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Donnerstag, 7. November 2019

Warum Stadttheater so anstrengend ist.

Sechs Wochen Probe für ein wunderbares und hochkompliziertes Stück an einem beliebigen  deutschen Stadttheater.
Wir beginnen.
Der erste Probentag mußte ausfallen, weil der arbeitsrechtlich garantierte freie Tag noch ausstand, fünf meiner Schauspieler werden an circa neun Proben nicht teilnehmen können, weil sie Vormittags- und Abendvorstellungen haben.
Dies ist ein Ensemblestück, nahezu immer sind alle Spieler auf der Bühne.
Die Strichfassung, verfügbar seit Ende Juni, erhalten die Mitwirkenden erst am Tag der Konzeptionsprobe, ein innerbetrieblicher Fehler, verstehbar, aber ärgerlich.
Wie sollen wir Auge in Auge probieren, wenn mein Vorlauf so enorm ist?
Sowieso hatten die meisten der Beteiligten erst am vergangenen Samstag die letzte Premiere und hätten deshalb gar keine Zeit gehabt, sich mit dem Text zu beschäftigen.
Alle sind erstmal müde.
Drei Premieren in drei Monaten sind Fließbandarbeit.
Wir haben trotzdem, trotzalledem, eine gute Probenzeit. Einige Ausfälle wegen Grippeattacken, ein oder zwei verständliche private Notfälle, ansonsten gute und konzentrierte Proben. Sie wollen spielen, sie sind schlau, sie haben Witz.
Aber noch vor einer Woche war ich mir nicht sicher, ob wir den Premierentermin halten können würden.
Dann, das Wunder, es lebt, wächst, flittert.
Wir gehen in die Endproben auf der Bühne und es funktioniert, sie spielen miteinander, gewinnen an Leichtigkeit, an Stärke.
Die Gewerke stoßen dazu und arbeiten erstklassig.
Die überlastete Kostümabteilung ermöglicht, trotzalledem, jede notwendige Änderung.
Die Abteilung Licht ist einfach ein Glück.
Die Bühnenmitarbeiter tun ihr Übriges.
Ich bin froh.

Der Intendant, den ich sehr mag, hat derweil eine Identitätskrise und wird uns leider keine Unterstützung bieten.

Heute hatten wir die zweite Hauptprobe. Die zuschauenden Lehrer waren sehr angetan.

Und jetzt kommt die Pointe.
Heute, nach der zweiten Hauptprobe erscheint der technische Leiter und erklärt die Hinterbühne zur verbotenen Zone, weil dort das parallel spielende Weihnachtsmärchen gelagert werden wird. Dies fällt ihm NACH der zweiten Hauptprobe auf. 
Unser Stück hat 42 Rollen und 10 Spieler, der Ablauf ist getaktet wie eine Schweizer Uhr. Das soll nun nicht mehr möglich sein, weil alle Umzüge auf der Hinterbühne nicht mehr stattfinden können.
Ich gehe eine Zigarettte rauchen, um nicht ausfällig zu werden, während meine sonst sehr beherrschte Kostümbildnerin brüllt.
Als ich zurückkomme, steht der Technische in der klassischen Pose aller überlegenen Männer, und bemüht sich sein Problem zu unserem zu machen.
Seine Respektlosigkeit gegenüber unserer Arbeit ist vollständig.
Wenn die Überforderungen des Alltagsgeschäfts, Kunst, ja ich nenne es Kunst, zur Nebensache herabwürdigt, wenn die gemeinsame Aufgabe der Ermöglichung von gutem Theater zur Nebensache wird, wenn Schauspieler wie Nutzvieh behandelt werden, dann ist etwas "faul in unserem Stadttheater".
Da ich selbst sehr lang Schauspielerin war, kann ich primär nur für UNS sprechen, auch wenn ich, als Regisseur zur dunklen Seite gehöre . Wir werden schlecht bezahlt und arbeiten unter Regelungen, die jeder normal Angestellte belachen würde und haben doch ein Recht auf Respekt, weil wir uns das Herz aufreissen und uns nackt machen, damit ihr die Welt etwas besser ertragen könnt.

Samstag, 26. Oktober 2019

„Die Tage der Commune“


Wir arbeiten hier gerade an einem Stück über eine Revolution, die fast niemand kennt. 
Leute reden und streiten über Ungerechtigkeit, ihre Not, ihren Zorn, ihre Zweifel. Sie werden am Ende alle sterben. 
Was für Biographien. Aus einer Zeit, als der Traum vom Kommunismus seine Unschuld noch nicht verloren hatte. Aber was für ein dreckig blutiger Absturz folgte im 20. Jahrhundert nach Christus, nach der Geburt dessen, von dem man behauptet, das er verlangte, dass wir, im Falle eines Angriffs auch die andere Wange zur Verfügung stellen sollten.
Widersteht nicht dem, der böse ist, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so wende ihm auch die andere zu.
Matthäus 5:39
Um dieses Dilemma kreist der Text, wie ein melancholischer Geier.
Rigault:         Terror gegen Terror, unterdrückt oder werdet unterdrückt, zerschmettert oder werdet zerschmettert.
Beslay:          Keine Gewalt, keine Gewalt!
Jourde:          Das bedeutet die Diktatur.
Beslay:          Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.
Varlin:          Und wer nicht zum Schwert greift?
Avrial:          Die Großmut der Commune wird Früchte tragen! Lasst sie von der Commune sagen: sie hat die Guillotine verbrannt.
 La Commune de Paris (1871). Vue de la place Vendôme © Parisienne de photographie
Glaube, Liebe, Hoffnung.
Wir mussten wohl oder übel lernen, dass die großen Revolutionen nicht nur durch ihre Feinde von außen bedroht werden, sondern im Gegenzug auch nahezu sofort beginnen, sich nach innen in Lager aufzuspalten, die einander bekämpfen. Eine Gruppe gewinnt die Oberhand, es folgt Überwachung, politische Verurteilungen und Terror.
Und doch sehnen wir uns nach Veränderung, denn die Welt ist in einem üblen Zustand.
„Die Tage der Commune“ erzählt von einer „kleinen“ Revolution, beschränkt auf die Stadt Paris und einer Dauer von nur 72 Tagen.
Wie tief wird hier an die Möglichkeit eines guten Ausgangs geglaubt. Wie verzweifelt wird hier auf eine bessere Zukunft gehofft! Wie innig wird die Vision einer gerechten Welt geliebt. Wie hart darüber gestritten, wie diese neue Welt aussehen soll.
Am 28. Mai wurden die Kämpfer der Commune endgültig besiegt. Die deutsche und die französische Regierung, eben noch Erzfeinde, sorgten gemeinsam für die Niederschlagung des Aufstands. Tausende Männer, Frauen und Kinder wurden deportiert, in Gefängnisse gesteckt, etwa 7000 erschossen. 
Der Glaube kann Berge versetzen? Liebe macht blind? die Hoffnung stirbt zuletzt?
Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die größte unter ihnen ist die Liebe, heißt es in der Bibel.
Dabei wissen wir ja:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
 
Bertolt Brecht

Samstag, 14. September 2019

Postdramatisches - Dramatisches

Ich gehe oft Theater gucken.

Wenn es mir gut tut, bin ich danach beglückt, verwirrt, aufgeregt, nachdenklich, irritiert, gelegentlich sogar neidisch. Manchmal war es nur ein kurzer schauspielerischer Moment, manchmal ein Gedanke, den ich sonst nicht gedacht hätte, manchmal ein Arrangement, eine Bewegungen, eine Geste. Ganz selten, geschieht es, dass ich einen ganzen Abend in wunderbarer Klarheit verbracht habe, scharfsichtig und heiß, weil jemand tiefer gedacht hat, als ich es konnte, Bilder erfunden hat, die ich nicht hätte erdenken können, weil jemand sich schweißtriefend bemüht hat, wahrhaftig zu sein und/oder weil dieser jemand zornig genug war, um waghalsig zu denken, für die Kunst, für die Wahrheit, für das Überleben des von mir geliebten, schon sehr alten, und mittlerweile recht gebrechlichen Theaters. 

Aber. Aber oft, zu oft, gehe ich in der Pause, erschöpft und mißmutig. 
Ein Einfall wurde gehabt. (Und ich meine nur "einer".) Eine Provokation wurde behauptet. (Wer glaubt noch, im Theater provozieren zu können? Womit denn?) Eine sichere Nummer wurde geplant. (Der Hype verlangt Opfer, produziere viel und wiedererkennbar, carpe diem, morgen kann es vorbei sein.)

Castorf, mal unerträglich repetitiv, man hirnerfrischend wild, quält sich und alle seine Mitarbeiter durch die Untiefen seines großen Hirns. Milo Rau will die Welt verstehen und vergißt darüber nicht, dass er mich, damit ich ihm folge, unterhalten, meine Aufmerksamkeit wachhalten muß. Thorsten Lensing breitet Teppiche aus für die Talente seiner Spieler. Christopher Rüpping verbeißt sich in Texte und begeistert seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen. Etc., etc.

Aber. Aber, oft ist faules Mittelmaß, was mir geboten wird. Dabei ist ein großes, überfordertes Scheitern bei weitem erträglicher, als die häufig erlebten Repetitionen eines "Erfolgrezeptes" oder die ebenso häufige nachlässige, eitle Bebilderung eines nicht zu Ende gedachten Konzeptes. Dafür werden Spieler, hochbegabte, geliebtwerdenwollende, aufopferungswillige geopfert, die lange, zu lange Abende mit Kraftmeierei und Behauptung durchstemmen müssen. Nackt, nein, entblößt werden sie der trendbewußten, lauen Neu-Gier des Publikums zum Fraß vorgeworfen.

Ich wünschte, es gäbe eine Verbots-, Gebotsliste für Inszenierungen. Denke Deinen Plan bis zum Ende. Die Logik der Bühne ist nur auf derselben gültig, dort aber unbedingt. Liebe deine Spieler, sie müssen, das was du dir ausdenkst, vertreten, aushalten, während ihnen Hunderte Menschen zuschauen, bist du es, ist es dein Plan wert? Unterschätze die Intelligenz Deiner Zuschauer nicht, ja, sie sind überfüttert, denkfaul und leicht verführbar. Aber ganz tief drinnen wissen sie, wenn sie beschissen, nicht ernst genommen werden, wenn sie nicht gemeint sind.
Postdramatisch ist eine Dramaturgenbehauptung, selbst im Untergang, sollten wir uns denn darin befinden, empfinden wir unser Leben als reales Drama. Und das ist unser Recht. Weil wir es aushalten müssen und nicht nur seine Zuschauer sind.

Weniger sinnfreies Gebrülle, Nacktheit nur, wenn sie inhaltlich notwendig ist, jeder Geschlechterwechsel sollte Sinn machen, Heiner Müller-Zitate sollten nur im Notfall verwendet werden. Und grundsätzlich, Menschen, also auch Theaterfiguren leben in Umständen, die Vorgänge erzeugen, nicht nur in emotionale Zuständen. Stückfiguren leben in Umständen, die ihnen Reaktionen abverlangen. Den emotionalen Zustand "an sich" gibt es nicht. Niemand leidet an und für sich. Niemand. Die soziale Position ist entscheidend innerhalb jeder Auseinandersetzung.

"Das große Format entschuldigt alles." b.b.
Aber groß sollte es sein. Wenigstens nicht kleiner als eine Supermarktgurke. 

Donnerstag, 12. September 2019

Macht das alles einen Sinn - und wenn ja, warum dauert das so lange?

Hat das alles einen Sinn - und wenn ja, warum dauert das so lange?  Regie: Andreas Wilcke
Keinen Sinn für Humor. Keine eigene politische Haltung. Kein Sinn fürs Theater. Nur allgemeine Sentimentalität den "guten" alten Zeiten gegenüber. Kitsch.
Ungewöhnlich schlechter Schnitt.
Frank kommt schlecht weg, obwohl er doch ums Verrecken das Idol sein soll. Weil halt nur schicke Ausbrüche gezeigt werden und nicht die Momente, wo er in widerwillig herausgemurmelten Sätzen Strukturen aufdeckt oder wo er einen absurden Einfall in die Runde wirft, der sich im Ausprobieren als szenisch brilliant erweist.
Die Qual der Proben wird nicht gezeigt und nicht ihre kindliche Albernheit. Nur der Druck.
Uns hat er damals gefragt, ob wir was Merkwürdiges können, ein Kollege konnte jodeln, da haben wir als Chinesen dann gejodelt.
Hier soll ums Verrecken Genie bewiesen werden, doch dazu braucht es keinen Weihrauch, keine überlangen Einstellungen, kein Ich-weiß-wie-es-war Getue, dazu braucht es uneitles, Interesse mit Geduld und Neugier. Interessantes Wort: Neugier, gierig danach Neues zu erfahren, nicht nur einfach eigene Überzeugung zu bestätigen.
Öde. Mir fällt kein besseres Wort ein.
Die beste Szene, wenn Sophie Rois herzallerliebst gähnt, während Frau Angerer einen längeren Monolog hält. Alexander Scheer scheint so sympathisch, zu sein, wie ich vermutete.
Wenn man nur die Videos aus großen Szenen abfilmt, erweist sich, dass Theater spannender ist als seine filmische Abbildung.
Verehrung ohne das nötige Talent und ohne Witz und ohne Distanz schadet dem Verehrten.
Ich hatte das Gefühl vier Stunden im Kino zu sitzen, dabei waren es nur zwei. Kein gutes Zeichen.

Sonntag, 14. Juli 2019

KOTZEBUE IN PEITZ

30 Jahre theater 89
theater 89 – Stadtwärts! 
Zu Gast in der Mark: Fontane. 200 – Arbeitsgemeinschaft „Städte mit historischen Stadtkernen“

August Friedrich Ferdinand von Kotzebue - 220 Schauspiele hat er geschrieben, manche in nur zwei Tagen, er war um 1800 der bei weitem erfolgreichste deutsche Dramatiker, Goethe mochte ihn nicht, er starb durch die Messerattacke einen studentischen Attentäters und ist heute nahezu vergessen.

Trotz häufigen Theaterbesuchen über eine mittlerweile sehr lange Zeit, in Worten über fünfzig Jahre, hatte ich noch kein Stück von Kotzebue gesehen, der Name war mir irgendwie bekannt und vor zwei Jahren tauchte er, eher beiläufig in einem Monolog auf, den ich mit der unglaubliche Anika Mauer gearbeitet habe, nämlich "Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe" von Peter Hacks, einem hochbegabten Stalinisten und Dichter.

Die Tasse, übrigens, hat Goethe bemalt. Man könnte es herausspüren, selbst wenn man es nicht wüßte. Sie ist viel ungeschickter als die jedes Porzellanarbeiters in Ilmenau, so wie ja auch kaum eines seiner Theaterstücke nicht unwirksamer ist als das beiläufigste Stück des Herrn von Kotzebue. Goethe ist ein sehr eigenartiges Talent.


Was Goethen aber die größte Enttäuschung beschert hat, war sein närrischer Ehrgeiz in Betreff auf die menschliche Rasse überhaupt. Wie eifrig war er nicht, sie zur Humanität zu bekehren, nur war die Menschheit nicht eben so eifrig, ihm zu folgen. Herr von Kotzebue hat hierzu eine sehr treffende Anmerkung beigetragen. Früher, so sagte er, reichte es für uns Deutsche hin, Gemüt zu haben, heute muß es unbedingt Humanität sein.


Heute war ich erstmals im brandenburgischen Städtchen Peitz, habe erstmals einen Kotzebue und ebenfalls erstmals eine Sommertheater-Produktion des Theaters 89 gesehen. Peitz und das Elend der brandenburgischen Wirtschaft wäre ein eigenes Thema, aber gerade deshalb ist eine solche Unternehmung wie sie das Theater 89 initiert hat, besonders wichtig. Übrigens kam der Bürgermeister mit Frau und Tochter in vollständiger Renaissancekostümierung!
Die Truppe um Hans-Joachim Frank tourt seit sieben Jahren über den Sommer durch Brandenburg und seit drei Jahren, glaube ich, spielen sie speziell in den historischen Stadtkernen brandenburgischer Kleinstädte. "Die deutschen Kleinstädter" heißt das Stück in diesem Jahr und es passt wie die Faust auf das Auge. Die Leute kommen, erkennen sich wieder und lachen ohne Groll über sich selbst. Das Ding hat eine Boulevarhandlung, ein erstaunlich modern wirkendes Tempo, knappe spitze Dialoge und hier und da schlüpft es dann ganz mühelos ins Absurde.

Eine Mischung aus Profis und Laien, das Ensemble, spielt mit der Lust, die man fühlt, wenn man spürt, dass sich die Besucher ohne den Einsatz mieser Tricks großartig amüsieren. Also, wenn ihr Freilichttheater an schönen Orten mögt, nix wie hin.
 

"Die deutschen Kleinstädter" 
ein Lustspiel in vier Akten von Kotzebue
1802 in Wien uraufgeführt 
 

BESETZUNG

TERMINE





Donnerstag, 4. Juli 2019

Etwas geschafft zu haben.

Ich habe es geschafft. Wir haben es geschafft. Ungefähr 500 Menschen, 20 Tiere, viele wunderbare Mitarbeiter, meine Schwester und ich haben es geschafft. Ich kann es kaum glauben und bin doch ungeheuer stolz. 

Sogar auf Nachtkritik wird gejubelt, die regionalen Zeitungen tun es auch. Es könnte nicht besser sein. Gänzlich ausverkauft sind wir trotzdem nicht. Doch eine gigantische Freiluftshow findet statt und bereitet den Spielern, den Zuarbeitenden und den Zuschauenden Vergnügen.

Zwischendurch jede Menge Krisen und sehr viele glückliche Momente. Erschöpfung, Überforderung und jede Menge Spaß. Und Freizeit in Ötigheim, einem Dorf mit 5000 Bewohnern, zwei Kneipen, einer Konditorei, einem Bäcker, einer Apotheke und Edeka und LIDL im Industriegebiet. Rastatt ist nur zehn Minuten entfernt, Baden-Baden zwanzig, Karlsruhe dreissig. 

Siebenundzwanzig Vereine haben sie hier. Chor, Tanz, Karneval, Instrumentalunterricht, das Angebot ist breitgefächert und viele sind in mehr als drei Vereinen. Ein Pfarrer hat das gegründet, er wollte, das Kultur, Kunst ein lebendiger Teil des örtlichen Lebens sein sollte. Bildung fürs Volk. Das Volk spielt fürs Volk. Volksbildung. 

Der Pfarrer, Herr Seyer wollte ans Theater, hat bei Reinhard hospitiert, auf ihrem Totenbett hat seine Mutter, ihm das Versprechen Pfarrer zu werden abgerungen, er gehorchte und begründete die VOLKSCHAUSPIELE. Er schrieb eine "Passion", Wilhelm Tell wurde oft aufgeführt. Die Bühnenteile sind nach den Orten des Stückes benannt: Rütli, Stauffacher-Haus, Hohle Gasse etc. und den Stücktext können hier viele vollständig auswendig. 
Der Faschismus wurde halbherzig überstanden. Der Pfarrer drehte einen Film, der ein Mißerfolg war, er starb vollständig verarmt. 

Aber dieses verrückte Erbe, ein Dorf, ein Großteil eines Dorfes im tiefen katholischen Schwarzwald, das theatersüchtig ist, Theater liebt, hat ihn überlebt. Noch heute ist der jeweilige örtliche Pfarrer Vorsitzender des Vereins.

Proben mit bisher unbekannten Schwerpunkten:
Wie reagiert das Stuntpferd auf laute Geräusche?
Wann muß die Kutsche, wo, losfahren, um pünktlich in der Mitte der 150 Meter breiten Bühne zu sein? Oh, der Kutscher hat sein Hörgerät vergessen!
Wie spielt man eine intime Szene für 3000 Menschen? 
Wir sprechen mit Mikrophon, also müssen wir uns deutlich bewegen, wenn wir reden, damit die Zuschauer wissen wer grad spricht.
Hier gilt nicht kleckern, sondern klotzen.
Wenn einer aus der Gruppe der Darsteller verhindert ist, wegen Urlaub, Geburtstag oder Beruf, wer ersetzt ihn? Da alle Darsteller Amateure, das heißt, andersweitig Berufstätige sind, ist das eine äußerst wichtige Frage.
Wenn zwölf gallopierende Pferde schnell wenden müssen, wie verhindert wir Unfälle mit herumwandernden Spielern?
Welches der vielen mitspielenden Kinder merkt sich das Stichwort für den Auftritt am besten? 
Der jüngste Mitspieler ist ein halbes Jahr alt, der älteste, das kann ich nur schätzen. Ein Über-Siebzigjähriger erzählt mir, dass er mit vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne stand. 
Der begabte Tänzer hat es am Knie, die drei älteren Damen im Volksbild können nicht mehr schnell laufen. Der Bass besteht nur noch aus fünf älteren Herren. 
Ein Chor von 90 Leuten will sich bewegen und will es auch nicht. Da ist Mutmachen nötig.

Luisa, meine Assistentin hatte, als Einzige den Überblick, Sebastian, mein Münchhausen, der einzige Profi, war der Vermittler, ich, die Zugezogene, habe mitgetanzt und vorgespielt und gute Laune verbreitet und tolle Leute kennengelernt, solche, die man im ursprünglichen Sinn des Wortes anständige Menschen nennt. Offen und interessiert, gesprächig und fleissig. Sie haben mich freundlichst aufgenommen.
 
Welch eine Gemeinschaft! Gespräche, Nachbarschaftshilfe, gemeinsames Essen, themenbezogene Picknicks werden herbeigetragen. Jeder kennt jeden. Nicht jeder mag jeden, aber das wäre auch unglaubwürdig. Eine lebendige soziale Struktur. Alte, sehr Alte und junge Menschen tun etwas miteinander und nehmen sich wahr.


















Alle Photos © Rainer Wollenschläger

Mittwoch, 19. Juni 2019

2 x Trommeln in der Nacht

Für "nachtkritik" geschrieben und dort erstveröffentlicht.


DIE LETZTE REVOLUTION IST LANGE HER

„Von meinen ersten Stücken ist die Komödie „Trommeln in der Nacht“ das zwieschlächtigste.“
Bertolt Brecht in „Bei der Durchsicht meiner ersten Stücke“ 1953

„Trommeln in der Nacht“, ursprünglich „Spartakus“ - geschrieben 1919,
der Erste Weltkrieg, der noch nicht Erster heißt, ist gerade verloren worden, die Novemberrevolution zwingt Deutschland in die parlamentarische Demokratie, Brecht ist 21 Jahre alt.

Wenn ich heute an Revolution denke, dann eher an ihre malignen Auswüchse, den Terror der Jahre 1793/94, Stalins Massenmorde, als an die Zustände, die den Aufstand nötig machten. Ist solche Not außerhalb meiner Vorstellungskraft?

Ich gehe manchmal auf eine Demo oder unterschreibe eine Petition, das geht übrigens heutzutage auch in dem für das Ende des Stückes so wichtigen Bett. Widerspruch ohne Gefährdung. Perfekt. Banal.

Nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes wurden Liebknecht und Luxemburg erschossen und im Landwehrkanal entsorgt.

Die Uraufführung fand am 29. September 1922 an den Münchner Kammerspielen statt, die Inszenierung wurde drei Monate später für das Deutsche Theater übernommen und nach erfolglosen sechs Vorstellungen abgesetzt. Immerhin hat Brecht bei dieser Arbeit die Weigel kennengelernt. Worüber die wohl gestritten haben?

Ich habe zweimal dasselbe Stück gesehen, nur die letzten zehn Minuten unterschieden sich, zweimal hellwach geschaut, meine Augen und Ohren und mein Hirn hatten viel zu tun, das Herz schlug meist gleichmäßig.

Es beginnt ganz vorsichtig, weniger als Nachgestaltung der Inszenierung von 1922, mehr als Lauschen auf Echos, Überprüfen der alten Worte, Vergleichen der Konstellationen. Das Bühnenbild zitiert das Damalige, die Kostüme sind neutral schwarz, das Sprechen ist tastend.

Wilde Sprache, trunkene Wörter, fiese Pointen, ich verstehe, warum Brecht das Stück Komödie nannte.

Alle Konzentration ist hier auf die Familie und den in sie einbrechenden Kragler gerichtet. Was den Abend aber gerade nicht privatisiert, sondern den Riss zwischen bürgerlicher Idylle in Gefahr und dem irgendwo im Off stattfindendem Aufstand krasser zeichnet.

Wunderbare Momente. Wenn Kragler sich die schwangere Anna über die Schulter wirft und sie, zum Gesang von „Ob sie ihre Lilie noch hat“, dies in eine romantische Hebefigur verwandelt. Wenn die vom Kirschschnaps gelöste Mutter in leicht verkrampften Ausdruckstanz verfällt. Wenn neonröhrenbeladen Türme herunterschweben und die Szenerie ins Futuristische zwingen.

Wiebke Puls, die Mutter, verdient einen eigenen Beitrag. Kein Wort ohne Gedanken, der Körper ein Instrument, klug und schön, ganz im Moment und immer Herrin der Lage. Und sie ist groß, und genießt es. All the Power to her!

Mit dem Vierten Akt verändert sich der Zugriff völlig. Die Revolution ist da, auf der Bühne, aber sie findet nicht statt. Statt dessen ein Sprechgesang, die aufrührerischen Texte gesprochen wie Erinnerungen aus der Zukunft, die Szenerie erinnert an Kubricks „2001“, das chorische Sprechen schwillt an und gipfelt in einem grandiosen Popsong, U2 fordert den Weltfrieden.

Aufforderungen zum Umsturz, revolutionäre Empörung sind peinlich, ironischer Abstand muss genommen werden. Ein lautes Jein ist sicherer, als eine klare Haltung.

Anna, die ihrem Geliebten in die Schlacht gefolgt ist, unterbricht die Show und lenkt die Aufmerksamkeit auf uns, die wir dasitzen und uns als politisch denkende Menschen empfinden.

Akt Fünf, die Entscheidung - im Original von Brecht beendet Kragler seine Teilnahme an der Revolution und zieht sich mit seiner Anna ins Bett zurück. In dieser Fassung wird Anna von einem Mitglied des Chores gekillt, erweist sich aber als Mitträgerin des Happyends als untötbar und das Paar liefert uns eine höhnische Absage an jedwede politische Aktivität. „ Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass eure Idee in den Himmel kommt? Seid ihr besoffen?“

Der Variant am zweiten Abend: Kragler tötet die insistierende Liebende mit eigener Hand und entscheidet sich für den Kampf. „Glotzt nicht so romantisch“ bekommt da einen ganz neuen, harten Sinn.

Ich, pubertär-unüberlegte Stalinistin, Anarchistin im Familienkampf und heute, ja was bin ich heute, vorsichtig mit meinen Gewissheiten und atheistische Humanistin, habe keine Antwort, keine Entscheidung parat. Aber immer noch hat das Wort Revolution eine sinnliche Verlockung, wahrscheinlich nur, weil ich weiß, dass ich sie nicht mehr erleben werde. Ich bin ein Feigling. Und was sind Sie?

An beiden Abenden wurde am Ende so getan, als würde das Bühnenbild zerhackt, funktioniert nicht, finde ich, wenn ich gleichzeitig sehe, wie die fest getischlerten Teile von den Bühnenarbeitern in Sicherheit gebracht werden. Hätte ich nicht gebraucht. Es war davor schon zu Ende erzählt.

Vielleicht ist das für Manchen hier von Interesse, Striche, Szenenumstellungen, geschlechtsunabhängige Rollenbesetzungen gehen sowieso, auch früher schon.
Und dann kam eine Anfrage für eine Zweifach-Inszenierung von „Trommeln in der Nacht“, den einen Abend der originale Schluss, am anderen der genau entgegengesetzte, gebaut aus Notizen, die Brecht, unzufrieden mit der eigenen Arbeit, niedergeschrieben hatte. ich fragte mich zwar, wer wohl zweimal ins Theater ginge, nur wegen eines veränderten Endes, aber das ging mich schlussendlich nichts an.
Ein spannender Abend. Das sage ich selten. Zwei spannende Abende.
Und jetzt gehe ich ins Bett.

Montag, 17. Juni 2019

Kulturelle Aneignung - Raub oder ein Versuch der Annäherung

Eine Theaterinszenierung am Schauspiel Leipzig wird kritisiert, weil sie in Kunst geformt, und wie ich lese, sensibel und beeindruckend eine Geschichte über vietnamesische Menschen erzählt, die als "Gastarbeiter" erst in der DDR und dann als Bürger im vereinigten Deutschland lebten, aber sie tut dies ohne die aktive Teilnahme eben jener vietnamesischer Mitbürger, das heißt ohne vietnamesische Darsteller oder Dramaturgen. Die Geschichten des Stücks hatte der Autor allerdings in ausführlichen Gesprächen mit Betroffenen recherchiert. Nicht so sehr das Stück wird angegriffen, aber der Mangel an Inklusion. Der Autor hat, nebenbei, den Mühlheimer Theaterpreis für sein Werk erhalten.

Schwierig.

Cultural appropiation, verdeutscht kulturelle Aneignung, wird momentan intensiv beobachtet. Aber was ist das genau? In den meisten Fällen wird der Begriff als kulturelle Übergriffigkeit verwendet. "Dies ist unser, und ihr verhaltet euch wie Kolonialherren von einst, wie weiße Machthaber und nehmt es uns weg und verwendet es nach eurem Gutdünken." 

Schon die genaue und nichtverletzende Bezeichnung bestimmter Mitmenschen ist vermintes Gelände. Das Neger nicht geht, ist völlig klar, außer das Wort wird in einem spezifischen historischen Zusammenhang verwendet. Es gibt wunderbare Gedichte, die das Wort verwenden, ergreifende Reden, die den zum Schimpfwort verkommenen Begriff, wie einen Edelstein verwenden. 

Schwierig.

Aber PoC? Person of Colour? Das kann doch nicht unser Ernst sein. Wenn wir denn überhaupt eine Betitelung brauchen, dann doch nicht solch einen ungelenken, unschönen Anglizismus. Wir sollten nicht vergessen, dass wir subkutan, unter unserer Haut, alle gleichfarbig sind. Der Rest ist ist bunt. Andersfarbig.

Ich bin übrigens blaßrosa. Dadurch durchaus priveligiert und trotzdem noch neidisch auf kleidsamere Pigmentierungen.

Schwierig. 

Arbeitsmöglichkeiten für Spieler in Farbe, PoCs, deren Eltern, Großeltern kürzlich oder irgendwann nach der Völkerwanderung zu uns gekommen sind, haben noch immer schlechtere Chancen auf Engagements. Und wenn sie denn besetzt werden, dann idiotischerweise nicht als Ärzte, Kfz-MechanikerInnen, MinisterInnen oder Hausfrau, nicht als Hamlet oder Julia, sondern bevorzugt in sozial problembezogenen Rollen mit Rassismusbezogenheit. 
Da ist es doppelt schön, dass ein Bekannter mit schöner dunkelbrauner Haut und viel Talent gerade den Götz von Berlichingen spielt!

Schwierig. 

Appropriation (lat. appropriatio, von appropriare, „erwerben, (sich) aneignen, zu eigen machen“) bezeichnet die Aneignung sowohl von Sachen, also den Erwerb eines Eigentums, als auch die Aneignung im philosophisch-geisteswissenschaftlichen Sinne, so definiert es Wiki. 

Vermischte Beispiele: Weiße Studenten in Oxford tragen Sombreros zu einer Tequilaparty. Kinder verkleiden sich zum Fasching als Indianer, Blackface auf deutschen Bühnen, junge nichtjapanische Frauen tragen Nachahmungen traditionelle japanische Kleider, weil sie die schön finden. Kulturelle Aneignung.

Idiotische Beispiele: Marlon Brando als Japaner in "Das Kleine Teehaus" oder Gylenhal einen Perser in einem anderen schlechten Film, Chop Suey ist etwa so chinesisch wie Kartoffelsalat und Neu-Köllner Rapper sind extrem unglaubwürdig als Gangsta.
Kulturelle Aneignung.

Böse Beispiele: Blackfacing in den Minstrelshows, zynische Karikaturen fremder Kullturen. Ungleichberechtigung in jeder Hinsicht. Kultureller Machtmißbrauch.

Schwierig. 

Kulturelle Aneignung. Diebstahl oder interessierte Neugier? Mißbrauch oder Gebrauch? Wo genau liegt der Unterschied? Wo verläuft die Grenze? Was wird wem weggenommen? Wird es dadurch in den gemeinsamen Schatz der Menschheit integriert? Wird es durch die Übernahme entwertet?

Schwierig.

Was ist hart erarbeiteter Erwerb von Wissen um Fremdes, was Freude an Schönheit oder Spiel mit Exotik und was selbstsüchtige Vermarktung?  

Schwierig. 

War es oder ist es dem Menschen überhaupt möglich, ohne kulturelle Aneignung zu überleben?

Die auf Umwegen nach Europa geratene Kartoffel stammt eigentlich aus Südamerika und ist heute ein Spitzname für Deutsche. Herr Jacob Davis und Herr Levi Strauss haben 1873 das Patent auf eine Arbeitshose angemeldet, die in unterschiedlichsten Ausfertigungen heute Körper aller Nationalitäten bekleidet. Ohne afrikanische, karibische Musik, gäbe es den Blues nicht, und ohne ihn keinen Jazz, der aber auch Elemente europäischer Tradition enthält. 

Ich würze mit Harissa, Chilli und Kreuzkümmel und auch Vietnamesen essen Burger. 

Die USA ist ein Gemenge von Leuten, die sich von einander alles angeeignet haben, sich unter den Nagel gerissen haben, was ihnen bei den anderen gefiel oder nützlich erschien.

Wobei natürlich soziale und poltische Macht dabei immer eine Rolle, und oft eine räuberische spielte. 

Schwarze Jazzer waren in vielen Musikklubs nicht zugelassen, aber die weißen, schicken New Yorker wanderten nach Harlem, um dort echte Musik zu hören.

Schwierig. 

Eines der Dinge, die ich an meinem Beruf liebe, ist, dass ich mich ständig mit mir neuen, bisher fremden Themen beschäftigen darf. 
Erst bei 45 Grad Celsius und hoher Luftfeuchtigkeit irgendwo in Georgia habe ich Tennessee Williams körperlich begriffen. Ein Schauspieler aus Malawi unterernährt und fleissig und voll Erstaunens ob unseres Winters hat mich erkennen lassen, wie eurozentrisch und narzistisch meine Vorstellung von Welt ist. 
Wie könnte es anders sein? Ich bin Europäerin, deutsche Europäerin mit jüdischen Wurzeln. Manche sprechen mir mein Judentum ab, weil ich Atheistin bin, andere irritiert meine Gottlosigkeit, weil sie selbst in Religion verankert sind. Ich hänge so dazwischen, zutiefst jüdisch in kultureller Tradition und Atheist aus Überzeugung.

Spielt mich doch. Versucht mich zu verstehen, mch euch anzueignen.


https://www.deutschlandfunk.de/debatte-ueber-theaterstueck-atlas-respektloses-verhalten.691.de.html?dram%3Aarticle_id=450986&fbclid=IwAR01Qn9XoxoKaoyb-sAPz_wGPXOx1vZJkLS7GDZQLrjXWjquopI8VLeaMI4

Sonntag, 2. Juni 2019

Ötigheim - Eine andere Welt

Meine Spieler, hier bei den Volksschauspielen in Ötigheim, sind IT-Experten, Referatsleiter, Hotelfachkräfte, Köche, Krankenschwestern, Hausfrauen, Ingeneure im Kernkraftwerk, Rentner und Zollbeamte, sie arbeiten hart und kommen dann zur Probe. 
Jeder, der mitmachen will, darf das auch, so ist hier die Regel. Finde ich gut, bedeutet aber auch, dass der Chor mal aus 40 und ein anderes Mal aus 90 Sängern besteht, weil die andern keine Zeit haben, Rollenträger, so werden hier die Darsteller genannt, wegen runden Geburtstagen oder anderweitigen Verpflichtungen mal nicht anwesend sind und die Pferde samt Reitern in manchen Proben nur imaginiert vorbeireiten, weil ihre realen Vertreter an einem Springreitturnier teilnehmen. Andererseits habe ich fast immer zwischen fünf und fünfzehn superlustige Kinder zur spielerischen Verfügung.
Auch ist das tägliche Leben hier, in diesem Dorf in Baden-Württemberg ganz anders organisiert, als ich es kenne. Man ist Mitglied im Fussballverein, dem ÖFC, der gerade vier Tage lang sein 100-jähriges Bestehen feiert oder in einer der örtlichen Tanzgruppen, man mischt mit im Karnevalsverein, oder in einer der Chorgruppe, manche sind sogar Mitglied in mehreren dieser Vereine. Sie sprechen den Etjer Dialekt, nahezu unverständlich für eine Person aus Berlin, Zugereiste, solche aus Dörfern der näheren Umgebung sprechen anders und es braucht Zeit, bis sie sich als dazugehörig empfinden können. Man kennt sich, man ist sich freundschaftlich verbundenen in kleineren Gruppen, man ist fest verankert, aufgehoben, im Guten wie im Schlechten.
Heute Nacht auf dem Dorffest um 2 Uhr, nach der Beleuchtungsprobe, unter schwer ertragbarer Beschallung mit Mallorca-Pop, war klar, wer nach Hause gebracht werden mußte und wer es allein schaffen würde. 
Ich lerne zauberhafte Menschen kennen. Freundlich, lustig und sozial. Sie leben anders als ich. Ich bin Großstädter, für mich ist das hier Exotik, aber wer bin ich, über irgendetwas zu urteilen?
Ich habe mich trotz grauenhafter Musik sehr gut amüsiert, habe gelacht, getanzt und Blutwurz getrunken.

Die Pflanzenart Blutwurz (Potentilla erecta), auch Dilledapp, Durmentill, Natter(n)wurz, Rotwurz, Ruhrwurz, Siebenfinger oder Tormentill genannt, gehört zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae) ... im Bayerischen Wald, wird aus Blutwurz ein Likör oder Schnaps hergestellt, der als Digestif gereicht wird, schreibt Wiki

Der FV Ötigheim
Heute Abend gehen wir wieder in die Disco
Wochenende voll normal
Wenn keine Kohle ab ins Dispo
Doch das ist uns scheissegal
Denn wenn der DJ wieder gar nicht geht
Ohoheyo
Und wieder mal die Mukke leise dreht
Ohoheyo
Dann hab ich für ihn eine Frage parat
Ohoheyo
Und hoff das er sie auch beantworten mag
Wie heißt die Mutter von Niki Lauda?
Mama Laudaaa, Mama Laudaaa
Wie heißt die Mutter von Niki Lauda?
Mama Laudaaa, Mama Laudaaa


Mach mal lauter!

Freitag, 10. Mai 2019

Freilichttheater - ein Riesenpuzzle

Etwa 40 Rollenträger, 90 Statisten, hier Volk genannt, ein Chor mit 120 Sängern, ein Jugendchor mit fast 40, zwei Tanzgruppen, eine Gauklertruppe, ein Zupforchester, ein Stuntpferd, 14 Reit- und Kutschpferde, ein Esel, drei Ziegen, ein Hund, zwei Kutschen, ein Schlitten, ein Streitwagen, Pyrotechnik, Wind- und Schneemaschinen, ein luftbetriebenes Seeungeheuer, elf Bilderrahmen, eine halbe Erde plus 500 Kostüme, inclusive Perücken und falschen Bärten
- das alles sind Teile des Puzzles, das zusammengesetzt werden will, damit Ende Juni viele Tausende Menschen, die Abenteuer des Barons Münchhausen auf der Bühne der Volksschauspiele in Ötigheim erleben können. Es wird acht Vorstellungen bei hellem Tageslicht und vier in abendlich-beleuchteter Atmosphäre geben.

Abendproben sind unter der Woche, meist die einzig möglichen, weil außer dem Darsteller des Münchhausen, alle Mitwirkenden Amateure sind und also tagsüber arbeiten. Arbeiten in unterschiedlichsten Bereichen, als Zollbeamte, Krankenschwestern, Hoteliers, Steuerberater, Kernkraftwerker, IT-Spezialisten, Bankangestellte, Lehrer usw. und dann kommen sie vom Dienst und proben. Haushalt, Familie und all das läuft auch noch nebenbei.

Manche, die meisten, sind wach und spiellustig und energiegeladen, andere beflissen, einige müde, wenige faul. Viele Mitspieler haben vor 40, 50 Jahren begonnen an den Aufführungen teilzunehmen, andere sind nahezu jungfräulich. Alt, jung, extrovertiert und schüchtern, mit schneller Auffassungsgabe und gutem Gedächtnis und langsam und vergesslich, alle Varianten gibt es.

An einem regnerischen Abend stehen sieben Rollenträger aka Darsteller auf der gigantischen Bühne, 150 Meter breit und mit Schloß, See, Gebirge, Haus und Rasen bestückt und werfen sich Sätze zu, die Erich Kästner 1942 geschrieben hat. Er hatte seit 1933, als auch seine Bücher verbrannt worden waren, Schreib- und Publikationsverbot und durft nun mit einer Sondererlaubnis von Goebbels das Drehbuch für einen Aufmunterungsfilm der UFA mit Hans Albers in der Hauptrolle schreiben. Was für ein hartes Dilemma! Und er mußte unter einem Pseudonym schreiben: Bertolt Bürger. Irrsinn. Die Belagerung Stalingrads durch die deutsche Armee stand kurz vor der Niederlage und Kästner muß ein heiteres Drehbuch verfassen. Die Schizophrenie der Situation macht den Text besonders.

Meist fehlen zwei oder drei Spieler aus dienstlichen oder persönlichen Gründen, das Volk kommt hin- und wieder, die Pferde etc. auch. Die technischen Gewerke sind Zauberer der besten Art, kommen aber erst gegen Ende zum Einsatz.

Also muß man sich Vieles vorstellen, die Effekte, die vollständige Besetzung, die Tierdarsteller, mal wird es kunstvoll beleuchtet sein, mal einfach sommerlich hell, mal regnerisch, mal sonnendurchflutet. Mein Kopf raucht, aber auf gute Art.

Wie erschafft man Winter in gleißendem Sonnenlicht? Wie wird es stockdunkel um 3 Uhr nachmittag?

Ich liebe es. Das ist Theater pur. Im Globe muß es ähnlich gelaufen sein, ohne Lichteffekte, aber mit Imagination.

Noch sechs Wochen. Ich bin so gespannt.


Sonntag, 24. März 2019

Ein guter Tag

Mein Sonntag. 
Viel zu früh aufgewacht, am Computer Patience gespielt und im Fernseher Law & Order geguckt, dann Eier mit Speck gegessen und erstmal weitergeschlafen. Später auf dem Weg zu einer Verabredung schenkt mir eine Fremde auf meine Bitte um Feuer ihr Feuerzeug. Im Cafe mit einer Freundin ein schweres Thema besprochen und keine Lösung gefunden. In der Nationalgalerie Bilder von Caspar David Friedrich angeguckt, wunderschön der Mönch am Meer, befreit vom Schutzschmutz aus 150 Jahren. Zitat der Saalaufsicht: "Die Restauratorin hat acht Schichten mit einem Wattetupfer entfernt, die vier Jahre waren nicht vergeudet." In einem kleinen Restaurant lese ich mich in einem ebenfalls kleinen Buch fest, will es dem Wirt abkaufen und bekomme es ebenfalls geschenkt, Antoine de Saint-Exupérys Beschreibung seiner Reise nach den USA im Kriegsjahr 1940, eine notwendige Atempause zwischen seinen Einsätzen als Pilot der französischen Luftwaffe. 
Abends in den völlig ausverkauften Kammerspielen "Black Maria" von René Pollesch. Ohne je gekokst zu haben, stelle ich mir vor, dass das sich ähnlich anfühlen könnte, nur das man sich hier Worte einhilft, statt weißem Puder. Viele Themen, viele Behauptungen, die immer wieder in Frage gestellt und dann wiederholt werden. Widersprüche, Heftigkeiten, Verwirrungen. Selten Bon Mots, wenig Ironie, Gott sei Dank, Nachdenken, Gedanken werden gedacht und verworfen oder aus gänzlich anderer Position verteidigt.
Die Unsichtbarkeit des weißen heterosexuellen Mannes ist ein verstörendes Bild, er ist so sehr allgegenwärtig, das man seine ständige Anwesenheit als Hauptakteur nicht befragt, er wird nicht mehr als das gesehen, was er ist, eine von vielen Möglichkeiten. Repräsentation: Vertretung einer Gesamtheit von Personen durch eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen, nennt das Wiki.

Der Anteil von Frauen und Männern an der Weltbevölkerung ist ungefähr gleich. Derzeit leben etwa 3,82 Milliarden Frauen und 3,89 Milliarden Männer auf der Erde. 
(Fünf Fragen - fünf Antworten)

Black Maria. So nannte man das 1893 gebaute erste Filmstudio der Welt. Das Schwarz der Dachpappe, aus der es gebaut war, und seine Enge erinnerte an die schwarz lackierten Gefangenentransporter, lahme Pferdekutschen, die man "Black Maria" nannte nach dem damals berühmtesten Rennpferd. Das Haus stand auf Rollen, denn sein Dach, das man öffnen und schließen konnte, folgte der Sonne.

Ein freudiger, rasend schneller und verspielter Theater-Diskurs. Es sprechen: ein Goldgräber in Alaska, der amerikanische Träumer, Filmemacher, Abbilder und Abgebildete, die, die man sieht und die, die im Dunklen bleiben, sie reden frenetisch über Vergessen und Erinnern, auch sich an den Text erinnern, Über Anschussfehler und den KNACKS. Der Knacks, die Verletzung, die verändert, aber kein Drama erzeugt, nur alles verändert, ohne dramentauglich zu sein. Sie reden über eigentlich Alles. Mein Kopf raucht. 
Eine hochkonzentrierte Souffleuse begleitet schützend den prall sprachgefüllten Abend. Wie lernt man solchen Text?
Astrid Meyerfeldt, die ich eigentlich nicht mag, war großartig. Die anderen in unterschiedlicher Weise auch. Franz Beil ist meine Neuentdeckung.
Zweimal hinreißende Bilder, das Bühnenbildhaus aus Teerpappe mit Lämpchen als Bolzen dreht sich zur Sonne hin, die Sonne ist ein Scheinwerfer. Später, in einer runden Trommel mit Sehschlitzen sieht man die Phasen der Bewegung eines gallopierenden Pferdes, Es sieht aus wie Film, ist aber noch Photographie, diese Bilder werden dann auf das sich drehende Bühnenhaus projeziert, fliegende Pferde!
War das ein guter Abend? Für mich war es so. Aber viele Kritiken beschreiben Ermüdung durch Wiederholung. Vielleicht ist es gut, wenn man nicht zu oft ins Theater geht?

Josef Maria Eder, Professor an der Technischen Hochschule in Wien, schreibt 1884:“Die Muybridge’schen Aufnahmen der Pferde werfen alle bisherigen Theorien über den Kopf. So erhebt sich beispielsweise ein galoppierendes Pferd nicht zuerst mit den Vorder−, sondern mit den Hinterbeinen vom Erdboden. Ebenso sind in einem Moment seine Beine alle nach allen Richtungen gegen den Erdboden gestemmt, wie wenn es störrig wäre, und gleich darauf schwebt es in der Luft und hat alle Beine unter den Bauch gezogen. Mit einem Worte, alle unsere Vorstellungen und Darstellungen von der Bewegung des Pferdes waren von Anfang bis zu Ende falsch.”



Bildfolge eines galoppierenden Rennpferds. Serienfotografie von Eadweard Muybridge, erstmals veröffentlicht 1887 in Philadelphia.

Wiki:
Die Black Maria (englisch für Schwarze Maria) war das erste kommerzielle Filmstudio der Welt. Es wurde im Jahr 1892 von dem Filmpionier William K. L. Dickson auf dem Gelände von Thomas Alva Edisons Laboratorien in West Orange, New Jersey, erbaut und diente von 1893 bis 1901 als Produktionsstätte für die Filme der Edison Manufacturing Company.