer hoffnungsstarken - Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.
Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht. Und ich glaube auch, daß Gedankengänge wie diese nicht nur meine eigenen Bemühungen begleiten, sondern auch diejenigen anderer Lyriker der jüngeren Generation. Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswunde und Wirklichkeit suchend.

Celan, Paul: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1983, S. 185 f.

Montag, 24. Oktober 2011

24.10. - Tag der Vereinten Nationen


1945 "Die Hiroshima Explosion" unbekannter Photograph, © United Nations


WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN - FEST ENTSCHLOSSEN,
  • künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
  • unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,
  • Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,
  • den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern,
UND FÜR DIESE ZWECKE
  • Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,
  • unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,
  • Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und
  • internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern -
HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN.

Charta der Vereinten Nationen, Präambel

Dementsprechend haben unsere Regierungen durch ihre in der Stadt San Franzisko versammelten Vertreter, deren Vollmachten vorgelegt und in guter und gehöriger Form befunden wurden, diese Charta der Vereinten Nationen angenommen und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen “Vereinte Nationen“ führen soll.


Nach Ende des Zweiten Weltkrieges sind weltweit mindestens 25 Millionen Menschen durch Kriege gestorben.

Sonntag, 23. Oktober 2011

Tanze Jetzt! - Die Grille und Die Ameise

Die Grille und die Ameise 

Grillchen, das den Sommer lang 
Zirpt und sang,
Litt, da nun der Winter droht’,
Harte Zeit und bittre Not: 
Nicht das kleinste Würmchen nur,
Und von Fliegen keine Spur!
Und vor Hunger weinend leise
Schlich’s zur Nachbarin Ameise;
Fleht’ sie an, in ihrer Not
Ihr zu leihn ein Körnlein Brot,
Bis der Sommer wiederkehre.
„Glaub mir“, sprach’s, „auf Grillen-Ehre,
Vor dem Erntemond noch zahl
Zins ich dir und Kapital.“
Ämchen, die, wie manche lieben
Leute, das Verleihen hasst,
Fragt die Borgerin: Was hast
Du im Sommer denn getrieben?“
„Tag und Nacht hab ich ergötzt
Durch mein Singen alle Leut.“
„Durch dein Singen? – Sehr erfreut!
Weißt du was? Dann – tanze jetzt!“
 
Jean de la Fontaine um 1668 

Was für ein erbarmungsloser Schluß.
Bei Äsop (um 600 v.Chr.) gibt die Ameise noch nach, und fordert im Gegenzug
nur von der Grille: „Aber du musst mir auch etwas musizieren.“ 2000 Jahre später hat sich
das Erbarmen aus der Geschichte geschlichen.

  
Die Grille musizierte Die ganze Sommerzeit –
Und kam in Not und Leid,

Als nun der Nord regierte.
Sie hatte nicht ein Stückchen
Von Würmchen oder Mückchen,
Und Hunger klagend ging sie hin
Zur Ameis, ihrer Nachbarin,
Und bat sie voller Sorgen,
Ihr etwas Korn zu borgen.
»Mir bangt um meine Existenz,«
So sprach sie; »kommt der neue Lenz,
Dann zahl ich alles dir zurück
Und füge noch ein gutes Stück
Als Zinsen bei.« Die Ameis leiht
Nicht gern; sie liebt die Sparsamkeit.
Sie sagte zu der Borgerin:
»Wie brachtest du den Sommer hin?«
»Ich habe Tag und Nacht
Mit Singen mich ergötzt.«
»Du hast Musik gemacht?
Wie hübsch! So tanze jetzt!«

 
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 5. 
 
Milo Winter Illustration zu Äsop's Fabel 1919
Und hier eine andere Variante aus einem Blog , der sich ironisierend "Einführung in den klassischen Liberalismus" nennt. Menschenverachtung als Satire verkleidet, reizend.

Wir sind entsetzt über die menschenverachtende Unmoral, die aus dieser Fabel spricht. Dem Ungeist der ausbeuterischen Bourgeoisie, der hier erkennbar wird, wollen wir die Wärme und das Mitgefühl der solidarischen Volksgemeinschaft entgegenstellen. Daher haben wir die Fabel etwas umgeschrieben. Sie ist nun zwar nicht mehr in kunstvollen Versen formuliert, dafür transportiert sie aber die richtige Gesinnung, und das ist immer das Entscheidende.
Es war einmal eine Grille, die das Leben liebte und mit ihren Freunden viel Spaß hatte. Diese Grille war durchaus bereit, eine ihr gemäße Arbeit anzunehmen, aber es stellte sich heraus, daß keiner der vielen Arbeitsplätze, die ihr angeboten wurden, für sie zumutbar war. Die Arbeitsagentur bestätigte sie in dieser Auffassung. Mit Verachtung blickte die Grille auf eine ihr bekannte Ameise, die sich bedenkenlos von den Kapitalisten ausbeuten ließ, und dies für eine Hand voll Euros. Die Grille zog es vor, ihre Zeit den schönen Dingen des Lebens, wie Wein, Weib und Gesang, zu widmen.
Es kam der Winter und die frierende Grille berief eine Pressekonferenz ein, in der sie zu wissen verlangte, ob es mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit vereinbar sei, daß die Ameise ein großes beheiztes Haus hat und Nahrungsvorräte im Überfluß, während andere in der Kälte litten und hungerten. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen zeigte Bilder der fröstelnden Grille und in starkem Kontrast dazu Aufnahmen der Ameise in ihrem gemütlichen Heim vor einem Tisch voller Speisen. Führende Kommentatoren der Tagespresse zeigten sich schockiert über diesen krassen Gegensatz und fragten: "Wie ist es möglich, daß in einem so reichen Land so viel Armut zugelassen wird?"
Der Fall erregte landesweite Aufmerksamkeit und bald schaltete sich NEID (Nationale Einheitsgewerkschaft der Insekten Deutschlands) ein, deren Vertreter in einer populären Talkshow darauf hinwies, daß die Grille, die unübersehbar eine grüne Körperfarbe hat, das Opfer einer bisher schon immer latent vorhandenen Grünenfeindlichkeit geworden ist. Bekannte Persönlichkeiten der Popmusik gründeten die Initiative "Rock für Grün" und alle Welt war gerührt, als ein von der britischen Königin geadelter Popstar auf einem Konzert dieser Bewegung das eigens für diesen Anlaß komponierte Lied "It´s Not Easy Being Green" anstimmte.
Sowohl Vertreter der Regierungs- als auch der Oppositionsparteien nutzten jeden öffentlichen Auftritt, um ihre Warmherzigkeit und ihr Mitgefühl zu zeigen, indem sie erklärten, daß sie alles in ihrer Macht stehende tun würden, um der armen Grille ihren gerechten Anteil am allgemeinen Wohlstand zu verschaffen, daß die hartherzige Ameise es lernen müsse zu teilen und daß Einkommensunterschiede immer ein Ausdruck von Ungerechtigkeit sind.
Die Bundesregierung, der von Journalisten immer wieder vorgeworfen worden war, daß sie dieses brennende Problem aussitzen wolle, zeigte ihre Handlungsfähigkeit und legte im Bundestag ein "Gesetz zur wirtschaftlichen Gleichstellung grüner Insekten" vor, das Ameisen mit einem Solidaritätszuschlag auf deren Einkommensteuer belegte. Dieser Gesetzesvorschlag wurde von allen Parteien des Bundestages angenommen. Von nun an lebten alle Mitglieder der Volksgemeinschaft in mitfühlender Geschwisterlichkeit und niemand störte es, daß aus unerklärlichen Gründen die Wirtschaftsleistung des Landes von Jahr zu Jahr zurückging. 

Und hier die Sicht des beginnenden 20. Jahrhunderts: 

Julius Stinde

Die Grille und die Ameise

Es war einmal eine Ameise, die war ebenso fleißig wie sparsam. Den Kaffeesatz brühte sie viermal auf, bevor sie ihn der Scheuerfrau in den Tagelohn rechnete, und ihr bestes Kleid war schon zweimal in der Färbe gewesen. Auf diese Weise kam sie zu einem hübschen Vermögen, das sie, da die Consols des Ameisenreiches nur drei Prozent gaben, in tropischen Orchideenactien anlegte, die vierhundertundvierzig standen und deren Dividende von sieben bis auf dreizehn gestiegen war. So hatte sie nicht nötig mehr, zu arbeiten, sondern konnte von ihrem Gelde leben und Kaffee trinken und Napfkuchen essen, wie ihr Herz begehrte. Auh war sie sehr wohltätig. Sie besuchte alle Bazare zur Milderung des Elends und verkaufte dort Pulswärmer, die sie in abendlichen Dämmerungsstunden gestrickt hatte, zu hohen Preisen, woran sie nur die Hälfte für Materialauslagen und Arbeitslohn beanspruchte. Darum fehlte es ihr nicht an Wertschätzung und Hochachtung.
Ihre Freundin, die Grille ging auch auf die Bazare und zwar in Begleitung von Kavalieren und tief ausgeschnitten wie zu einem Parée-Theater. Da gab sie alles Geld aus, was sie hatte und das der Kavaliere dazu, die dann Anleihen bei häßlichen alten Wucherern machen und sich nachher totschießen mußten, worauf sie in sogenannte Schlüsselromane kamen zum Ergötz aller Anständigen, die sich freuen, wenn Andere in die Presse kommen und nicht sie.
Da sagte die Ameise, als weder die Grille noch ihr derzeitiger Kavalier Wohltätigkeitspulswärmer kaufen wollten: "Dir wird es noch einmal recht schlecht gehen. Du jubilierst und flirtest ohne an Dein Alter zu denken. Schönheit vergeht, Sparsamkeit besteht!"
Die Grille lachte und sang: "Heute ist heut! Heut will ich lustig sein. Holdrio juchheh." -
Als der Winter nun kam - die Grille hatte von ihrem diesmaligen Kavalier eine Blaufuchsstola bekommen und einen Sealskinmantel samt Muff - begegnete die Ameise ihr in dem gefärbten Kleide mit einem dünnen Tuch um die Schulter und fror grausam.
"Wie siehst denn Du aus?" fragte die Grille. "Ach", klagte die Ameise bitterlich weinend, "die tropische Orchideengesellschaft ist Pleite und ich habe all' mein mühsam Erspartes verloren."
"Warum hast Du nicht gesungen und geflirtet?" entgegnete die Grille. Mit einer liebreizenden Bewegung stellte sie vor: "Die Ameise, meine beste Jugendfreundin, Herr Papillon, früherer Aufsichtsrat der tropischen Orchideengesellschaft, demnächst mein Gatte. Willst Du uns besuchen, wir wohnen Villa Providence, eingerichtet mit allem Comfort der Neuzeit". Damit hüpfte sie am Arme ihres Begleiters lächelnd davon.
Lange und betrübsam überlegend blickte die Ameise ihnen nach. "Früher war die Geschichte anders", murmelte sie; "aber mir scheint, so wie sie jetzt ist, ist sie richtiger. Und - die Wahrheit über Alles - sagt Ibsen."
 
In: Damenspende des Vereins Berliner Presse, Winter 1905, S. 49-51.
 

Eine gute Party

In den Partyjahren meiner Jugend, war ich oft in der Küche zu finden, abwaschend. Kurz gesagt, ich mochte Partys nicht. Zu viele Leute, zu laut, zu unkonzentriert. Aber während des Abwasches kam immer mal jemand vorbei, verweilte, erzählte, oder sinnierte eine Zeitlang vor sich hin. Und die Gastgeber mochten mich und die saubere Küche.

Partys mag ich immer noch nicht, aber heute war ich auf einer schönen, einer Herbst-Begrüßungs-Feier. Es lag wohl daran, dass der Einladende ein wirklich lieber Kerl ist und eine gute Nase für die Leute hat, mit denen er sich befreundet. Ich kannte ein paar der Gäste und das waren dann halt auch Menschen, die ich gern wiedergetroffen habe und, noch seltener vorkommend, ich habe mich auch mit mir bisher Unbekannten gut und überraschend unterhalten. 

Das ist nicht weiter weltbewegend, aber in kühlen Zeiten ein erfreuliches Erlebnis.

Dirck Hals "Lustige Gesellschaft", um 1625/1626
Man beachte oben die wagemutige Beinhaltung des Herren ganz außen rechts mit der Pfeife. Und die Dame vor ihm kippelt. 
Irgendwo zwischen den Stimmungen dieser beiden Bildern liegt wohl die gute Party.
Was mag die Dame unten außen rechts der Jüngeren mit dem schwer alkoholisierten Freier wohl gerade in die Hand geben? Und man trinkt aus Eimern, warum nicht? Nur das Dienstmädchen hat wohl eine lange Nacht vor sich.

William Hogarth The Rake's Progress "Die Orgie" 1733


Samstag, 22. Oktober 2011

Mord als Lösung, Mord als Recht

Scheint es euch auch merkwürdig, dass der Rache-Mord nunmehr, in diesem unseren Jahrhundert, das sich doch mit selbstsicheren Hochmut vom dunklen Mittelalter distanziert, zum gewöhnlichen politischen Arbeitsinstrument wird? Und zwar nicht heimlich und verdeckt, sondern ganz stolz und überzeugt?

Sicher, die andere Wange hat zu viel abgekriegt. Sicher so richtig einen in die Schnauze und  ein Zahn für den verlorenen Zahn raus, tut manchmal not. Und wenn ein Auge mit draufgeht, tough luck!

Ich verstehe, wenn jemand geht und tötet, den der getötet hat. Ich weiss nicht, was ich täte, wenn jemand meine Lieben anrührte.

Aber, wenn der Staat, erfunden als Bollwerk der Zivilisation, auf das wir zusammenleben können, ohne uns ungeordnet die Schädel einzuschlagen, wenn dieser Staat nun ins alttestamentarische verfällt, was ist dann?

Muammar Al-Gadafi

Osama Bin Laden


Lukas Evangelium 6,27
Aber euch Zuhörenden sage ich: Liebet eure Feinde; tut Gutes denen die euch hassen;  segnet die, die euch verfluchen, betet für die, die euch misshandeln.  Dem, der dich auf die Wange schlägt, halte auch die andere hin; und dem, der dir den Mantel wegnimmt, verweigere auch das Hemd nicht.  Gib jedem, der etwas von dir bittet und von dem der dir das Deinige nimmt, fordere es nicht zurück. Und so wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, tut auch ihr ihnen gleichermassen. Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, wie gross ist eure Gnade? Denn auch die Sünder lieben die, die sie lieben.  Und wenn ihr denen gutes tut, die euch gutes tun, wie gross ist eure Gnade? Denn auch die Sünder tun dasselbe. . Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr hofft es wieder zu erhalten, wie gross ist eure Gnade? Denn auch die Sünder leihen Sündern, damit sie das Ihre zurück erhalten. . Doch liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht ohne zurück zu erhoffen und euer Lohn wird gross sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig zu den Gnadenlosen und Bösen. . Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Diane Arbus zum Dritten - Gesichter

Puertoricanische Frau mit Schönheitsfleck N.Y.C. 1965 © D.A.



Kind, weinend N.J. 1973 © D.A.



Ohne Titel © D.A.



Mädchen mit Mütze 1965 © D.A.



Junge mit Strohhut wartend in einer Pro-Kriegs- Demonstration N.Y.C. 1967 © D.A.



Mrs. T. Charlton Henry in ihrem Haus in Chesnut Hill in Philadelphia 1965 © D.A.



Frau mit Turban N.Y.C. 1965 © D.A.

 
   
Mexikanischer Zwerg im Hotel in N.Y.C. 1970 © D.A.

Augen in der Großstadt


Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück ...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück ...
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.


Theobald Tiger
Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 11, S. 217,
in: Lerne Lachen.



Diane Arbus bei der Arbeit 

Grippezeit - Zitronenzeit

Paul Klee Zitronen
Es war eine gelbe Zitrone,
Die lag unter einer Kanone,
Und deshalb bildete sie sich ein,
Eine Kanonenkugel zu sein.
Der Kanonier im ersten Glied,
Der merkte aber den Unterschied.
– – – – – – – – – – – – – – – – – –
Bemerkt sei noch zu diesem Lied,
Ein Unterschied ist kein Oberschied.

 Joachim Ringelnatz

Paul Gaugin Stillleben mit Fruchtschale

Francisco de Zurbaran 1633 Stillleben



Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, (* Mignon 1)
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
  Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
               Dahin! Dahin
                              Möcht‘ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
 
        Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
      Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
               Dahin! Dahin
 Möcht‘ ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
 
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.
Kennst du ihn wohl?
               Dahin! Dahin
Geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn!

Van Gogh Stillleben mit Trauben Birnen und Zitronen

Banane, Zitrone,
an der Ecke steht 'nen Mann.

Banane, Zitrone,
er lacht sich eine an.
Banane, Zitrone,
er nimmt sie mit nach Haus.
Banane, Zitrone,
er zieht sie nackend aus.
Banane, Zitrone,
er nimmt sie mit ins Bett.
Banane, Zitrone,
er macht sie dick und fett.



Aus dem "Simplicissimus"

Dienstag, 18. Oktober 2011

Die Theaterwohnung 2

Theaterwohnung Magdeburg 2011. Unvorstellbarer Luxus! Geschirrspülmaschine und Waschmaschine und Mikrowelle! Ok, das Bett ist ein Klappbett und verflixt unbequem und selbst für meine 165 cm zu kurz. Das wäre aber zu vernachlässigen, wäre da nicht ein kleines Problem: der Innendesigner oder wer auch immer, die Gestaltung, des Innenlebens dieser Wohnung, in seinen kreativen Händen hielt, hat die Gelegenheit genutzt, und all den künstlerischen Ideen Realität gegeben, die man sonst, bei der Wohnungsrenovierung, aus gutem Grund, kurz überlegt und dann NICHT verwirklicht.
Die Küche ist rosa.
Man beachte, die farblich abgestimmten Vorhänge. Oder ist das Pink?

Das Zimmer, gelb, grobgetupft, mit, und hier wird es ungewöhnlich, einer in Schwammtechnik mit blutrot, gestalteten Wandteppichvision über dem üblichen Schwedenmöbelschreibtisch.
Wurde hier ein Blutbad theatralisch umgesetzt? Möglich.
Die Vorhänge sind blassrot und, damit man den Bezug zur Realität nicht verliert, oder zumindest nicht den zur Laterne vor dem Haus, durchsichtig. Der Flur führt das Blutspritzthema in geometrisch gebündelter Form weiter.
Meine Bühne hier wird weiß sein, reinweiß, nichts als weiß. Klar - Die Schneekönigin - Eis - Weiß. Nun wird sie auch eine Erholung, für meine von dieser Blutdrunst erschreckten Augen.


Übrigens beginnt in Magdeburg, der Nachtverkehr der Strassenbahn um 9. Dann fährt sie nur noch stündlich. Andere Städte andere Sitten.



Montag, 17. Oktober 2011

Borgia oder We are family!


"Die Borgia waren die erste moderne Familie" sagt Tom Fontana, der Drehbuch-Autor, der viel recherchiert und sich lange mit "Entdeckungen von Historikern" beschäftigt haben soll. 
Also meine ist anders - Gott sei Dank!
Viel Locken, Backenknochen, Brüste und Sixpacks, noch mehr Renaissance! schreiendes Szenenbild und ganz schicke neuangefertigte gebügelte Kostüme. Auch das Volk hat sich für die Aufzeichnung in die Feiertagsklamotten geworfen. Eine schöne saubere Zeit muss das gewesen sein.
Das ganze ähnelt einem Krippenspiel der katholischen Amateurtheatergruppe Unter-Ammergau, nur mit mehr sexähnlichem Rumgewälze als üblich, und dass eben alle Apostel italienische Namen haben.
Leider fallen die wenigen Schauspieler unter den vielen niedlichen südländisch aussehenden Laien nur wenig ins Gewicht. 
Und die Dialoge!
„Es ist heiß heute.“
„Ja, letztes Jahr, 1498, war es kühler, Deine Schwester Lucrezia, die Tochter des Papstes, soll ja demnächst heiraten, habe ich gehört, mein lieber Cesare?“
Worauf sich Cesare entweder das Hemd vom Leibe reißt, um sich eine Runde zu peitschen, oder dem Frager ein oder mehrere Körperteile mit dem Degen absäbelt.
Übrigens, aus dem Handbuch für TV-Darsteller Kategorie B: Hauchen macht sexy und Backenmuskeln anspannen wirkt männlich.

Pinturicchio, (wahrscheinlich Lucrezia Borgia) als Heilige Katharina, wahrscheinlich Ende des 15 Jh.