Multimorbidität des alten Menschen
oder genauer meine persönliche Morbidität
Unter Multimorbidität oder Polymorbidität (lat. für Mehrfacherkrankung) versteht man das gleichzeitige Bestehen mehrerer Krankheiten bei einer einzelnen Person, sagt Wiki.
Wann bin ich alt?
Wenn ich denkfaulen Vorurteilen Raum lasse. "Früher war alles besser", um Gottes Willen, was für ein ein Quatsch. Früher war es genauso, nur wußte ich nichts davon oder habe es ignoriert.
Wann bin ich alt?
Immer gerade jetzt noch nicht. Aber bald. Solange es noch Ältere gibt, habe ich noch Zeit. In jungen Jahren schien mir SECHZIG ein trauriges Enddatum zu sein. Mit SECHZIG gab es die schmale Rente, die Kleidung war urplötzlich altersbeige, die Schuhe hässlich und bequem, die Haare normiert bläulich dauergewellt. Erotik Null. Sex nicht einmal mehr erinnert. Was war ich für ein ignorantes junges Arschloch.
Wann bin ich alt?
Für andere? Für Jüngere. Im eigenen Kopf? Im eigenen Körper?
Beim Familienfest teilt eine wunderschöne Siebenjährige großzügig ihr geschenktes Brausepulver mit mir. Es pritzelt so. Mitten in meine Blechtrommelerinnerung sagt sie staunend: "Das eine so alte Frau sowas noch macht!"
Wann bin ich alt?
Ein dummer Student entschuldigt sein schlechtes Benehmen mit "Aber ich habe Dir doch geholfen, Dich jung zu fühlen." Brauchte ich seine Hilfe? Oder er eher meine?
Mein liebster Horst, den der Krebs rücksichtslos weggerafft hat, war jung, weil er immer Neues lernen wollte. Sicher mit mehr Zeitdruck als in jüngeren Jahren, aber mit sichtlich großem Vergnügen.
Ein anderer Freund, der nun seit mehr als einem Jahr im Krankenhaus liegt, will dringend die "Welt am Sonntag" lesen, um politische Vorgänge genauer zu recherschieren.
Meine "ältere" Freundin läuft durch den Brandenburger Wald mit den staunenden Augen einer Abenteurerin. Die Lunge piept, das Gehirn jubelt.
Wann bin ich alt?
Ich bin heute gutmütiger, großzügiger, als ich es früher war. Gelassener. Cooler.
Ich weiß mehr, weil ich mehr gelebt habe. Keine persönliche Leistung, einfach Ansammlung von Zeit. Ich vergesse auch leichter. Noch keine Demenz, nur weniger Verkrampftheit.
Wann bin ich alt?
Wikidefiniert es kühl: Unter dem Alter versteht man den Lebensabschnitt rund um die mittlere Lebenserwartung des Menschen, das Lebensalter zwischen dem mittleren Erwachsenenalter und dem Tod. Das Altern in diesem Lebensabschnitt ist meist mit einem Nachlassen der Aktivität und einem allgemeinen körperlichen Niedergang (Seneszenz) verbunden.
Und eine andere Website definiert dann Seneszenz so: Seneszenz w (von latein. senescere = altern), Pflanzen, Pilzen, Tieren und Mensch gemeinsamer Alterungsprozeß, der im allgemeinen mit der Akkumulierung schädlicher Substanzen, Gewebsveränderungen sowie dem schrittweisen Verlust zahlreicher physiologischer Funktionen einhergeht. Insgesamt manifestieren sich diese Prozesse in einer verminderten Anpassungsfähigkeit gegenüber Umwelteinflüssen, was zu diversen Alterungskrankheiten („Multimorbidität des alten Menschen“) und schließlich zum Tod des Individuums führt.
Wann bin ich alt?
Bald.
WENN EENA DOT IS
Für Paul Graetz
Wenn eena dot is, kriste 'n Schreck.
Denn denkste: Ick bin da, un der is weg.
Un hastn jern jehabt, dein Freund, den Schmidt,
denn stirbste 'n kleenet Sticksken mit.
Der Rest is Quatsch.
Der Pfaffe, schwarz wien Rabe,
un det Jemache an den offnen Jrabe ...
Die Kränze ... ! Schade um det Jeld.
Und denn die Reden – hach du liebe Welt –!
Da helfen keine hümmlische Jewalten:
die Rede muß der Dümmste halten.
Un der bepredicht sich die schwarze Weste
un hält sich an Zylinder feste.
Wat macht der kleene Mann, wenn eena sanft vablich?
Er is nich hülflos – er ist feialich.
Leer is de Wohnung. Trauer, die macht dumm.
Denn kram se so in seine Sachen rum.
Der Tod bestärkt die edelsten Jefühle,
un denn jibs Krach, von wejn die Lederstühle.
Der Zeitvesuv speit seine Lava.
Denn sacht mal eena: »Ja, wie der noch da wah –!«
Denn ween se noch 'n bisken hinterher,
und denn, denn wissen se jahnischt mehr.
Wenn eena dot is, brummts in dir:
Nu is a wech. Wat soll ickn denn noch hier?
Man keene Bange,
det denkste nämlich jahnich lange;
ne kleine Sseit,
denn is soweit:
Denn lebst du wieda wie nach Noten!
Keener wandert schneller wie die Toten.
Theobald Tiger
Die Weltbühne, 24.05.1932, Nr. 21, S. 792.